Schreibwettbewerb "Erzähl mir was"

"MM"-Schreibwettbewerb "Erzähl mir was": "Die letzte Heckenrose" von Regina Rothengast

Ein Kind bekommt von den Eltern eine Heckenrose geschenkt und hegt und pflegt sie über Jahre. Sie wird zum Symbol für eine unbeschwerte Kindheit - und deren Verlust

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Regina Rothengast
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Bild: istock © Getty Images

Röschen, komm bitte in zehn Minuten rein. Wir wollen essen!“ Die Stimme der Mutter klingt durch den Garten. Entrüstet schaut das Kind in Richtung Haus. „Mama! Du sollst mich nicht Röschen nennen. Ich heiße Rosemarie.“ Dann senkt es wieder den Kopf und widmet sich dem Kranz aus Gänseblümchen in seinem Schoß. Ein Schmetterling fliegt an Rosemarie vorbei. Schnell springt sie auf und läuft vor Freude laut jauchzend dem farbenfrohen Insekt hinterher.

Es ist Juni, im Garten hinter dem Haus ist es mit 25 Grad angenehm frühsommerlich warm. Die große Blumenwiese mit ihrer reichen Artenvielfalt lockt eine Vielzahl an Bienen, Schwebfliegen, Faltern und Käfern an. Es ist eine faszinierende Welt im Kleinen, ein ökologisches System, das seinen eigenen, gut funktionierenden Regeln unterliegt. Mit flinken Händen pflückt das zehnjährige Mädchen einen Wiesenblumenstrauß für die Mutter.

Dann nimmt Rosemarie ihre kleine Gießkanne und wässert die Heckenrose, die in voller rosafarbener Blütenpracht steht. Die Rose ist ihr ganzer Stolz. „Ein Röschen für unser Röschen“, haben die Eltern verkündet, als sie ihr das Gewächs zum Geburtstag überreichten. „Pass gut darauf auf. Du alleine bist für die Pflege verantwortlich.“ Das hat sich das kleine Mädchen sehr zu Herzen genommen. Mit wachsender Begeisterung versorgt es die Pflanze und erfreut sich täglich an der Wildrose.

Nach dem Essen genießt die kleine Familie den lichthellen Sommertag in der herrlichen, idyllischen Natur, ein immerwährender Quell der Freude und Erholung.

„Oma Röschen, komm bitte rein. Wir müssen bald los!“ Die Stimme ihrer Enkelin ist schrill und angstvoll. Rosemarie hat sich mit ihrem Kosenamen abgefunden. Im Gegenteil, sie lächelt nun, wenn sie ihn hört. Das erinnert sie an die Mutter, die sie zuerst so nannte. Die alte Dame kann den Blick nicht von ihrer Heckenrose wenden. Die zarten Blüten verströmen einen intensiven Duft und die unversehrte Rose lässt den desolaten Zustand der Natur ringsum vergessen. Rosemarie lächelt schelmisch. Trotz der seit langem herrschenden Wasserrationierung ist es ihr gelungen, ihre geliebte Heckenrose am Leben zu erhalten, indem sie immer heimlich etwas von der ihnen zugeteilten Wassermenge auf die Seite getan hat. Zierpflanzen zu gießen ist seit Jahren strengstens verboten. Freilich ist es nicht mehr diese erste Pflanze, das Geschenk der Eltern. Aber sie war immer darauf bedacht, eine Wildrose in einem Blumenkübel zu haben. Die Rose ist für sie die letzte Verbindung zur Vergangenheit, zu einer Sorglosigkeit, wie es sie nie mehr geben wird. Wenn die Rose stirbt, würde auch sie sterben. Das zarte Pflänzchen Lebensfreude hingegen ist schon lange tot.

Obwohl es erst kurz nach zehn Uhr ist, zeigt das Thermometer bereits 36 Grad. Und es ist erst Juni. Bereits in den Vorjahren war es im Juli und August nicht möglich gewesen, im Hochsommer tagsüber das klimatisierte Haus zu verlassen. Schutz vor der glühenden Hitze ist zum Überleben oberstes Gebot.

Regina Rothengast



  • Mein Name ist Regina Rothengast. Ich bin 66 Jahre alt, verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Kindern und Großmutter von zwei Enkeltöchtern. Meine Heimat, der ich immer treu geblieben bin, ist der Main-Tauber-Kreis. Ich lebe seit über 40 Jahren in dem kleinen Dorf Kützbrunn.
  • Seit zwei Jahren bin ich im Ruhestand und habe nun endlich Zeit, mich vermehrt meinen Hobbys zu widmen. Meine große Leidenschaft ist das Schreiben. Nach zwei Kurzgeschichtensammlungen, einer humoristischen und einer weihnachtlichen, bin ich sehr stolz auf meinen Debütroman, der seit drei Monaten erhältlich ist.

 

Rosemarie wird es schwindelig. Nicht nur die erbarmungslosen Temperaturen machen ihr zu schaffen. Seit kurzer Zeit macht sich ihr Herz mehr und mehr bemerkbar. Sie spürt nun mit 85 Jahren, wie ihre Kräfte schwinden. Schnell setzt sie sich auf die Bank und schließt die Augen. In Sekundenschnelle blitzen Bilder in ihrem Kopf auf. Sie sieht sich in den 1980er Jahren als Zehnjährige mit den Eltern genau an derselben Stelle im heimischen Garten im Süden Deutschlands. Ein warmes Gefühl der Geborgenheit überkommt sie. Ihre Sehnsucht nach der Unbeschwertheit ihrer Kindheit ist so groß, dass es ihr fast körperliche Schmerzen bereitet. Nicht minder groß ist Rosemaries Hoffnungslosigkeit. Die Angst vor der Zukunft hält sie mit eiserner Faust umklammert.

Gleich würde man sie abholen. Sie, ihren Sohn Leon, seine Frau Thea und die Enkelin Mia. Nordwärts soll es gehen, ihre einzige Chance zum Überleben. Sie würden in das gelobte Nordterritorium umsiedeln, nach Skandinavien. Längst kann man in weiter südlicheren Gefilden überhaupt nicht mehr leben. Mit ihrer Flucht in kältere Gebiete oder dem Rückzug in klimatisierte Riesenbunker versuchen die Menschen seit vielen Jahren, den lebensfeindlichen Bedingungen zu entkommen.

Rosemaries Wut hat sich mittlerweile in Bitterkeit verwandelt. Sie ist keine Wissenschaftlerin, aber ihr gesunder Menschenverstand sagt ihr, dass spätestens in den 2020er Jahren ein Aufwachen und Handeln hätte stattfinden müssen. Die Unfähigkeit der Politik hat zu der trostlosen Situation beigetragen. Wie ein Krebsgeschwür fraß sich eine gefährliche politische Ideologie durch alle Länder. Ignoranz und Verantwortungslosigkeit haben dazu geführt, dass die Menschheit schon jetzt ihren letzten verzweifelten Kampf führt. Wer hätte gedacht, dass der Klimawandel dermaßen rasant fortschreiten würde? Warnungen wurden jahrelang in den Wind geschlagen. Zu spät! Der Ritt in den Abgrund ist gestartet.

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Rosemarie hört das geschäftige Treiben ihrer Familie im Haus. Sie selbst ist ganz ruhig. In den schlaflosen Nächten der letzten Wochen, in denen die Angst vor der Zukunft sie in ihren Klauen gehalten hatte, fasste sie einen Entschluss. Seit die alte Dame weiß, dass sie und ihre Lieben vier der begehrten Karten ins Nordterritorium erhalten haben, ist ihr Gedankenkarussell nicht mehr stillgestanden. Die Verteilung der Tickets zur Fahrt in die kühlere Region ist nur unter einem Gesichtspunkt geregelt: Wer zahlt, darf reisen. Kein anderes Argument zählt, kein Alter, kein Beruf, keine Gebrechlichkeit, kein Gesundheitszustand. Es ist ein mitleidloses und verachtenswertes Auswahlverfahren.

„Mutter! Was machst du denn immer noch da draußen? Komm endlich rein. Wir werden gleich abgeholt.“ Die resolute Stimme ihres Sohnes reißt sie aus ihren Gedanken. Sie strafft ihre Schultern. Es gibt kein Zurück. Rosemarie fühlt sich bereit für ihren letzten Kampf und der wird nicht einfach werden. Schnell schaut sie zum Nachbarhaus. Eric steht am Fenster und blickt gebannt zu ihr herüber. Sie nickt mit dem Kopf und winkt ihm zu. Er tut es ihr erleichtert gleich. Ihre Abmachung steht. Rosemarie denkt an Clara und das Baby. Ja, sie tut das Richtige. Die letzten Zweifel sind verflogen.

„Mutter!“ „Oma!“ Die Rufe aus dem Haus werden zunehmend forscher. Rosemarie betritt ihr Heim, das ihr 85 Jahre lang Geborgenheit gegeben hat. Leon, Thea und Mia stehen im Flur, neben sich die gepackten Koffer. Auch ihrer. Aber den würde sie nicht brauchen. Jetzt muss sie die Bombe platzen lassen.

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„Ich komme nicht mit!“ Drei Augenpaare ruhen in vollkommener Ungläubigkeit auf ihr. Ihr Sohn findet als erster die Sprache wieder: „Was soll das? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Wir haben keine Zeit für deine Spinnereien. Gleich kommt der Bus.“

„Ich habe mein Ticket Eric gegeben. Er wird an meiner Stelle mit euch fahren.“

Mia fängt an zu weinen und nimmt ihre Oma in den Arm. Thea steht stumm daneben.

„Warum?“, schreit Leon, zusehends panisch. „Was haben wir alles auf uns genommen, um diese verfluchten Tickets zu erhalten! Vom Mund haben wir sie uns abgespart. Es ist ein Neuanfang. Unsere einzige Chance. Wir werden hier verrecken. Wer weiß, wie heiß es noch werden wird? Es sind fast 40 Grad da draußen. Die rechnen damit, dass es in diesem Jahr an die 50 Grad geben wird im Hochsommer. 50 Grad! Zudem ist das Wasser knapp wie nie zuvor.“

Er packt seine Mutter grob am Arm und zwingt sie, ihm in die Augen zu schauen. Rosemarie hält trotzig seinem Blick stand. „Mein Herz ist zu schwach für die anstrengende Reise. Gott schütze euch“, flüstert sie.

Motorengeräusche! Der Militärbus naht, um die menschliche Fracht zum Transport aufzunehmen. Rosemarie sieht Eric aus dem Haus kommen und lächelt erleichtert. Bald würde er bei Clara und seinem neugeborenen Sohn sein. Seine hochschwangere Frau konnte vor einem halben Jahr die Reise in den Norden antreten. Für den jungen Vater hatte das Geld nicht gereicht. In Rosemarie macht sich ein warmes Gefühl breit, wenn sie an die junge Familie denkt, der sie zu dem Glück des Zusammenseins verhelfen kann, auch wenn die Zukunft mehr als ungewiss ist.

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Für sie und ihre Familie bleiben nur noch wenige Minuten zum Abschiednehmen, dem Abschied für immer.

„Wir telefonieren jeden Tag!“, ruft Mia. Ihr weinendes Gesicht hinter den Scheiben wird immer kleiner, bis der Bus ganz verschwindet.

Rosemarie weiß, dass es ihr nur durch diese Überrumpelung möglich war, ihren Plan in die Tat umzusetzen, so schwer die Situation nun auch für alle zu ertragen ist. Nie und nimmer hätte ihre Familie sie bewusst zurückgelassen.

Niemand ruft nach Rosemarie oder Röschen. Es ist totenstill, als die alte Dame später im Garten sitzt. Kein Summen, kein Brummen und kein Gezwitscher in der Luft. Die Erde ist trocken und rissig, die Sträucher und Bäume kahl und vertrocknet. Als Rosemarie zu ihrer Rose schaut, bemerkt sie, dass die Blüten, die sich vor kurzem im Frühsommer erst gebildet haben, anfangen zu welken. Das letzte Heckenröschen stirbt.

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