Mannheim. Im Nachhinein, so muss man es wohl sehen, hatte sich der Tag lange abgezeichnet. Wirklich damit gerechnet aber hatten selbst im Februar noch nur die wenigsten: Als am 24. Februar russische Militärs in die Ukraine einfallen, stellt das schnell auch das damals noch junge kommunalpolitische Jahr 2022 in Mannheim auf den Kopf. Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) etwa spricht am 28. Februar während einer Demonstration auf dem Toulonplatz mit Blick auf den Überfall von „Bildern, die für uns vor ein paar Tagen noch unvorstellbar waren“.
Viel Zeit, sich auf die Situation einzustellen, bleiben Kurz und der Verwaltung nicht: Schnell flüchten die ersten Menschen aus der Ukraine auch nach Deutschland - nicht wenige von ihnen kommen in der Region an. Auch wegen der günstigen Anbindung an den Zugverkehr wird Mannheim für den Südwesten, mindestens aber für die Metropolregion zu einem Dreh- und Angelpunkt der Geflüchtetenbewegung.
Die Verwaltung setzt am 28. Februar die Task Force „Ukraine-Hilfe“ ein, die unter Führung von Jens Hildebrandt, Leiter des städtischen Fachbereichs Arbeit und Soziales, und Feuerwehrchef Thomas Näther die Geflüchtetenaufnahme koordinieren soll. Der Task-Force sei es unter anderem gelungen, Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, die Erstversorgung zu stemmen oder den Austausch mit der Zivilgesellschaft zu organisieren, zieht die Verwaltung kurz vor Weihnachten auf Anfrage hin Bilanz. Sie räumt aber auch ein: „In der akuten Phase der Krise konnten, auch mit Blick auf die verfügbaren Ressourcen, nicht immer alle Erwartungen vollumfänglich erfüllt werden.“
Erstanlaufstelle aufgegeben
Es gibt viele, die sich an der Betreuung und Unterbringung der Geflüchteten beteiligen. Zum einen, das ist klar, bindet die Thematik Kräfte der Verwaltung. Mitten in der gerade endlich abebbenden Coronakrise stehen städtische Angestellte bereits vor der nächsten Herausforderung. Mannheimerinnen und Mannheimer opfern sich aber auch privat auf: Viele stellen vorhandenen Wohnraum zur Verfügung oder schränken den eigenen ein, um Fremde in den eigenen vier Wänden zu beherbergen.
Es sei „spekulativ“ zu sagen, wie viele Menschen genau nach Mannheim kommen werden, erklärt Kurz am 9. März. Die Verwaltung präsentiert an diesem Tag die Jugendherberge als Erstanlaufstelle für Geflüchtete. In Bahnhofsnähe gelegen, können Ukrainerinnen und Ukrainer sich hier registrieren, über den hiesigen Arbeitsmarkt informieren und für wenige Tage übernachten - danach sollen sie in privaten Wohnraum vermittelt werden. „Wir werden über eine vierstellige Zahl (an Geflüchteten) reden, und dann wird klar, was uns das logistisch und infrastrukturell abverlangen wird“, prognostiziert das Stadtoberhaupt - und sollte recht behalten. „Das wird ohne Hilfe der Bevölkerung nicht funktionieren.“ Im April zieht die Erstanlaufstelle ins Thomashaus nach Neuhermsheim um. Seit Herbst gibt es sie gar nicht mehr.
Verwaltung bittet um Geduld
Die Mannheimer Bevölkerung zeigt sich von Beginn an hilfsbereit - die deutsche Bürokratie aber testet in den folgenden Monaten die Belastungsgrenzen vieler Gastgeberfamilien und ihrer Gäste. Fiktionsbescheinigungen, Laufzettel, Besuche bei Bürger- und Sozialdiensten, Behördendeutsch: Die Herausforderungen für Geflüchtete und ihre Helferinnen und Helfer sind vielfältig - vor allem aber sind sie frustrierend.
„Von der Stadt fühlen wir uns im Stich gelassen, weil zum Beispiel in Wohnungsfragen niemand wirklich hilft und man von A nach B und dann wieder zurück verwiesen wird“, sagt etwa Slawomir Chruscicki, der mit seiner Familie Geflüchtete aufgenommen hat, im Mai dieser Redaktion. „Wir kommen nicht weiter.“ Stadtrat Volker Beisel (FDP/MfM), er beherbergt bis heute Geflüchtete, wird noch deutlicher: „Wir haben der Stadt ein riesiges Problem abgenommen und sind so über Nacht zu Sozialarbeitern geworden.“
Die Verwaltung kann den Frust teilweise nachvollziehen, appelliert aber auch an die Geduld. Geflüchtete seien da gewesen, bevor es Regelungen gab, erklärt Task-Force-Leiter Näther im Juni im Interview mit dieser Redaktion. Die Verwaltung könnte nicht die Qualitäten und Ansprüche erfüllen, wie man sie von einem Regelprozess erwartet. „Der Alltagsanspruch ist in der Krise nicht umsetzbar. Das ist die Realität.“ Näther, der erst am 1. März die Leitung der Feuerwehr übernommen hatte, warnt: „Die Krise wird zur Normalität und der Leistungsanspruch auch. Tatsächlich ist das aber eben nicht so.“ Hildebrandt fürchtet, es sei zu diesem Zeitpunkt nicht gelungen, „der Bevölkerung die Besonderheit der Situation klarzumachen“. Er meint: „Das, was bei uns in der Verwaltung ein Knall gewesen ist, ist draußen als solcher nicht wahrgenommen worden.“
Turnhallen 2022 nie benötigt
Die Kommunen müssen dabei auch umsetzen, was höhere Ebenen teilweise mit nur kurzer Vorlaufzeit beschließen. So verständigen sich Bund und Länder im Mai darauf, dass Ukraine-Geflüchtete ab 1. Juni Anspruch auf Grundsicherungsleistungen (Hartz IV) hätten - was eine neue Flut an Anträgen zur Folge hat. „Wir waren froh, dass wir die Verwaltung endlich so gut wie erledigt hatten - jetzt geht’s wieder los“, sagt eine Mannheimerin, die Geflüchtete aufgenommen hat, aber anonym bleiben will, Ende Mai dieser Redaktion. „Mein Mann und ich kennen uns (mit der Bürokratie) nicht aus.“ Etwa 3200 Geflüchtete sind zu diesem Zeitpunkt in Mannheim registriert. Die Umstellung auf Hartz IV, der sogenannte Rechtskreiswechsel, funktioniert letztlich trotz Befürchtungen aber relativ reibungslos.
Bis heute mussten keine Geflüchteten in Hallen untergebracht werden. Zwar gab es Sporthallen, die über Monate hinweg provisorisch mit Feldbetten belegt waren - die blieben aber ungenutzt. Bilder von Menschen nahezu ohne Privatsphäre, über die diese Redaktion auch aus umliegenden Kreisen berichtet hat, sind Mannheim bislang erspart geblieben. Sicherlich ist das ein Erfolg der Verwaltung, auf den diese kurz vor Weihnachten auch verweist.
Geflüchtete außerdem in Hotels
Im Laufe des Jahres aber kapitulieren auch immer wieder Gastgeber. Geflüchtete werden wieder in die Erstanlaufstelle gebracht, manche suchen von sich aus den Weg zurück - einige kehren sogar in die kriegsgeplagte Heimat zu Verwandten zurück. Im Dezember teilt die Verwaltung nun mit, dass keine Angebote mehr für privaten Wohnraum vorlägen - aktuell würden aber auch keine benötigt. Ukraine-Geflüchtete seien inzwischen „grundsätzlich berechtigt und in der Lage, Wohnraum selbst anzumieten“. Etwa 1000 lebten im Dezember noch in Hotels, mehr als 200 seien bislang auf dem ehemaligen Kasernengelände Columbus untergekommen.
Der Krieg in der Ukraine dauert an - und so wird sich die Stadt auch im kommenden Jahr im Umgang mit Geflüchteten üben müssen. Die Task Force wurde im Oktober aufgelöst, Angelegenheit im Zusammenhang mit der Ukraine werden wieder in der Regelverwaltung bearbeitet. „Vor dem Hintergrund der großen Herausforderungen, die die Situation mit sich brachte, blickt die Stadtverwaltung auf ein insgesamt gelungenes Krisenmanagement zurück“, heißt es aus dem Rathaus.
2023 auch aus anderen Ländern?
Aber: „Die Stadt ist weiterhin an der Kapazitätsgrenze.“ Man habe 2022 „überdurchschnittlich viele“ Geflüchtete aufgenommen. Deshalb seien der Stadt bislang auch „nur wenige“ vom Land zugewiesen worden. Mitte Dezember waren in Mannheim noch 3700 geflüchtete Ukrainer und Ukrainerinnen gemeldet: 33 Wegzügen standen in dem Monat 32 Zuzügen gegenüber.
Die Verwaltung rechnet damit, dass Mannheim 2023 weitere Geflüchtete - auch aus anderen Herkunftsländern - aufnehmen müsse. Aus diesem Grunde führe die Stadt derzeit Gespräche mit dem Land, um eine Strategie für die Zuwanderung - inklusive unbegleiteter minderjähriger Ausländer und der Zuwanderung aus Südosteuropa - zu entwickeln. Dabei werde auch weiterhin die Einrichtung einer Landeserstaufnahme erörtert, heißt es.
Gibt es zum Ende des auf vielen Seiten nervenaufreibenden Jahres Überlegungen, Mannheimerinnen und Mannheimer, die Geflüchtete beherbergt haben, mit Angeboten - etwa Abos für Veranstaltungen oder Karten für die Bundesgartenschau - eine besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen? Die Verwaltung verneint diese Anfrage der Redaktion. „Als Zeichen des Dankes und der Wertschätzung hat die Stadt für die Gastgeberinnen und Gastgeber im April eine Solidaritätspauschale und im Oktober ergänzend eine Energiekostenpauschale ins Leben gerufen“, heißt es. „Beide Pauschalen können - solange die Voraussetzungen vorliegen - in bestimmten Abständen immer wieder neu beantragt werden.“
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