„Gewaltsame Vernichtung von Kapital nicht durch ihm äußere Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung ist die schlagendste Form, worin ihm der Rat gegeben wird, abzutreten und einem höheren Stadium der gesellschaftlichen Produktion Raum zu geben.“ Pierre kratzte sich am Kopf, schlug das Buch zu und legte es beiseite. Es war recht mitgenommen, aber der Titel „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ war noch gut zu erkennen. Er lachte in sich hinein. „Hättste das gewusst, oller Marx!“ Man musste keinen Krieg mehr führen, um Kapital zu vernichten und dadurch die Produktion anzukurbeln, denn das meiste war durch Hitze und Unwetter vernichtet. Es gab auch kein höheres Stadium der gesellschaftlichen Produktion mehr, es gab nur noch Überleben, irgendwie.
Draußen herrschte Dürre.
Nach dem 3. Weltkrieg - er war beinahe glimpflich, aber ohne Sieger ausgegangen - waren etliche Landstriche radioaktiv verseucht, auch Überreste anderer Kampfmittel machten den Überlebenden das Überleben schwer. Der Krieg hatte aufgrund von Material- und Personalmangel ein Ende gefunden, und die Völker waren so sehr mit Überleben beschäftigt, dass es kaum mehr funktionierende Regierungen gab, nur failed states. Hauptursache war die schlechte Lebensmittelversorgung als Folge des Krieges, vor allem aber auch der Dürren, die sich im Herbst und Frühjahr mit Überflutungen abwechselten. Dieser Umstand hatte eine Folge, mit der nicht zu rechnen gewesen war: Die UN, vor dem Krieg ein zerstrittener Haufen egoistischer Staaten, erhielten aus der Not heraus einen Machtzuwachs, der sie wieder halbwegs handlungsfähig machte. Um in den Genuss der spärlichen Lebensmittelhilfen zu gelangen, gaben viele Staaten ihre Souveränität auf, teilweise auch aus der Einsicht, dass die bestehenden Probleme für Nationalstaaten nicht mehr lösbar waren. Gewählt worden war hierbei niemand, die länderübergreifende Einsicht in die Notwendigkeit einer beinahe weltweiten Führung fegte die letzten erbärmlichen demokratischen Einwände hinweg. Ziemlich schnell entwickelten sich die UN zu einer Art mehr oder weniger guten Diktatur. Alles, was sie beschlossen, war alternativlos, und so fielen ihr nach und nach zahlreiche zivilisatorische Errungenschaften zum Opfer: Motorisierter Verkehr. Feuer. Verzehr von Fleisch. Private Wasserleitungen. Schwimmbäder.
Martin Köhler
Als „Schreiben gegen den Klimawandel“ getitelt wurde, war ich mir zwar nicht sicher (und bin es nach wie vor nicht), ob der Klimawandel die Wettbewerbsbeiträge liest, aber ich dachte mir, dass ich zur Sicherheit mal was beisteuere. Ich bin Jahrgang 1977, wohne und arbeite als Übersetzer in Reicholzheim an der Tauber und schreibe überwiegend Kurzgeschichten, oft mit schwarzem Humor, und (Kurz-)Theaterstücke aus dem Bereich absurdes Theater zu philosophischen und gesellschaftskritischen Themen.
Die Liste wurde im Laufe der Jahre sehr lang, aber man war zu erschöpft, zu sehr mit Überleben beschäftigt, als dass man noch Kraft gehabt hätte, sich zu wehren. Bei all diesen Verboten kam freilich der natürlichen Auslese wieder ihr früherer Rang zu.
Und natürlich waren all diese Dinge nicht vollständig verschwunden. Wie in jeder Gesellschaft gab es Menschen, die über Beziehungen oder gewisse Vorrechte dazu kamen, sie doch noch nutzen zu können, zumindest hin und wieder und heimlich. In dem Landstrich, in dem Pierre hauste, - in einer Art Höhlendorf zum Schutz vor der Hitze,- war es so, dass sich eine Art Oberschicht gebildet hatte, die sich mithilfe von gut bewaffneten Milizen vom Rest abschottete. Pierre erledigte Taglöhnerarbeiten für sie, meist Arbeit in den beschatteten Plantagen, oberirdisch. Das ging natürlich nur nachts, da war es mit Temperaturen, um die 35 Grad halbwegs auszuhalten. Mitnehmen konnte er von dort aber nichts, die Arbeiter wurden scharf bewacht, und wer einmal erlebt hatte, wie ein Dieb hingerichtet wurde, kam selbst nicht mehr auf diese Idee.
Einmal wieder ein Schnitzel essen. Der Gedanke ging ihm schon wochenlang im Kopf herum, und er war absurd, aber so ein saftiges Schnitzel kann im Geist ungeahnten Raum einnehmen, wenn man das Letzte vor 15 Jahren gegessen hat. Es war absurd, denn Fleisch war verboten (aus Mangel an Grünflächen), Feuer war verboten (wegen der Hitze, der Brandgefahr und des CO2), und seit einem Monat waren nun auch Backöfen verboten. Zu viel Hitze, zu hoher Stromverbrauch war mitgeteilt worden. Man tat auch gut daran, sich an die Verbote zu halten, zwar waren Kontrollen selten, aber die Strafe immer dieselbe: Sofortige Exekution.
Aber er hatte die Möglichkeit dazu. Hugo, ein entfernter Bekannter von ihm, hatte sich in den Umbruchzeiten als Selbstversorger in einen großen Wald zurückgezogen, wo er hauste. Nur wenige wussten von ihm, und das verschaffte Hugo wiederum einige Freiheiten, unter anderem jene, dass er sich unbemerkt ein paar Schweine halten konnte, von denen er hin und wieder eines schlachtete und über einen Mittelsmann an die Oberschicht verkaufte. Das war natürlich lebensgefährlich, aber andererseits hatte er sich so mit der Zeit ein kleines, beinahe luxuriöses Domizil im kühlen Waldboden schaffen können, das seinesgleichen suchte.
Pierre hatte bei ihm noch etwas gut, denn vor zwei Monaten wäre ein Fleischtransport beinahe aufgeflogen, aber Pierre konnte den Jeep mit dem bewaffneten Suchtrupp lange genug aufhalten, bis der Kurier in Sicherheit war. Die Sache mit dem Schnitzel war jedenfalls extrem riskant. Pierre würde aufpassen müssen. Jeder hier würde ihn sofort verpfeifen in der Hoffnung, einmal wieder eine Flasche frischen Wassers zu erhalten statt der gechlorten Brühe. Dementsprechend musste er tagsüber gehen, bei Temperaturen um die 50 Grad. Und er hatte von seiner Wochenration nur wenig Wasser übrig, sie war knapp bemessen.
Aber sollte er weiter dahinvegetieren in dieser Existenz, ohne Hoffnung auf irgendeine Besserung? Dass die Temperaturen wieder erträglicher würden, so wie er es gehört hatte, wenn die wenigen Alten von früher erzählten, das würde er mit Sicherheit nicht mehr erleben. An einen Aufstand war nicht zu denken, wogegen auch? Gegen die Dürre? Aber eine kleine Flucht aus diesem tristen Alltag schien ihm zunehmend das Risiko wert zu sein, gefasst und erschossen zu werden. Pierre legte sich auf die Matratze. Kurz vor Mittag würde er zu Hugo wandern und sich ein Schnitzel holen. Im Geist ging er verschiedene Paniermöglichkeiten durch, bis er einschlief.
Um 11 Uhr klingelte sein Wecker. Pierre stand auf, nahm seinen gepackten Rucksack und stieg hoch in die brüllende Hitze. Kein Mensch, überhaupt kein Lebewesen war zu sehen. Pierre musste die fünf Kilometer bis zum Wald zügig gehen, um nicht zu einem der vielen Hitzeopfer zu werden, die so zahlreich waren, dass man aufgehört hatte, sie zu erfassen. Rechts und links des Weges waren Staub und Ödland lediglich einmal von den Häusern eines verlassenen Gehöfts unterbrochen. Als er den Wald erreichte, atmete er durch. Hier hatte es beinahe angenehme 35-40 Grad, und es war schattig. Pierre ging nicht den Hauptweg entlang, das war ihm zu riskant, lieber nutzte er Pfade, die nur er kannte. Sie führten ihn bis zu Hugos Waldpalast, wie er ihn nannte, der von außen aber gar nicht als solcher zu erkennen war. Eine alte, halb zerfallene Kapelle diente als Tarnung und als Einstieg in Hugos Reich. Pierre schaute sich um, dass ihm niemand gefolgt war, klopfte dreimal mit dem Fuß, öffnete dann eine verborgene Luke unter dem losen, morschen Bretterboden und stieg hinab. Hugo nickte ihm zu, die beiden Männer mussten kaum Worte wechseln. Pierre erhielt das Schnitzel in einer alten Kunststoffschüssel, prüfte es kurz mit einem Druck des Daumens und schloss die Schüssel mit einem leichten Kopfnicken. Hugo bedeutete ihm mit einem Wink zu gehen und Pierre drückte sich widerwillig erneut in die Hitze, ging aber einen anderen Weg zurück. Etwa zu der Zeit, als Pierre den Waldrand erreichte und in die größte Mittagsglut ging, nahm ebenfalls am Waldrand ein Spürhund die Witterung auf, dort, wo Pierre den Wald betreten hatte. Drei bewaffnete Männer folgten ihm.
Pierre erreichte unbeobachtet seine Höhle, war aber völlig erschöpft und dehydriert. Er trank einen Schluck Chlorbrühe, und die Aussicht auf ein frisches Schnitzel gab ihm neue Lebenskraft. Er panierte es behelfsmäßig, so gut es eben ohne Ei ging (Hühner konnte hier mangels Futter keiner halten), und legte es in eine Pfanne, die er mit Handschuhen von draußen holte, wo sie von der Sonne erhitzt worden war. Als das Schnitzel Farbe annahm, dankte er Hugo von ganzem Herzen für dieses Wunder. Eine Träne rann ihm über die Wange, als ob er wüsste, was im selben Moment Hugo widerfuhr. Doch es war eine Freudenträne.
Der durch das Anbraten entstandene Geruch versetzte Pierre beinahe in Trance. Lachend stand er an der Pfanne, als er das fertige Schnitzel vorsichtig auf den Teller gleiten ließ. Er setzte sich andächtig davor, noch immer liefen ihm Freudentränen über die Wangen. Dann schnitt er sich vorsichtig, ja meditativ, ein erstes Stückchen ab. Die helle Struktur des Fleisches, die bröselnde Panade, das sägende Messer - es war der Beginn eines ekstatischen Mahls, das er so noch nie erlebt hatte. Pierre wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er feierlich den letzten Bissen mit der Gabel zum Mund führte. Welch eine Geschmacksexplosion in seinem Mund. Er war in einer anderen Welt.
Draußen knirschten Reifen im Schotter, Türen schlugen, schwere Stiefel traten auf. Pierre hörte nichts mehr.
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