Teil IV

"MM"-Schreibwettbewerb "Erzähl mir was": "Zitroneneis" von Tobias Etsch

Zwei Wissenschaftler sitzen in einem Bunker und warten auf den letzten Kipppunkt. Dort versuchen sie, sich Entscheidungen der Vergangenheit begreiflich zu machen - und die Hoffnung für die Zukunft nicht zu verlieren

Von 
Tobias Etsch
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Bild: istock © Getty Images/iStockphoto

Erster März 2074. Irgendwo. 11.54 Uhr. T minus sechs Minuten.

„Die Snickers-Brownies von meiner Frau“, sagte Aldric, der im Vergleich zu seinem Nebenmann immer noch entspannt wirkte.

„Die wären nichts für mich. Ich hasse Erdnüsse“, antwortete David.

Seit wenigen Tagen saßen die beiden nun schon in dem kleinen Raum, der nur durch das einströmende Tageslicht einer kleinen Luke beleuchtet wurde, und warteten auf das Ereignis, das ihnen bevorstand.

„Lass mich kurz überlegen. Ich sag mal: frittierte Hähnchenschenkel.“

David versuchte, seine Nervosität zu verstecken, doch sein Körper rutschte seit etwa einer halben Stunde aufgeregt auf dem Bürostuhl hin und her.

„Nicht schlecht. Da bekomme ich gleich Lust auf einen der Riegel aus dem Lager“, sagte er mit einer gespielten Lässigkeit.

„Was sagt ihr dazu, Vancouver? Vancouver? Hallo, hört uns jemand?“

Schweigen.

„Unsere Außenkommunikation ist unterbrochen.“ David blickte auf die zahlreichen Bildschirme vor ihm.

„Komisch. Wir bekommen ein Bild, aber derzeit keinen Ton. Da, Vancouver winkt. In Trondheim hören sie wohl auch nichts, so wie sie mit den Händen rumfuchteln. In Kiel dasselbe.“

„Das ist die Aufgabe der Zentrale. Das bekommen die schon wieder hin.“ Mit diesen Worten versuchte David vor allem, sich selbst zu beruhigen. Sein Kollege schien hingegen die personifizierte Seelenruhe zu sein.

„Ausgerechnet jetzt, wenn das Feuerwerk gleich losgeht“, sagte Aldric mit der Aura eines Helden aus einem Hollywoodstreifen.

„Die Frühlingsrolle bei meinem Lieblingschinesen. Da waren wir immer, wenn eines der Kinder Geburtstag hatte.“

„Dann sage ich Sushi von meinem Lieblingsjapaner. Wo leben deine Kinder jetzt?“, fragte Aldric.

„Die sind seit gestern mit ihrer Mutter zusammen in Florida untergebracht. Hast du auch Frau und Kinder?“

„Nur eine Ex-Frau“, antwortete Aldric, der plötzlich nachdenklich wirkte, „und die starb beim letzten Beben auf Fidschi vor vier Jahren.“

„Oh mein Gott. Das tut mir leid.“

„Muss es nicht. Wir waren damals schon lange getrennt. Ich hatte ihr immer vom Reisen abgeraten. Für mich zeigt es nur die Ironie des Schicksals, dass es so kommen musste.“

David schaute auf die Uhr. „Fünf vor Zwölf. Irgendwie auch ironisch, dass es um diese Uhrzeit passieren wird. Das Schicksal wird wohl immer berechenbarer.“

„Nichts Neues. Haben sie uns nicht genau für diese Erkenntnis den Nobelpreis gegeben?“

Apropos“, schob David nach, „Shrimps-Cocktail! Den gab es zuletzt bei der Preisverleihung.“

„Pah! Lieber Wassermelone“, sagte Aldric grinsend.

„Ist es nicht auch ironisch, dass sie uns den Nobelpreis zur exakten Berechnung des letzten Kipppunktes geben, kurz bevor dieser eintreten wird?“

„Nobelpreisträger“, murmelte Aldric. „Als ob das jemals wieder etwas bedeuten würde.“

„Ein echtes französisches Croissant.“

Aldric zögerte. Dann sagte er: „Der Bienenstich von meiner Mutter.“

T minus vier Minuten.

Die beiden verharrten kurz und sagten nichts. Dann sprach Aldric das aus, was beide längst dachten:

„Ab jetzt sind alle auf sich allein gestellt. Die Leute in den Bunkern, die anderen in den Raumfähren und all die Menschen da draußen, die nicht so viel Glück hatten wie wir.“

David hielt inne. Er unterdrückte ein Schluchzen und überlegte, was er sagen sollte. Doch es war wieder Aldric, der Worte durch den Äther schickte.

„Es ist unfassbar, dass sie ganze Bunker mit Gemälden vollgestopft haben, anstatt noch weiteren Menschen Zuflucht zu bieten.“

„Angeblich wären die nicht für Menschen geeignet gewesen“, sagte David nun trocken.

„Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe.“

Geboren in Heidelberg, wohnhaft in Weinheim, studierte ich nach dem Abitur an der Dietrich-Bonhoeffer-Schule in Weinheim Philosophie und Germanistik an der Uni Heidelberg. Seit dem letzten Jahr bin ich als Lehrer am wunderbaren Moll-Gymnasium in Mannheim tätig. Dort unterrichte ich die Fächer Ethik, Deutsch und Deutsch als Zweitsprache. Zum kommenden Schuljahr zieht es mich ans Pattberg-Gymnasium in Mosbach.

Ich bin begeisterter Schreiber von Texten aller Art – egal ob Songs, Lyrik oder Prosa. Darüber hinaus bin ich Hobby-Crossfitter, -taucher und liebe Ballsportarten aller Couleur.

„Stimmt vermutlich. Ob es wohl schnell gehen wird?“

„Ich denke schon. Die Kaskadeneffekte wurden lange Zeit unterschätzt. Laut der letzten Modelle reden wir von Tagen, maximal Wochen.“

„Ich hoffe, dass es ihnen gut geht und dass ich sie bald wieder sehen kann“, schluchzte David.

„Du meinst deine Frau und deine Kinder? Florida hat einen hervorragenden Ruf, was die Sicherheit angeht. Im Vergleich zu denen leben wir hier wie Sozialhilfeempfänger in den Zwanzigern. Sobald die Zentrale das Verbindungsproblem hinbekommt, können wir auch in Florida anklopfen. Wir zwei haben die höchste Priorität, wenn es um Kommunikationsfragen geht.“

„Ich meine, wann ich sie wohl im realen Leben wieder sehen kann. Wann ich sie umarmen kann. Ob es jemals wieder die Möglichkeit geben wird?“

Wieder wurde es still.

„Die Wissenschaft wird einen Weg finden. Sie findet immer einen Weg. Und bis dahin sitzen wir in diesen Hightech-Bunkern und machen das Beste aus der Situation.“

„Und wenn wir keine Lösung finden?“

„Dann forschen wir weiter, bis wir sie gefunden haben. Egal ob es Wochen dauert, Monate oder gar Jahre. Das ist nun die einzige Aufgabe, die wir haben: herauszufinden, wie man diese Erde wieder bewohnbar macht.“

T minus zwei Minuten.

„Das hätten wir einfacher haben können. Noch vor fünfzig Jahren hatten wir eine Chance. Eventuell auch noch vor vierzig oder dreißig. Exakte Berechnung des Kipppunktes hin oder her – die Menschen wussten längst, was passieren kann. Sie wussten es und haben nichts getan. Balkon-Kraftwerke, Elektro-Autos, Bio-Produkte. Lächerliche Maßnahmen, die nur dazu da waren, das eigene Gewissen zu beruhigen. Wenn sie nur hätten sehen können, was wir heute sehen. Sie hätten aufgehört zu konsumieren und sich stracks einen Bunker unter der Erde gebaut, ohne jemals wieder an Konsum oder Luxus zu denken. Sie hätten ihre sinnlose Arbeit niedergelegt und wären für ihren Planeten auf die Straße gegangen.“

David bemerkte, wie emotional er wurde. Er überlegte kurz, ob seine Worte etwas zu pathetisch waren. Bei Aldric schien er jedoch offene Türen eingerannt zu haben.

„Ja, genau! Man hätte sie damals das Fürchten lehren müssen, aber die Menschen fürchten sich leider nicht vor Statistiken. Sie fürchten sich heute auch nur, weil sie wissen, dass es real ist. Und dass es zu spät ist, um auf die Straße zu gehen. Die größte Furcht der Menschen damals war, in einen Stau zu geraten, weil ein paar Demonstranten die Straße blockiert hatten.“

„Wie absurd solche Probleme doch wirken.“

„Ich habe letztens erst darüber gelesen. Das muss damals ein Riesending gewesen sein.“

„Was für eine lächerliche Spezies wir doch sind. Und jetzt ernten wir die Früchte, die wir niemals säen wollten.“

„Ob wir es wohl hätten verhindern können, wenn wir vor fünfzig Jahren gelebt hätten?“, fragte Aldric.

„Meine Eltern sagten früher immer, sie hätten alles Menschenmögliche getan, um die Klimaerwärmung zu verhindern, und wenn ich sie fragte, wieso es nicht mehr war, schoben sie die Schuld auf Politiker, die Medien, die Globalisierung, einzelne Länder, ihre eigenen Eltern, sogar auf die Wissenschaft, weil die ja zu wenig für die eigene Sache eingestanden hätte. Das muss man sich vorstellen. Die eigene Sache. Als ob es nur im Interesse der Wissenschaft wäre, echtes, permanentes Leben auf einem gesunden Planeten zu sichern. Ich bin mir sicher, wenn ich damals gelebt und von den Zahlen gewusst hätte, die damals offenkundig vorlagen, hätte ich alles darangesetzt, diese Katastrophe zu verhindern.“

„Wir werden es leider nie erfahren“, schob Aldric ein.

„Ich glaube übrigens auch nicht, dass Schuld das eigentliche Thema ist. Es hätte gereicht, wenn jeder Einzelne verstanden hätte, dass es um Verantwortung geht. Bei jeder Flugbuchung, bei jedem Autokauf, bei jedem überflüssigen Kleidungsstück. Am Ende tragen sie auch heute die Verantwortung für all das, was noch auf uns zukommt.“

Aldric verharrte mit den wahren Worten, die David selbstbewusst und aus vollem Herzen ausgesprochen hatte. Es gab nun nichts mehr zu bereden, nichts, was die Sache irgendwie hätte ändern können. Das Ende dieser Geschichte war erreicht, die letzte Debatte war geführt. Ab jetzt blieb nur die Hoffnung.

„Es wirkt nun etwas doppelmoralisch“, sagte Aldric, „aber: den Sonnenuntergang während eines Fluges beobachten. Das werde ich wirklich vermissen.“

„Das ist aber nichts zu essen“, wandte David ein. Auf beiden Gesichtern zeichnete sich ein leichtes Grinsen ab. Unter normalen Umständen hätten sie an dieser Stelle wohl herzlich gelacht.

David atmete tief durch. Er besann sich etwas und schien nachzudenken.

„Weißt du, was ich von all unseren aufgelisteten Dingen am meisten vermissen werde? Zitroneneis. Ein schönes, kühles Zitroneneis im Sommer.“

„Wir sollten damit aufhören. Es ist irgendwie schrecklich, an all das zu denken, was nicht mehr sein wird.“

Sie hoben beide ihre Köpfe träumerisch nach oben durch die kleine Luke im Bunker in Richtung Himmel. Fast so, als ob sie dort den letzten Funken Hoffnung erhaschen wollten, von dem keiner wusste, ob es ihn gab.

Sie schwiegen fortan. Nur die weibliche Stimme des Computers durchbrach die Stille.

T minus zehn Sekunden. T minus fünf Sekunden. Kipppunkt erreicht.

„Zitroneneis“, wiederholte Aldric mit schluchzender Stimme, während er zusah, wie sich die Luke über ihnen langsam verdunkelte.

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