Mannheim. Als Leiter der städtischen Ukraine-Taskforce sind Thomas Näther und Jens Hildebrandt maßgeblich für die Koordination der Geflüchteten verantwortlich. Sie sprechen über Strategien, Hallenbelegung, das Thomashaus und den Unterschied zwischen Erwartung und Wirklichkeit.
Herr Näther, Herr Hildebrandt, seit mehr als drei Monaten kommen Geflüchtete nach Mannheim. Wie ist die Situation?
Thomas Näther: Wie überall haben wir noch einen konstanten Zuzug an Menschen, die ankommen - zurzeit etwa 20 bis 30 Personen am Tag. Das ist nicht die Zahl, die am Thomashaus ankommt, sondern die, die von allen Bürgerservices erfasst wird. Was die Zahl der registrierten Geflüchteten betrifft, liegt Mannheim oberhalb des uns zugewiesenen Königsteiner Schlüssels. Wir sollen 2,79 Prozent aller in Baden-Württemberg ankommenden registrierten Geflüchtete aufnehmen und liegen bei etwa 3,3 Prozent.
Jens Hildebrandt: Es gibt eine Grundattraktivität nach Mannheim zu kommen: Die Stadt hat eine tolerante Struktur und eine Bevölkerung, die nicht ablehnend, sondern zugänglich ist. Wir gehören zu den fünf Städten im Land, die die meisten Menschen aufgenommen haben: Vor uns sind Baden-Baden, das eine Sondersituation hat, und Rastatt, das bei Baden-Baden liegt. Stuttgart ist vor uns, ein absoluter Knotenpunkt der ICE-Süd- und Nordlinie. Und noch ist auch der Stadtkreis Karlsruhe mit einer Landeserstaufnahme und ICE-Anbindung vor uns.
Was prognostizieren Sie für die nächsten Wochen?
Näther: Das ist schwer. Am Anfang sind 200 bis 300 Personen am Tag gekommen, was unsere Ressourcen überlastet hat. Deshalb haben wir ein Ankunftszentrum geschaffen. Wir wissen nicht, wie sich der Krieg entwickelt. Wenn dauerhaft mehr Menschen ankommen, das heißt, wenn die Zahl um etwa 50 am Tag steigt, wird uns das schlagartig überlasten, weil wir schon jetzt weit über die bestehenden Strukturen hinaus sind. Für den Fall, dass dauerhaft mehr Menschen kämen, haben wir noch Hallen,in denen wir Hunderte Menschen unterbringen könnten.
Ukraine-Taskforce
- Thomas Näther und Jens Hildebrandt leiten die städtische Ukraine-Taskforce.
- Hildebrandt leitet den Fachbereich Arbeit und Soziales. Zuvor war er unter anderem Geschäftsführer der Jobcenter sowie Leiter Wohnraumversorgung, Flüchtlinge, Wohngeld und Wohnungslosenhilfe.
- Näther ist seit 1. März Leiter der Feuerwehr Mannheim.
Die Hallen sind schon angemietet, stehen aber seit Monaten leer.
Näther: Wir müssten die Hallen aus dem Stand-by aktivieren. Dafür benötigen wir 24 Stunden. Sonst müssten Menschen in der Alarmierungskette warten. Das lässt sich mit dem hochüberlasteten Ehrenamt, dem wir darüber hinaus sehr dankbar sind, nicht machen. Wir sehen uns für den Fall, dass die Lage dauerhaft schlimmer werden sollte, gut aufgestellt. Uns ist bewusst, dass Hallen eigentlich für etwas Anderes vorgesehen sind. Wir benötigen sie aber. Das Problem für das Krisenmanagement ist,dass wir beim Krieg, anders als bei Flutkatastrophen wie im Ahrtal, nicht prognostizieren können, wann die Lage besser wird. Auf den Krieg können wir als Verwaltung keinen Einfluss nehmen, sondern nur auf seine Auswirkungen reagieren.
Wie zufrieden sind Sie mit der bisherigen Taskforce-Arbeit - und wo sehen Sie Verbesserungsbedarf?
Näther: Wir sind sehr zufrieden. Es ist uns mit hohen Aufwand schnell gelungen, zu erfahren, wo Geflüchtete Unterstützung brauchen und wie wir die leisten können. Natürlich gibt es in Krisensituationen immer einen Unterschied zwischen Erwartung und Realität. Wir mussten priorisieren, welche Probleme am wichtigsten sind und welche wir erstmal hinten anstellen müssen. Deshalb haben wir gewisse Dinge nicht so schnell und nicht in der Qualität angehen können wie sich das viele gewünscht haben. Geflüchtete waren da, bevor es Regelungen gab. Auch wenn der Krieg seit Monaten anhält: Wir sind noch immer in einer Sonderstruktur. Wir können nicht die Qualitäten und Ansprüche erfüllen, wie man sie von einem Regelprozess in der Verwaltung erwarten kann. Der Alltagsanspruch ist in der Krise nicht umsetzbar. Das ist die Realität.
Hildebrandt: Wir haben den Geflüchteten signalisiert: „Ihr seid willkommen.“ Die Jugendherberge und das Thomashaus sind dafür passende Orte. Niemand muss in Hallen ohne Privatsphäre in Stockbetten schlafen. Das ist in anderen Städten und Kreisen anders. Strukturen in der Verwaltung sind chronisch überlastet, das war schon vor dem Krieg so. Wir haben es aber geschafft, dass Strukturen weiterhin funktionieren. Ich glaube aber, es ist nicht gelungen, der Bevölkerung die Dringlichkeit und die Besonderheit der Situation frühzeitig klarzumachen. Das, was bei uns in der Verwaltung ein Knall gewesen ist, ist draußen als solcher nicht wahrgenommen worden. Ungeachtet des eindringlichen Appells des Oberbürgermeisters ist es nicht gelungen, zu zeigen, was der Krieg für uns als Gesellschaft bedeutet. Das baut sich jetzt erst langsam auf. Wir haben eine hohe Solidarität in der Mannheimer Gesellschaft, aber den Aufwand, den auch wir investieren, zu zeigen und zu übertragen, ist nicht gelungen. Über allem steht für mich aber das würdevolle Ankommen - daran haben viele mitgewirkt. Vor allem die Ehrenamtlichen haben hier sehr viel geleistet.
Es hat am Dienstag, Mittwoch und Donnerstag Verwirrungen ums Thomashaus gegeben: Ist das Haus aufnahmebereit oder geschlossen?
Hildebrandt: Es gibt Zeiten, in denen das Haus voll ist und danach gibt es wieder Zeiten, in denen Kapazitäten frei sind. Das kann sich kurzfristig ändern und das haben wir in der Vergangenheit immer mal wieder gehabt. Bei der Quote, die wir haben, ist das nicht verwunderlich.
Die Verwirrung ist auch entstanden, weil Oberbürgermeister Peter Kurz am Dienstag im Gemeinderat öffentlich gesagt hat, man habe im Thomashaus zwar eine hohe Belegung, die streckenweise aber sogar noch höher gewesen ist. Just in dieser Zeit gab es das Schild vor dem Haus, auf dem stand, das Haus sei voll. Das kommt in einer so hochsensiblen und emotionalen Situation in der Öffentlichkeit merkwürdig an und wirft Fragen auf. War der Oberbürgermeister schlecht informiert oder worauf ist die Verwirrung zurückzuführen?
Hildebrandt: Ich war in der öffentlichen Sitzung und habe alle die Fachverwaltung betreffenden Fragen beantwortet. Ich habe nicht gewusst, dass das Schild dort steht und den Oberbürgermeister deshalb nicht informieren können. Es gibt eben auch mal kurzfristig viel Zulauf. Außerdem hat die Arbeit im Haus eine neue Dimension bekommen.
Welche?
Hildebrandt: Wir nehmen nicht nur Menschen auf, sondern müssen sie auch beraten, dass wir sie nicht beherbergen können, weil sie bereits woanders gemeldet sind. Das macht bei der Beratung mittlerweile 50 Prozent aus. Wir lassen Menschen zum Teil auch ein bis zwei Nächte übernachten, weil sie nicht aus Ludwigshafen oder Hessen, sondern von weiter her kommen. Wir haben erst seit Kurzem diese Wohnsitzauflage.
In den vergangenen Tagen kam auch, etwa in einer Antwort der Verwaltung auf Anfrage dieser Redaktion, auf, dass Mannheim viele Geflüchtete aufnimmt - aber auch am Hauptbahnhof abweist, wenn Kapazitäten ausgelastet sind. Im Gemeinderat wurde darüber nie gesprochen. Warum nicht?
Hildebrandt: Es gibt aus Rechtssicht zunächst eine Aufnahmebehörde im Land: die Landeserstaufnahmestelle. Die ist für die Verteilung zuständig. Wegen des Aufenthaltstitels oder dem Visum, das die Menschen haben, gibt es aber eine generelle Freizügigkeit. Das Land hat darauf erst seit Kurzem durch die Wohnsitzauflage reagiert. Für uns als Stadt war die zentrale Aussage immer: Wir nehmen weit über dem auf, was andere machen. Wir helfen qualitativ hochwertig - wenn wir können. Wenn wir das mal nicht können oder wenn Gruppen von 20 bis 30 Personen kommen, dann bitten wir, die Verteilung über die Landeserstaufnahme zu regeln. Wir müssen manchmal eben sagen: ,Sorry, das packt Mannheim im Moment nicht.’ Ich denke, wir haben immer glaubhaft gemacht, dass wir weit mehr Menschen aufgenommen haben als andere, und wir haben auch deshalb nicht die Notwendigkeit der Kommunikation gesehen, wenn es mal nicht geht. Aber wir werden in Zukunft hierzu eine entsprechende Rückmeldung an die Gremien geben. Meine Wahrnehmung ist, dass wir hilfsbereit sind, aber auch darauf achten müssen, von anderen nicht ausgenutzt zu werden.
Näther: Bei dem Punkt sind wir wieder bei der Frage, was tatsächlich realistisch ist und was wir erreichen können. Diese Antworten liegen in einer Sondersituation eben niedriger als der Anspruch und als das, was für die Regelverwaltung möglich ist. Das ist schwer zu kommunizieren, weil die Botschaft ,Wir nehmen uns dem zusätzlich an, werden aber nicht die gewohnten Qualitäten erreichen’ nicht das ist, was die Bevölkerung gerne hört. Man hört den ersten Teil des Satzes, aber überhört, wie er endet. Und natürlich wollen auch wir die Botschaft ungern senden. Wir wollen ja motivieren, sich einzubringen. Je länger eine Krisenlage andauert, umso schwieriger wird die Kommunikation. Beim Krieg, so blöd das klingt, ist nach mehr als drei Monaten eine unterbewusste und ungewollte Akzeptanz eingetreten. Man merkt, dass sich die Anspruchshaltung in Richtung Regelhaftigkeit verschiebt: Die Krise wird zur Normalität und der Leistungsanspruch auch. Tatsächlich ist das aber eben nicht so.
Hildebrandt: Natürlich gibt es für absolute Versorgungsnotfälle immer ein Zimmer. Wir werden nachts eine Mutter mit zwei Kindern und Tier nicht wegschicken. Das haben wir organisiert. Aber es wird immer den einen oder anderen Tag geben, an dem wir sagen müssen: ,Jetzt gehts gerade einfach nicht.’
Herr Hildebrandt, Sie haben am Dienstag im Gemeinderat erklärt, dass noch etwa 500 Geflüchtete keinen Antrag auf Sozialleistungen gestellt haben. Wie ist der momentane Stand und wie bewerten Sie den Rechtskreiswechsel?
Hildebrandt: Bis Mittwochabend sind 937 Anträge eingegangen. Wir rechnen bislang mit 1100 bis 1200 Anträgen. Da sind seit der Gemeinderatssitzung also noch einige Anträge gestellt worden. Der Rechtskreiswechsel war eine gute Entscheidung, weil meine zweieinhalb bis drei Stellen beim Asylbewerberleistungsgesetz, die einen tollen Job gemacht haben, entlastet worden sind. Es war eine Fehleinschätzung des Bundes, dass der Krieg schnell vorbei sei und Geflüchtete deshalb nach dem Asylbewerberleistungsgesetz behandelt werden sollten.
Was passiert, wenn Unterlagen nicht vollständig sind?
Hildebrandt: Es ist mir extrem wichtig: Wir werden niemanden von Leistungen ausschließen. Auch wenn Fiktionsbescheinigungen fehlen sollten, die der Bund als Voraussetzung definiert hat, können Menschen in Mannheim im Jobcenter Anträge stellen. Auch wenn es Probleme mit der Ummeldung gegeben hat, können Menschen Anträge stellen. Sie werden die Leistungen bekommen. Generell haben wir aber den Eindruck, dass die Menschen gut vorbereitet sind: Mehr als 900 Geflüchtete haben alle Voraussetzungen mitgebracht, dass wir sie unmittelbar in Leistungsbezug bringen können und nicht eine Barauszahlung anweisen müssen.
Wissen Sie, wer die Menschen sind, die noch keine Anträge gestellt haben? Leben die in Gastfamilien oder in eigenen Wohnungen beziehungsweise in Hotels?
Hildebrandt: Das können wir nicht sagen. Wir haben natürlich die Hotels informiert und angeschrieben. Informationen gibt es auch auf unserer Webseite. Die hohe Antragsquote spricht dafür, dass wir nicht nur Geflüchtete in Familien, sondern auch andere erreicht haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch nicht jeder Geflüchtete in materieller Not ist: Manche sind nicht mit dem Zug, sondern mit dem Auto gekommen und auch in der Ukraine sind die Vermögensverhältnisse gespalten. Für die ganz große Mehrheit ist diese Not aber da.
Zum Schluss: Gibt es noch genug Familien, die sich jetzt erst dazu entschließen, sich als Gastfamilie anzubieten oder die ihren Wohnraum zur Verfügung stellen?
Hildebrandt: Ja. Und ich gebe zu, dass ich das nicht erwartet hatte. Es gibt bei Familien, die schon Geflüchtete aufgenommen haben, auch Probleme. Das darf man nicht verschweigen. Wir haben Angebote geschaffen, wo man Probleme platzieren oder über sie sprechen kann, beispielsweise die Stammtische, an denen jetzt auch Geflüchtete teilnehmen können, oder das Café Czernowitz. Wir werden Menschen nicht alleine lassen und schauen nach Lösungen. Dass die sofort passen, können wir aber nicht versprechen. Wir sind in einer Notsituation.
Näther: Es ist unglaublich, wie die Bevölkerung die Situation mitträgt und unterstützt. Man darf aber zum Beispiel bei der Frage nach Wohnraum auch nicht vergessen, dass der Mannheimer Wohnungsmarkt vor dem Krieg schon angespannt gewesen ist.
Hildebrandt: Man sollte auch nicht vergessen, dass es auch Erfolgsgeschichten gibt. Auch der „Mannheimer Morgen“ hat schon Familien porträtiert, die davon sprechen, dass das, was sie erleben, außergewöhnlich positiv ist. Ich wünsche mir, dass diese Solidarität etwas ist, was bleibt, wenn der Krieg und diese Katastrophe, die wir erleben, vorbei ist. Der Krieg in Europa hat unmittelbare Auswirkungen auf Deutschland und auf Mannheim. Mit denen werden wir noch lange leben müssen. Das muss uns allen klar werden. Es ist normal, dass nach der ersten Phase nun kritische Stimmen kommen, das muss auch sein. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir das schaffen.
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