Es war der letzte Zug. Überfüllt, wie immer in jenen Tagen. Alle saßen dicht an dicht, viele Kranke darunter. Viele bleiche hustende Gesichter. Mich hatte es zum Glück noch nicht erwischt. Es ging mal wieder eine dieser Krankheiten rum, die die Menschen langsam schleichend von innen auffressen. Man sagte, diese Krankheiten kämen mit dem Wind, diesem allzu starken Wind, den die Trockenheit bringt und der von Osten kommt. Der auch heute immer noch von Osten kommt. Wir haben es noch längst nicht hinter uns. Der Wind ist immer da. Er saugt den Staub, die tote Erde in seine monströsen Lungen und bläst sie uns tief in jede Pore unserer ausgemergelten Körper. Wir leiden, aber wir sind zäh. Noch.
Damals dachte ich, man könnte fliehen. Ich war nicht die Einzige. Die Züge, die noch fuhren, waren vollgestopft mit Menschen wie mir, die so gut wie nichts mehr hatten, nur noch eine letzte hinübergerettete Reserve an Hoffnung. Sie war eingepackt in die letzte Wärme von Menschlichkeit.
Ich hatte einen Sitzplatz am Fenster ergattern können. Neben mir saß ein schwerleibiger Mann um die 50 und rechts von ihm eine schmale Frau, die sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Wir hatten kaum Platz zu dritt auf der Zweierbank. Der Mann in unserer Mitte schien mit jedem seiner asthmatischen Atemzüge in die Breite zu wachsen. Ich legte mein Gesicht an das kalte Glas der Fensterscheibe und versuchte den Schweiß, das Siechen, den Ammoniakgeruch ungewaschener angsterfüllter Körper durch den Gedanken an dich zu verdrängen. Ich dachte an das letzte Mal, als mein Mund an deinem Hals entlanggeglitten war. „Du riechst so gut“, hatte ich gesagt. „Dein Körper riecht so gut“, hatte ich zu dir gesagt.
Sandra Meyer
- Ich bin 49, habe einen Partner, einen Sohn und eine Katze.
- Geboren und aufgewachsen bin ich an der Grenze zu Luxemburg.
- Ich bin Magistra in Philosophie, Französisch und Phonetik.
- Ich arbeite als Freie Redakteurin und Autorin für Kinder- und Schulbücher und bin auch Musikerin. Preisträgerin 23 der „Ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen“ (Fischer-Verlag).
- Zurzeit bin ich auch in Schreibausbildung im Schreibhain in Berlin.
Ich griff in die Innentasche meiner Jacke und fühlte, ob er noch da war. Das hatte ich während der Fahrt schon einige Male getan, wie um mir zu versichern, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Dass es nur diesen einen Weg gab. Ich ertastete die papierene Oberfläche deines Briefes und zog die Hand wieder beruhigt zurück. Es gab nur diesen Brief. Sonst nichts. Die großen Server waren schon vor Jahren ausgefallen. Die Hitze hatte nicht nur das fleischige Leben, sondern auch alles Elektrische lahmgelegt. Informationen, Lebenszeichen, Lebenslügen wurden wieder postalisch auf Papier und von Hand verschickt. Und Tinte war rar. Da es keine Postämter gab, nur einige wenige Sammelstellen für jeden Notbezirk, konnte es passieren, dass die Briefe mit einer Verspätung von bis zu 6 Monaten erst ihren Adressaten erreichten. Dein Brief trug zudem kein Datum. Du hattest auf der Rückseite eines Flugblattes, das vor dem nahenden Sturm warnte, drei hektische Zeilen hinterlassen.
Wir sind jetzt in Vandsburg.
Wir müssen ins Auge des Sturms.
Hab keine Angst. Komm
Das letzte Mal hatten wir uns an der Küste gesehen. In jenen Tagen lebte ich noch in der Gemeinschaft. Wir waren guter Dinge, bauten eine riesige Entsalzungsanlage zur Trinkwassergewinnung. Abends, wenn die Gewalt des Meeres am stärksten war, versammelten wir uns am Strand, nah an der Gischt. Das salzige Perlen in unseren Gesichtern. Du hieltest meine Hand, und die Sprache deines Körpers war zugleich friedvoll und klar: Du sagtest mir ohne Worte, dass du bald aufbrechen würdest. Und du musstest nicht fragen, ob ich mitkommen würde. Denn du kanntest schon die Antwort. Ich glaubte an die Gemeinschaft. Ich glaubte daran, dort Leben schützen und zeugen zu können. Drei von uns waren zu dem Zeitpunkt schwanger. Mit dicken Bäuchen saßen wir im kühlen Sand der Nacht. Ich gehörte dazu. Es war nicht dein Kind. Das war dir egal. Es war uns nicht wichtig. Die anderen Zeiten waren angebrochen.
Als die Kinder kamen, schwer und quälend, geboren in eine todbringende Hitze, warst du schon längst auf und davon. Du warst auf der Suche. Nichts konnte dich halten, kein noch so überzeugend gesprochenes Wort. „Ich finde das Leben und dann komm ich und hole dich“, sagtest du, und es waren die reinsten Worte, die ich je gehört hatte. Der Kuss auf meinem Mund hallte noch nach, und Wehmut mischte sich mit Verliebtheit. So war es immer gewesen. Wir blieben immer verliebt. Keine Gewohnheit, kein Trott konnte dieses Körpergefühl ersticken. Das Sehnen blieb stets um das Herz herum.
Die Kinder starben schnell, kaum dass sie geboren waren. Viele der Älteren folgten ihnen. Ich hielt ihre ledrigen Hände und nahm ihnen das Versprechen ab, zu gehen. Die Angst wuchs, die Gemeinschaft bekam Risse wie die Erde, auf der wir uns niedergelassen hatten. Als das Wasser nach Tod schmeckte, löste sie sich auf. Und der Wind trug uns in alle Richtungen. Niemand nahm Abschied. Abschiednehmen war ein Relikt der letzten Generation.
Du und ich. Die ersten drei Male: zufällig, flüchtig, schön. Ich erinnerte mich gern daran zurück. In einer Zeit ohne digitale Erinnerung wogen die Bilder im Kopf Gold. Du, wie du vor dem Audimax neben Christine saßt. Second-hand-Fell um den Hals, Zigarette zwischen den Fingern, so wie wir alle damals. Ich hatte Christine lange nicht mehr gesehen, setzte mich neben sie, freute mich so. Ein paar Worte, ein paar Blicke. Ich ging wieder. Unsere Leben waren flüchtig, nur im Moment. Keine Schwere, nur die Last einer hedonistischen Gegenwart und einer sehr fernen Vergangenheit.
Jahre später, das zweite Mal, auf dem Weg nach Dänemark, Halt an der See. Alle Männer von Christine kamen von der See. Sie standen mit einem Bein im Wasser, so, als wüssten sie von dem, was kommen würde. Wir besuchten dich in einem engen Haus. Das Feuer im Kamin brannte. Draußen wehte ein Eiswind. Deine Mutter brachte uns Wein. Und Christines Kind schlief im obersten Stockwerk, direkt unter dem Dach und über knarzenden Dielen. An jenem Abend sah ich zum ersten Mal mich in dir. Deine Augen waren meine. Du saßt in einem schweren, alten Ohrensessel. Die schläfrige Wärme des Kamins drückte dich in die alte Haut. Die Gläser waren rot voll Wein. Es klackerte und da waren Worte zwischen Schlucken, Lachen, zwischen uns. Freunde. Was für schöne kurze Lebigkeiten. Die Zeit nach hinten raus war frei und grenzenlos. Wie ein feiner Faden Glück. Und hinter dem Blau das tiefe Geheimnis. Unsere Augen blau. So blau.
Und das dritte Mal in einem schweren Haus im tiefsten Wald. Ich an der Seite eines Mannes mit zu vielen Söhnen und Geheimnissen. Christine hatte dich mitgebracht. Zu dieser Zeit nur noch als Freund. Eure Wege hatten sich schon getrennt. Wir alle in dem Haus mit den vielen versteckten Räumen. Nachdem die Raketen und Silvesterknaller verschossen waren und der Himmel wieder in tiefer schwarzer Nacht versank, schliefen alle in ihren Winkeln, eingehüllt in warmes Fell. Als wir am Morgen darauf aufwachten, warst du schon weg. In meinem Schuh eine Nachricht von dir. Die Feder eines Eichelhähers. In Schwarz, Weiß, Rot und in leuchtendem Blau. Vier, vier Himmelsrichtungen, vier Winde. Du meintest, sie passe zu uns.
Nach drei Tagen und drei Nächten kam ich endlich an. Ich hatte hungern, umsteigen, warten, sehr lange warten müssen. Das letzte Stück war das mühsamste gewesen. Der letzte Zug hielt grundlos mitten auf der Strecke und fuhr nicht mehr weiter. Wir liefen den Rest. In kleinen Grüppchen schleppten wir uns entlang der Gleise Vandsburg entgegen. Wir wechselten uns ab. Jeder musste die Front bilden und dem immer stärker werdenden Wind standhalten, jeder durfte aber auch in den inneren Kreis. Man war sich nah, ohne Namen, ohne Blicke auszutauschen. Man hatte sich an das Flüchtige gewöhnt, obwohl das Flüchtige in der Not immer auch mit gegenseitiger Hilfe einherging.
Als wir in der Stadt ankamen, flogen Menschen durch die Luft. Ich starrte in die aufgerissenen Augen einer Frau, bevor der Wind sie an den Haaren wegriss. Das war jetzt also der Sturm. Die Gruppen lösten sich auf, jeder dachte nur an sein eigenes Überleben. In den vom Sozialismus ausgedünnten breiten Straßen gab es nur wenige Häuserschluchten, die Schutz boten. Zu einer Kugel gedrungen, um dem Wind so wenig Fläche wie möglich zu bieten, sah ich aus dem Augenwinkel, wie zwei sich ein paar Meter entfernt in ein Kellerloch warfen. Ich krauchte auf die Erde gedrückt auf das Loch zu und stürzte mich ebenfalls hinein. Das Brennen im Gesicht hörte abrupt auf. In das Tosen über mir mischte sich ein hochfrequentes Ziehen. Die Welt war wütend. Einen Mann neben mir fragte ich: „Sind wir im Auge des Sturms?“
Das ist jetzt lange her. Viele Menschen starben seitdem. Nur wenige wurden geboren. Der große Sturm sollte nicht der letzte gewesen sein. Es kamen weitere, zerstörerisch, menschenraubend, jedes Mal für eine Weile als gefühltes Final.
Damals in Vandsburg fand ich nicht das Auge des Sturms, sowie ich dich nicht fand. Deine Augen meine. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen. Doch ich bin gut im Warten. Und ich weiß, dass sich unsere Blicke treffen.
Manchmal zieht der Wind sich zurück und gibt das Blau des Himmels frei. Dann schau ich hoch und werfe meiner Augen Blau als klare Linie in den Himmel. Und ich weiß, dass du im Irgendwo nach oben siehst und es empfängst.
Denn meine Augen die deinen sind.
Meine Augen deine.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-mm-schreibwettbewerb-erzaehl-mir-was-meine-augen-deine-von-sandra-meyer-_arid,2233350.html