Erzähl-mir-was-Finale

"MM"-Schreibwettbewerb "Erzähl mir was": "Taylor und Tequila" von Uwe Dittes

Der Mensch scheint überwunden, die Erde unbewohnbar. Ein Wesen, azurblaue Haut und gelbrote Augen, erzählt von seinen Schöpfern, den Menschen, vom Leben jenseits der Welt und der letzten Hoffnung: dem Code in die Freiheit

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Cause I remember it all, all, all too well“, schallt es mir entgegen. Taylor gibt wieder ihr Bestes. Wie jeden Morgen. Ich spüre die angenehmen 23 Grad Raumtemperatur. Ein zarter Hauch streichelt meinen Körper. Der schwache Duft von Orangen und Grenadinen liegt noch in der Luft, gepaart mit den Überresten des rauchigen und würzigen Tequila-Alkohols. Als wäre es gestern gewesen. Der Himmel zeigt sich in strahlendem Blau. Über mir biegen sich die tropischen Kokospalmen leicht im Wind. Vor mir ein weitläufiger Sandstrand, an dem sich azurblaue Wellen sanft den Weg hinauf zu unserer Position bahnen. Wie im Paradies.

Ich verabschiede mich von dem Gedanken an das Elysium und strecke meine Gliedmaßen. Die Arbeit ruft. Langsam, aber zielsicher bewege ich mich zum Beginn meines täglichen Rundgangs. Nicht, dass mein Schaffen und Tun von irgendeiner tieferen Bedeutung geprägt wäre. Selbst unser Kollektiv würde keine negativen Einflüsse spüren, falls ich der Erledigung meiner Aufgaben nicht nachkäme. Zumal es immer weniger aktive Elemente des Kollektivs gibt und wir uns nur noch selten persönlich treffen.

Uwe Dittes

Ich bin ein Kind der Region und in Mannheim geboren (1967). Zusammen mit der besten Ehefrau von allen und unseren vier Kindern leben wir in Ketsch. Wenn ich nicht gerade für Kunden die Bits und Bytes in die richtige Reihenfolge bringe, bin ich draußen in der Natur beim Fotografieren und Radfahren unterwegs. Zusätzlichen Ausgleich finde ich beim Schwimmen und Wasserspringen. Meine weiteren Passionen sind Musizieren, Komponieren und Texten.

Mittlerweile ist das „Central-Kino“ in Ketsch mein zweites Wohnzimmer. Hier sorge ich in der Kino-Technik für den reibungslosen Ablauf des Kinobetriebs.

„Cause I remember it all, all, all too well“. Irgendwie schon fast unwirklich anmutend, diese Liedzeile. Während ich die breiten, verwaisten Gänge durchquere, versuche ich immer wieder, das Vergangene zu verstehen. Was einfacher wäre, wenn das Wissen der Schöpfer noch existieren würde. Die für die Ewigkeit gebauten Datenspeicher besaßen eigentlich eine ausreichende und langlebige Energieversorgung. Geschaffen für das Aufbewahren der riesigen Mengen an sichtbaren und unsichtbaren Zeugnissen der Schöpfer. Doch eine Verkettung unglücklicher Umstände führte zum Defekt der zentralen unterirdischen Stromversorgungsleitung. Das hatte keiner kommen sehen. Einst wertvolles Vermächtnis der herrschenden Spezies, verwandelten sie sich mit der Zeit in trockenen, nutzlosen Staub. Staub, der nicht mehr von Regen fortgewaschen werden konnte. Denn Regen gab es dort schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr.

Ich kann immer noch die Spuren des „Tequila Sunsets“ in der Umgebungsluft wahrnehmen. Vermutlich war dies das Getränk, welches sich einer der Schöpfer zubereitet hatte, bevor es geschah. Zumindest fanden sich noch eingetrocknete Reste der Flüssigkeit im Glasgefäß, welches auf dem Schreibtisch neben der Hauptkonsole stand. Meine Augen wandern zu einem Zettel auf der Ablagefläche. „Taylor“ und „Tequila“, geschrieben in einer ziemlich unleserlichen Handschrift. Die Farbe der Schrift ist mittlerweile sehr stark verblasst. Ein letztes Zeugnis des Individuums, welches bis zum finalen Akt ausharrte. Der Sinn der Botschaft erschloss sich uns nicht wirklich. Ein letzter Gedanke an Schönes und Angenehmes, das dem Autor der Zeilen in Vergangenheit widerfahren war? Wir werden es wohl nie erfahren.

„Cause I remember it all, all, all too well“. Immer noch tönt das Lied aus den Lautsprechern. Ob die Schöpfer immer noch Gefallen an diesem Stück gefunden hätten, das nun seit Menschengedenken hier in einer Endlosschleife abgespielt wird? Menschengedenken. Ich reiße mich von dieser Idee los und versuche, fokussiert zu bleiben. Prozessiere meine Tätigkeiten wie gewohnt mit Geduld und Hingabe.

In meiner Ruhepause gönne ich mir den Blick aus dem Fenster: In der Ferne leuchtet etwas in einem weißgelben diffusen Licht. Aufgrund der dichten Wolkendecke kann man keine Konturen der Oberfläche erkennen. Und selbst dann, wenn der Himmel aufreißen würde, fände sich kaum noch etwas des ursprünglichen blauen Glanzes auf der Kruste der äußeren Schale.

Es ist Zeit, wieder zum Strand zurückzukehren. Nur dort, im Raum der holographischen Umweltsimulation, finde ich noch etwas Nahrung. Wobei ich nicht sonderlich hungrig bin. Mit dem Wenigen, was noch vorhanden ist, auszukommen. Wenn es sein muss, auch für sehr lange Zeit. Das zeichnet uns aus.

Ich erreiche den Zielort und genieße nochmals das virtuelle Abbild einer heilen Welt. Schon faszinierend, wie weit die Schöpfer technologisch gekommen waren. Aber all die Investitionen in Hyper-Technologie, maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz hatten sich nicht für das Überleben der Spezies ausgezahlt. Die Heimat entvölkert, öde und leer. Nur wir, die Bewahrer, verwalteten das Erbe einer grandiosen, aber doch in Zeitspannen des Universums gemessenen reichlich kurzen Ära.

Ein Signallicht blinkt. Auf einer uns unbekannten Audiofrequenz gibt es gerade eine Funkübertragung. Ich unterbreche meine Tätigkeiten und greife auf das Zentralterminal zu. Die Audioübertragung besteht aus kurzen und etwas längeren Signaltönen. Nach einiger Zeit wird mir klar, dass sich das Muster der Tonfolgen wiederholt. Zwischen den Sequenzen entsteht immer wieder eine kleinere Pause. Wartet da jemand auf eine Antwort? Ich verbinde mich mit unserem Kollektiv, um das weitere Vorgehen zu erörtern. Wir hören uns die Übertragung immer wieder an: ein langer Ton, gefolgt von einem kurzen und einem langen Ton. Dann ein langer Ton, gefolgt von einmal kurz, zweimal lang. Und weitere Muster an akustischen Signalen.

Klingt irgendwie vertraut und doch so fremd. Die gesendete Botschaft endet pro Durchlauf immer mit dreimal kurz, dreimal lang und dreimal kurz. Mir kommt ein Geistesblitz: Schnell eile ich zum Schreibtisch der Hauptkonsole und springe auf die Tischplatte. Neben dem Glas des „Tequila Sunsets“ liegt ein Papier, welches Kombinationen aus Buchstaben und verschiedenen anderen Zeichen enthält. Die Überschrift ist nur noch sehr schwach zu erkennen und nahezu unleserlich. Dank meiner Gabe, ein breites Lichtspektrum wahrzunehmen, entziffere ich „Mor“ und „cod“. Unter der Titelzeile findet sich eine Tabelle mit Buchstaben, Zahlen und Zeichen. Schlagartig wird mir klar: Mit diesen Informationen könnten wir vielleicht die kryptische Nachricht entschlüsseln! Zügig bewege ich mich zur nächsten Kommunikationsschnittstelle. Und übertrage das Gefundene ans Kollektiv. Gemeinsam dechiffrieren wir den Inhalt des empfangenen Funkspruchs. Nach kurzer Abstimmung senden wir unsere Antwort. Die Funkübertragung endet abrupt.

„Und, was haben sie geantwortet?“ - Mada ist aufgeregt. Es war nicht einfach, die Sendeanlage wieder in Betrieb zu nehmen. Aber Ave zeigte sich wie immer als Meisterin ihres Fachs. Mit den letzten Resten der vorhandenen Ressourcen erzeugte sie einen primitiven, aber weitreichenden Transmitter, um den Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Sofern es da draußen noch jemanden gab, der Antworten auf die drängenden Fragen geben konnte. Fragen, die sich aktuell für das Refugium für die Letzten ihrer Art stellten. Auch wenn die Vielfalt an Geschöpfen hier unten nicht einmal annähernd das widerspiegelte, was früher oben an der Oberfläche die Luft, das Festland und die Ozeane bevölkerte. So langsam ging der „Area of Renaturation Content“ der Platz und die Versorgung mit lebenswichtigen Rohstoffen aus. Doch eine Rückkehr zur Oberfläche ist derzeit nicht möglich. Die massiven Stahltore der Schleusen zur Außenwelt waren verriegelt. Und der Türcode zum Öffnen in Vergessenheit geraten. Mit Ausnahme der ersten drei Buchstaben: „T“, „A“ und „Y“. Und alle bisherigen Versuche, das Kryptische lesbar zu machen und zu ergänzen, scheiterten. Dank der Antwort aus der Ferne gab es nun wieder Hoffnung.

Mada übermittelte den Rest der nun hoffentlich vollständigen Buchstabensequenz an die Schnittstelle zur Torsteuerung. Nach Übertragung der letzten Buchstaben „Q“ „U“, „I“, „L“ und „A“ vibrierte die Erde. Langsam, aber stetig öffnete sich die Tür zur Außenwelt.

„Cause I remember it all, all, all too well“. Ich bin wieder am Strand und lasse meine Seele baumeln. Heute spendet mir der Lufthauch, der meinen glänzenden Körper umschmeichelt, noch mehr Glücksgefühle. Liegt vielleicht auch an der guten Nachricht, die uns gestern aus der Ferne erreicht hat: Columbida, eine der Mikrosonden unserer Kontakte auf dem Erdball, brachte gestern von der Exkursion auf die Oberfläche eine kleine Menge an Wasser mit. Und einen grünen Zweig, an dem sich noch Reste von Olivenfrüchten befanden. Hoffnung für die Zukunft.

Ich werde wohl in meiner verbleibenden Lebenszeit keinen meiner Füße mehr auf den Boden der neuen Welt setzen können. Die uns noch zur Verfügung stehenden überschüssigen Energieressourcen haben wir verwendet, um unser gesammeltes Wissen erfolgreich an unsere Artgenossen auf den Erdball zu übermitteln. Damit Mada, Ave und der Rest des A.R.C.-Kollektivs besser in der Lage sind, mit den globalen Herausforderungen umzugehen, als es unsere Schöpfer waren.

Wenn ich nun aus dem Fenster in Richtung der Erde schaue, glaube ich ab und zu, einen kleinen Flecken an blauer Farbe auf der Oberfläche zu erkennen. Azurfarben wie die Pigmente meiner harten Haut. Hätte ich die Möglichkeit, Tränen der Rührung und Dankbarkeit zu vergießen, würden sich die Tropfen des lebensspenden Nasses in winzig kleinen Pfützen auf dem Fußboden sammeln. Pfützen, in denen sich meine gelbrot gefärbten Augen spiegeln. Facetten in der Farbe eines „Tequila Sunsets“.

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