„Eindrücklich“ und „schwer“ - so beschreibt Alexander Moldavski das, was ihm einer seiner Patienten erzählt habe. Der habe zwei Monate lang den Bombenhagel in Mariupol „ausgehalten“, sei zwei Tage bewusstlos unter Trümmern gelegen, ehe ihm die Flucht gelungen sei. In Mannheim wendet er sich Monate später ans ZI, um über seine Posttraumatische Belastungsstörung zu sprechen.
Zusammen mit Mahmud Ben Dau und Dimitri Hefter arbeitet Moldavski in der Geflüchtetenambulanz des Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI). Dass zwischen Ankunft und Ausbruch der Symptome Wochen vergehen, sei nicht ungewöhnlich. „Wenn Menschen ankommen, brauchen sie Zeit, um zu begreifen, dass sie in Sicherheit sind“, erklärt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Erst danach kann es dazu kommen, dass Symptome ausbrechen.“ Deshalb fürchtet Moldavski auch, dass es in den kommenden Monaten vermehrt zu solchen Belastungsstörungen kommt. „Was Nachrichten über Mariupol zeigen, kann nur einen Teil von dem abbilden, was Menschen dort tatsächlich erleben.“
Mehr als fünf Monate sind vergangenen, seit Russland die Ukraine überfallen hat. Tausende Menschen sind auch nach Mannheim geflüchtet. Die Anlaufstelle am ZI haben bislang nur wenige aufgesucht. „Wenn man sich Zahlen von psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung anschaut, hätten wir eine viel höhere Rate an psychischen Problemen unter Geflüchteten erwartet“, sagt Hefter, Arzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am ZI.
Gründe für die unerwartet wenigen ukrainischen Patientinnen und Patienten gebe es viele. Der Umgang mit psychischen Erkrankungen etwa unterscheide sich in Deutschland und Osteuropa erheblich. „Die Stigmatisierung ist schon in Deutschland ein Problem, in Osteuropa aber noch viel höher“, erklärt Hefter. Zudem wüssten viele nicht, dass es die Ambulanz gebe - obwohl das Angebot niedrigschwellig sei. „Man muss nicht anrufen, sondern kann uns eine Mail schreiben“, sagt Hefter. An zentralambulanz@zi-mannheim.de könnten sich Geflüchtete sogar in ihrer Muttersprache wenden. „Wir haben Ansprechpartner, die übersetzen und einen Termin vereinbaren“, sagt Moldavski. In Notfällen könne man den Notdienst auch sofort aufsuchen, in anderen Fällen bekomme man in ein bis zwei Wochen einen Termin. „Das ist deutlich schneller als bei niedergelassenen Psychologen oder Psychiatern.“
Vor allem Angststörungen, Psychosen, Depressionen oder belastungs- und traumaassoziierte Störungen würden behandelt. „Am Anfang des Kriegs haben wir viele Menschen mit chronischen, schweren psychischen Erkrankungen gehabt, die akut Medikamente und Hilfe gebraucht haben“, erklärt Hefter. „Inzwischen sind Erkrankungen belastungsorientierter, wie zum Beispiel Depressionen, die eher eine längerfristige als eine akute Behandlung benötigen.“
Kontakt zur Ambulanz
- Die Geflüchtetenambulanz kann kontaktiert werden
- per Telefon (Deutsch und Englisch): 0621/17032850
- per Mail, in jeder Sprache: zentralambulanz@zi-mannheim.de
„Lebensqualität gewinnen“
Die Geflüchtetenambulanz hat es bereits 2015 gegeben - damals waren Hunderttausende vor allem aus Syrien nach Deutschland geflohen. Das ZI stellt nun Unterschiede fest. So seien Geflüchtete 2015 in Landeserstaufnahmeeinrichtungen gekommen. „Dort sind Jugendliche und Erwachsene systematisch von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern betreut worden“, erklärt Ben Dau, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Geflüchtete aus der Ukraine lebten dagegen in Gastfamilien, Hotels oder selbst organisierten Unterkünften. „Es fehlt teilweise die organisierte Unterstützung, und viele Geflüchtete sind mit ihren Problemen etwas verloren.“ Das Gefühl der Überforderung entwickle sich so stärker. Ein weiterer Unterschied: Anders als 2015 seien durch Substanzmittel hervorgerufene Probleme aktuell kaum ein Thema, sagt Hefter, der auf die unterschiedliche Demografien der Gruppen - 2015 vor allem junge Männer, aktuell Mütter und Kinder - verweist.
Moldavski, Ben Dau und Hefter weisen auf die Dringlichkeit präventiver Angebote hin. Gerade weil sich der Krieg in der Ukraine in einer vergleichsweise kurzen Zeit entwickelt habe, hätten sich auch Traumata im Vergleich zu 2015 akut entwickelt. „Der Großteil der Menschen, die wir sehen, kommt aus behüteten Verhältnissen in einem entwickelten Land, das jetzt zerstört wird“, sagt Hefter. Gerade aber akut traumatisierte Mütter und junge Erwachsene könnten niederschwellige Angebote auffangen. „Wir können möglicherweise 50 oder 60 Krankheitsjahre vermeiden und extrem viel Lebensqualität gewinnen“, sagt der Mediziner und rät: „Für alle Menschen gilt: Lieber kontaktiert man uns ein Mal zu viel, als dass man etwas übersieht, was sich in eine chronifizierte psychische Erkrankung entwickelt.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Geflüchtetenambulanz am Mannheimer ZI: Hilfe darf und muss angenommen werden!