Literatur

"MM"-Schreibwettbewerb "Erzähl mir was": "Im Sommer nichts Neues" von Christian Andorfer

Für den "MM"-Schreibwettbewerb zum Thema "Hitzebeständig - Leben in Zeiten des Klimawandels“ hat Christian Andorfer die Geschichte "Im Sommer nichts Neues" verfasst. Jetzt lesen

Von 
Christian Andorfer
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GA_MFE_Klimakrieg © istock

Mannheim. Es war Frühling, die milde Sonne schien ihm ins Gesicht, als er über die Wiese ging. Der Wind strich ihm sanft durchs Haar wie seine geliebte Daphne, säuselte verführerisch in sein Ohr, weiterzugehen. Lockte ihn, wie eine Sirene. Er wusste, dass es nur ein Traum war, denn er hatte ihn schon dutzendmal geträumt. Ein kleiner Teil seines Verstandes versuchte, ihn festzuhalten, doch vergeblich. Er ging weiter. Er wusste, was kam, was kommen musste. Es war seine Nemesis. Bienen summten, und der süße Duft von frischem Gras und Kornblumen stieg ihm in die Nase. Er schritt weiter über den weichen Teppich aus Grashalmen und Wildblumen. Plötzlich stand er vor ihr - inmitten unter ihnen. Sie war zehn Jahre alt, lag da, ihr schwarzes Haar breitete sich wie ein Fächer aus. Die Arme entspannt neben dem zerbrechlichen Körper und ihr Blick in den blauen Himmel gerichtet. Doch sie würde ihn nie wieder sehen, denn in ihrer Brust klaffte ein rundes Loch. Blut tränkte den Stoff ihres Hemdes und färbte die Wildblumen widernatürlich. Genauso wie bei den andern um ihn herum. Dutzende. Er sank auf die Knie. Ein unsagbarer Schmerz, geboren aus Schuld, erwachte in ihm. Da drehte sie den Kopf. Ihre toten Augen blickten ihn stumm anklagend an. Er spürte, wie auch die anderen die Köpfe drehten, ihn ansahen. Der Schmerz schwoll an, erfasste jede Faser seines Körpers. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle …

Christian Andorfer

Am 8. Mai 1976 wurde ich in Heidelberg geboren. Mit sechs Jahren ging ich auf die Pestalozzischule in Edingen. Nach deren Abschluss besuchte ich das Thadden-Gymnasium und das Helmholtz-Gymnasium in Heidelberg, wo ich auch Abitur machte. Es folgten Jurastudium und Referendariat in Heidelberg. 2005 wurde ich Anwalt. Erste literarische Schritte machte ich mit acht Jahren. Da wurde mein Aufsatz „Peter und Maria finden ein Kätzchen“ veröffentlicht. Später als Anwalt schrieb ich einige Aufsätze und wirkte an einem Fachbuch mit. Allerdings ließ hier die Handlung zu wünschen übrig.

 

… er fuhr hoch, saß kerzengerade auf seinem Feldbett. Sein Herz hämmerte bis zum Hals, seine Finger in das schweißnasse Laken gekrallt, sein Mund staubtrocken. Er musste sich beruhigen. Die Julisonne warf ihr morgendliches Licht durch den Zelteingang. Seine Kameraden waren ebenfalls wach. Hatte er sie geweckt? War es schon so weit? Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. „Alles in Ordnung?“, fragte Stefan. Er drehte sich um und blickte in blaue wissende Augen. „Ja!“, antwortete er knapp und nickte dankend. „Es geht los!“, brüllte plötzlich ein Offizier, der eintrat, „Der Feind rückt näher!“ Er stand auf, nahm sich seine Ausrüstung und trat ins Freie. Sofort schlug ihm die Hitze des Morgens entgegen, und der Tag versprach noch einiges mehr.

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„Wie hatte es so weit kommen können? Wann hätten wir noch gegensteuern können?“, fragte er sich, als er in den Transporter einstieg, der ihn zur Front bringen würde. Er dachte an vergangene Zeiten, die Goldenen Zwanziger, wie man sie später nannte. Die Leute damals sahen das zwar anders. Nach einer Pandemie tobte ein schrecklicher Krieg in Europa, doch verglichen mit dem, was folgte, ging es allen blendend. Die Sommer waren damals schon heiß und die Winter zu warm. Seine Eltern hatten von besseren Zeiten erzählt, Geschichten, die ihn als Kind nicht interessierten. Er hatte eine schöne Kindheit, mit Urlaub am Mittelmeer und Skiferien in den Alpen. Es hatte ihm an nichts gemangelt. Damals hatten erste Aktivisten auf den Klimawandel aufmerksam gemacht, Demos organisiert, sich auf Straßen festgeklebt. Es kam zu ersten Versuchen der Politik, das Ruder herumzureißen. Doch sie waren nicht global gedacht. Man stellte Europa zwar auf grüne Energie um. So wurde etwa das Verbrennerauto abgeschafft. Doch genau diese Autos wurden in Afrika noch jahrelang gefahren, als ob sie dort kein CO2 ausstießen. Und mit der Produktion der Konsumgüter lief es genauso. Aber Europa hatte eine weiße Weste. Für das Klima spielte das jedoch keine Rolle.

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Ein harter Ruck riss ihn brutal in die trostlose Gegenwart zurück. Sie fuhren vorbei an dürren Büschen, trockenen Wäldern, über ausgedörrten Boden, der schon wochenlang keinen Regen mehr gesehen hatte. Er blickte zu den anderen, die geistesabwesend vor sich hin starrten. Dann griff er in seine Brusttasche und zog das Bild von Daphne mit seiner Familie heraus. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er das Bild betrachtete, in Gedanken bei ihnen.

Er dachte an die Dreißiger, Abitur in Mannheim, Studium am KIT in Karlsruhe. Danach ging er mit anderen Idealisten in die Forschung. Er wollte die Welt verbessern, doch die Welt wollte nicht. Er hatte nie verstanden, wieso man die Erderwärmung nur stoppen und den Status quo beibehalten wollte. Einen Status, den keiner wollte. Er wollte das Rad zurückdrehen, wollte das CO2 aus der Luft holen und dauerhaft binden. Sie entwickelten ein Verfahren. Doch es war zu teuer. Klar! Wenn man die Folgekosten ignorierte. Das Forschungsprojekt wurde gestrichen.

Es folgten die dunklen „Vierziger“ - wiederholte sich Geschichte? Er fand neue Arbeit und seine große Liebe, Daphne, mit der er seine Familie gründete. Daphne war ein Flüchtling aus den Niederlanden oder was davon nach der großen Flut noch übrig war. Das grönländische Eis war in weiten Teilen geschmolzen und der Meeresspiegel rasant angestiegen. Man hatte die Deiche an Europas Küsten erhöht und wähnte sich in trügerischer Sicherheit, während ganze Inselstaaten untergingen. Aber Aktivisten setzten ein Zeichen. Als erneut eine Sturmflut die Küsten heimsuchte, sprengten sie die Deiche. Die Niederlande hörten auf zu existieren, weite Teile Norddeutschlands, Dänemarks und Nordfrankreichs fielen der See anheim. Millionen Flüchtlinge suchten eine neue Heimat. Radikale Populisten nutzten die Gunst der Stunde, kamen an die Macht und missgestalteten Europa, machten es stark, wie sie es nannten. Und Europa wurde stark, auf Kosten der anderen, erschuf eine Blase, in der es allen gut ging. Doch die Blase war trüb. Keiner sah, welcher Sturm sich zusammenbraute.

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Die Geschichte hatte diesem Sturm noch keinen Namen gegeben, aber für ihn waren es die Klimakriege. Der Klimawandel führte zu nie dagewesenen Dürren in Afrika und dem Nahen Osten, machte weite Teile unbewohnbar. Es kam zu Hungersnöten und Aufständen. Doch die Konflikte verblieben nicht dort, so wie früher. Der Westen, allen voran Europa, wurde als Sündenbock ausgemacht. Der globale Süden schloss sich, unterstützt von Autokratien, denen man ein Dorn im Auge war, zusammen und rief zum Sturm auf die Festung Europa. Es folgten entbehrungsreiche Jahre, die zeigten, dass auch hier die Ressourcen nicht für alle reichten. Ihm, nun Soldat, und seiner Familie ging es noch recht gut, andere hatten weniger Glück. Aber die Festung hielt stand, zumindest der ersten Welle. Was dann folgte, damit hatte niemand gerechnet. Sie kam langsam, aber unaufhaltsam, wie nach der Ebbe die Flut, die zunächst sanft um die Füße spielt und, ehe man sich versieht, steht man bis zum Hals im Wasser. So breitete sie sich auch aus, verschlang erst die Türkei, dann den Balkan, ergoss sich über Osteuropa. Sie kam unerbittlich näher, wuchs mit jeder Region, durch die sie kam. Keine Mauer, kein Stacheldraht konnte sie stoppen. Soldaten liefen schreiend weg, wenn sie sie sahen, oder brachen weinend zusammen.

Mit einem Quietschen kam der Transporter zum Stehen. Es war erst acht Uhr, aber die Sonne brannte schon erbarmungslos vom Himmel. Er fuhr sich mit der Hand durchs schweißnasse Haar. In der Luft hörte er ein Summen wie von Abermillionen Insekten. Doch es waren keine Insekten, sondern die Stimmen unzähliger Menschen, die sich vermischten. Wenige hundert Schritt vor ihm stand die zweite Welle in breiter Linie. Er bezog Position. Trotz der Hitze war ihm eiskalt. Neben ihm stand Stefan. Er sah in seine traurigen blauen Augen. Dann blickte er hinüber die Linie entlang. Hinüber zu den Völkern Afrikas, des Nahen Ostens, die sich zu Abermillionen aufgemacht hatten, nachdem ihre Heimat sie nicht mehr ernähren konnte. Hinüber zu den Menschen, die sich der Völkerwanderung angeschlossen hatten, nachdem auch ihre Heimat in Hunger und Elend versunken war. Hinüber zu Männern, Frauen und Kindern, an deren ausgemergelten Leibern die Hemden wie Fahnen im heißen Sommerwind wehten. Hinüber zu Menschen, denen nur noch Verzweiflung geblieben war.

Er blickte zu Stefan, der seinen Blick wissend erwiderte. Heute würde es enden, auf die eine oder andere Art. Er war hier, um seine Heimat und seine Familie zu verteidigen. Wollte nicht, dass sie sich in diesen endlosen Heerwurm einreihen mussten, in den Zug der Verdammten. Denn auch hier waren die Böden ausgezehrt, die Ernten mager, reichte es gerade so zum Überleben, würde das Land die zahllosen Menschen nicht ernähren können. Er legte das Gewehr an und schloss die Augen - er dachte an den Frühling. Damals schritt er über eine Wiese, weit weg von hier, wo sie das Unaufhaltsame aufhalten sollten. Seine Stiefel zertraten Grashalme und Kornblumen. Vor ihm im Gras lagen sie, klagten ihn mit gebrochenen Augen stumm an, Männer, Frauen, Kinder - ein Vibrieren ging durch seinen Körper, und er schlug die Augen auf. Die Menschen hatten sich in Bewegung gesetzt, kamen immer näher, wurden immer schneller. Schüsse zerrissen die Luft, erste fielen zu Boden, andere setzten über sie hinweg, rannten unbeirrt weiter, bis auch sie fielen, und weitere folgten. Er schloss die Augen.

„Wie hatte es so weit kommen können? Wann hätten wir noch gegensteuern können?“, fragte er sich. Dann drückte er ab.

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