Alles ist gut. Du hörst die Vögel zwitschern. Grasgrüne Felder umgeben dich, sanfte Sonnenstrahlen streicheln deine Haut und du siehst Kühe, Schafe und Ziegen frei durch die Natur laufen. Kinder fahren lachend mit ihren Fahrrädern an dir vorbei und grüßen dich fröhlich. Du läufst an einem Imker vorbei, der sich freudig um die Bienen kümmert. Ganz leise hörst du sanft das Rauschen von Wasser im nahe gelegenen Fluss und das Planschen von Waldtieren, die sich dort eine Erfrischung holen. Zu deiner Rechten erblickst du den Wald, durch dessen dicht besiedelte Pflanzen kein einziges Geheimnis des Waldes nach außen dringt. Nur das Rascheln der Laubbäume erzählt leise Geschichten, was dort verborgen liegt. Im Augenwinkel siehst du zwei Hasen über die Wiese hüpfen. Wie in Trance folgst du diesen und lässt dich tragen von dem Gefühl der völligen Freiheit. Ein in den schillerndsten Farben leuchtender Schmetterling fliegt nah an dir vorbei und du beginnst, immer mehr zu strahlen. Du schließt für einen Moment die Augen, hältst inne und genießt diese Idylle. Der sanfte Wind in deinen Haaren versetzt dich in eine friedliche Welt und schenkt dir das Gefühl von Sicherheit und Freiheit. Doch dann siehst du auf deine Uhr. 11.50 Uhr…
Und du erwachst aus deinem Traum.
Du hörst das ohrenzerreißende Kreischen von Sägen, die immer weiter die Wälder abholzen. Die vertrockneten Felder lassen den Ort wie eine Wüstenlandschaft aussehen; die gleißende Sonne brennt sich ungehemmt in deine Haut und du siehst ausgemergelte Rinder schutzlos in der Hitze stehen. Kinder laufen mit gesenktem Kopf an dir vorbei und bemerken dich noch nicht einmal. Du richtest deinen Blick gen Himmel… doch da ist nichts. Keine Insekten, keine Vögel. Mit jedem Schritt spürst du, wie vertrocknete Äste unter deinen Füßen zerbrechen, und die Bäume recken anklagend ihre knochigen Äste in den Himmel. Kein Wind und kein Schatten, um sich vor der Sonne zu schützen.
Annika Reinhardt
- Ich heiße Annika, komme aus Landau und studiere im 4. Semester Psychologie in Heidelberg. Seitdem ich lesen kann, fühle ich mich in der Welt der Worte zuhause und lese am liebsten Krimis und Thriller.
- Einblicke in das Leben verschiedener Charaktere zu erhalten, lässt sich gut mit meinem Interesse an der menschlichen Psyche in Einklang bringen. Da ich aber selbst gerne schreibe, freue ich mich, nun meine Geschichte teilen zu können.
- In meiner Freizeit spiele ich gerne Klavier und verbringe viel Zeit mit meinen Freunden. Um die zweistündige Fahrt zur Uni zu überstehen, sind mir meine Bücher stets ein treuer Begleiter.
11.51 Uhr. „Alles ist gut. Uns geht es hier doch gut. Das war doch schon immer so. Es gibt so etwas wie den Klimawandel nicht. Mir doch egal, ich erlebe die Auswirkungen dann eh nicht mehr!“ Immer wieder hallen diese Worte durch deinen Kopf, wie ein niemals enden wollendes Echo, während du einen leichten Brandgeruch in der Luft wahrnimmst. Entsetzt schaust du zum Waldrand und siehst eine kleine rote Flamme aufleuchten. Doch du weißt, das ist nur der Anfang deines Albtraums.
11.52 Uhr. Wasser, denkst du dir, doch wo dein Auge hinfällt, siehst du nur ausgetrocknete Flussbetten. Früher brauchtest du etwa 15 Schritte zum Kühlschrank, um an Wasser zu kommen, heute musst du hoffen, auf der Warteliste bald an der Reihe zu sein. Du beginnst zu rennen, 11.53 Uhr, schnell weg von hier, weg von der beginnenden Katastrophe, denn das kannst du gut. Weglaufen. Weglaufen vor den Ereignissen, die sich all die Jahre täglich vor deinem Auge abgespielt haben, aber du warst damit beschäftigt, dir dasselbe Shirt in drei verschiedenen Größen zu bestellen, nur zur Sicherheit, so sehr schadet das Zurückschicken und anschließende Entsorgen der Kleidung nicht. Dir hat der Eisbär auf dem Shirt gefallen? Gut, dass du ihn dir so gut eingeprägt hast, denn das ist die einzige Form, in der du ihn heutzutage noch finden kannst. 11.54 Uhr. Aber keine Sorge, alles ist gut. Lauf einfach weiter. Für dich waren es früher drei Klicks auf dem Smartphone, um an Essen zu gelangen, heute musst du hoffen, genug für einen Tag zu bekommen. Aus „all you can eat“ wurde „all you can find“.
Du hältst abrupt an. Und lauschst. Kein Vogelgezwitscher, keinerlei Geräusche von irgendwelchen Tieren des Waldes, nur das bedrohliche Knistern von Feuer und dein keuchender Atem. Du spürst, wie die Hitze der Sonne und der Flammen immer weiter deinen Rücken hochkriechen. 11.55 Uhr. Aber hey, immerhin konntest du eine Zeit lang ein ausschweifendes und unbesorgtes Leben führen. Wobei, ganz ungetrübt war es ja nicht. Jeden Tag diese lästige Entscheidung vor dem Kleiderschrank und jeden Tag aufs Neue überlegen, wie du die fünf Kilometer mit dem Auto zur Arbeit am besten ohne Stau hinter dich bringst. Natürlich hättest du zu deinem beruflichen Termin mit dem Zug sieben Stunden fahren können, aber so ein Inlandsflug war doch schon komfortabler, nicht?
11.56 Uhr. Du spürst innerlich und äußerlich, dass du weg von hier musst. Ganz weit weg. Aber wohin? Denn du weißt: Es gibt Orte auf dieser Welt, die noch viel schlimmer sind als hier. Du beginnst erneut zu rennen. Ziellos. Wo du auch hinsiehst, siehst du Leid. Aber immerhin war es mal gut. Du konntest einfach wegschauen, dann hast du gar nicht bemerkt, wie die Welt begonnen hat, sich selbst zu zerstören, aufgrund des Parasiten, der auf ihr lebt. Bilder von Menschen und Tieren, die ihren Lebensraum verloren haben? Bilder von toten, angeschwemmten Wassertieren, weil sich das Meer erhitzt hat? Überschwemmte Dörfer und ein auf einer einsamen Eisscholle treibender Eisbär? Klick! Schon weg. Keine Panik, ein Klick auf deinem Handy und du musstest dir das nicht mehr ansehen. Beinahe wären dir damals dein Avocadotoast und deine neue Palmöl-Handcreme heruntergefallen. Aber da war das ja alles noch so weit weg, dachtest du dir. Für dich war es nur ein Foto – jetzt ist es deine Realität.
11.57 Uhr. Nun weißt du: Nichts ist gut. Nur weil du es nicht immer sehen konntest, heißt es nicht, dass es nicht da war. Denn die Bedrohung war immer da. Kennst du das, du sprichst beispielsweise von einer Automarke und plötzlich siehst du sie scheinbar nur noch oder zumindest viel häufiger? Aber das ist nur die Verschiebung deines Fokus; die Automarke ist in dein Bewusstsein geraten, aber sie ist genauso häufig da wie zuvor, du achtest nur jetzt darauf. Doch du wolltest den Klimawandel nicht sehen. Deine Aufmerksamkeit war woanders. Entweder du hast es nicht ernst genommen oder du hattest Angst. Und was ist das beste Mittel bei Angst? Weggucken, ignorieren, vermeiden. Doch jetzt geht das nicht mehr, denn es ist 11.58 Uhr, kurz vor 12, es gibt kein Entrinnen.
Du spürst, dass du keine Luft bekommst, deine Gedanken kreisen immer mehr, umringen dich wie dunkle Wolken und wollen dich zu Boden drücken. Und du gibst nach. Du lässt dich auf den Boden sinken. 11.59 Uhr. Zusammengekauert sitzt du auf der staubigen, erwärmten Erde, du versuchst einzuatmen, aber du spürst nur den Rauch in deiner Lunge. Deine Augen brennen von der Hitze. Also schaust du auf die Uhr, noch dreißig Sekunden, und schließt ein letztes Mal deine Augen. Und plötzlich ist es still, außer diesem einen Gedanken in deinem Kopf. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Ich würde alles anders machen. Nur noch diese eine Chance, bitte…
Und du erwachst erneut aus deinem Traum.
Stille. Aufrecht und schweißgebadet sitzt du auf deinem Bett in deinem dunklen Zimmer, hörst nur deinen verschnellerten Atem und das Pochen deines Herzens. Du weißt erst nicht, wo du bist. Du stehst hektisch auf, rennst zu deinem Fenster und reißt den Vorhang auf. Alles wie immer. Der Garten, das Gartenhaus, ein Fahrradfahrer radelt im Licht der Morgensonne um die Straßenecke. Die Nachbarskatze pirscht durch das Gebüsch. Alles wie immer. Oder etwa nicht…? Du siehst auf die Uhr. 6 Uhr. Und plötzlich fällt dir alles wieder ein. Die scheinbare Idylle, der Traum, die Endzeitstimmung, der Albtraum. Dein Herz pocht noch immer. Was ist denn nun die Realität? In welcher Welt lebe ich? Du schaust nach links, siehst in der Dunkelheit die Schemen deines Umrisses im Spiegel. Und du erinnerst dich. An deinen letzten Gedanken. Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte. Ich würde alles anders machen. Nur noch diese eine Chance, bitte… Du siehst dir in die Augen und fragst in die Stille hinein: In welcher Welt möchtest du denn leben? Die Verwirrung in deinem Kopf lichtet sich, dein Herzschlag beruhigt sich und du blickst erneut nach draußen. Es ist noch Zeit. Du hast einen Entschluss gefasst. Noch nie warst du dir sicherer, was zu tun ist. Du drehst dich um, steuerst auf die Tür zu, öffnest diese und …?
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