Mannheim. In der Jugendherberge auf dem Lindenhof hat die Stadt Mannheim ihre Erstaufnahmestelle für ukrainische Geflüchtete eingerichtet. Täglich kommen hier 50 bis 100 Menschen an. Ziel ist es, sie möglichst schnell weiter zu vermitteln.
Im Kofferraum ist das, was von ihrem Leben in der Ukraine geblieben ist: Plastiktüten und Säcke mit Kleidung. Yaroslay kramt in einer Tüte, holt eine kurze Hose hervor und reicht sie Stas. Die zwei Familien haben sich auf der Flucht an der polnischen Grenze kennengelernt. Stas und seine Familie, zu der noch zwei Kinder im Alter von 16 und acht gehören, war mit dem Zug unterwegs, Yaroslay, seine Frau Evgeniya sowie die zwei Kinder, elf und zwölf Jahre alt, im Auto. Stas hat ihnen erzählt, er will nach Mannheim. „Das hörte sich gut an, also sind wir auch nach Mannheim gekommen“, erzählt Evgeniya.
Jetzt stehen sie gemeinsam vor der Jugendherberge am Rhein, und Stas bekommt eine kurze Hose von Yaroslay. Sie hätten ja nur warme Kleidung eingepackt, als sie flohen, erzählen sie, Stas aus Mariupol, Yaroslay aus Kiew. Wie es ihnen geht? „Hier ist es ruhig, nichts explodiert“, sagen sie. Sieben Tage hätten sie sich im Keller ihres Hauses versteckt, dann konnten sie es nicht mehr aushalten, sagt Evgeniya. Sie ist Frisörin, ihr Mann IT-Experte, in Kiew hatten sie ein Haus und zwei Apartments. Stas ist Landwirt, sein Hof hat 150 Hektar. Die Kinder sagen, sie wollen nach Hause, doch Evgeniya und Yaroslay meinen: „Wir müssen schauen, was am Ende übrig bleibt.“
Hier, in der Jugendherberge, wird erst einmal ein Anfang gemacht – und den versucht die Stadt Mannheim so einfach wie möglich zu gestalten. Seit knapp vier Wochen ist die Jugendherberge Erstaufnahmestelle für ukrainische Vertriebene. Das klingt bürokratisch und ist es gewissermaßen auch, denn hier sollen die Menschen ankommen, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Sieben Stationen ebnen Weg in neues Land
„Das ist unser kleines Rathaus“, sagt Jens Hildebrandt, seit knapp einem Jahr Leiter des Fachbereichs Arbeit und Soziales. Zusammen mit dem Amt für Feuerwehr und Katastrophenschutz bildet Hildebrandts Fachbereich die neu gegründete „Taskforce Flüchtlinge“. Koordinatorin in der Erstaufnahmestelle ist Claudia Möller. „Wer hier rauskommt, kommt erst einmal klar“, sagt sie. Sieben Stationen ebnen den Weg in das Leben in einem neuen Land, und sei dies auch nur vorübergehend. „Die Menschen sollen bleiben können, und wir sorgen dafür, dass das geht“, sagt Hildebrandt und betont, dass diese Form der Anlaufstelle einmalig sei. „Wir bündeln Hilfe dort, wo Menschen sie brauchen.“
Bewegungsfreiheit in der EU
- Laut offiziellen Zahlen sind bereits mehr als 2000 geflüchtete Ukrainer in Mannheim.
- In ganz Baden-Württemberg halten sich laut Schätzungen des Justizministeriums 35 000 Geflüchtete auf.
- Unabhängig vom Krieg in der Ukraine dürfen sich Ukrainerinnen und Ukrainer mit einem biometrischen Pass 90 Tage lang frei in der EU aufhalten und bewegen. Sie müssen sich bei keiner Behörde melden. Mit Kriegsbeginn wurde diese Frist auf 180 Tage verlängert. Seitdem gilt auch für Menschen ohne biometrischen Pass eine Ausnahme – sie dürfen sich bis 23. Mai visumfrei in Deutschland bewegen. Das Gleiche gilt für Menschen ohne ukrainischen Pass, die aber vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine rechtmäßig dort gelebt haben, etwa mit einem Visum für Studierende oder durch einen nationalen Schutzstatus.
- Anfang März wurde außerdem zum ersten Mal die Massenzustrom-Richtlinie der Europäischen Union aktiviert. Diese wurde 2001 als Reaktion auf die großen Flüchtlingsbewegungen durch den Jugoslawienkrieg in den 1990er Jahren beschlossen. Sie ermöglicht temporäre Aufnahmen von Flüchtlingen von bis zu drei Jahren, ohne dass diese aufwendige Asylverfahren durchlaufen müssen. sba
Los geht es mit einem Corona-Schnelltest, von da aus weiter zur Willkommensstation, wo die Namen aller Familienmitglieder auf einem Laufzettel notiert werden. Station drei ist das Rote Kreuz, das die Daten aller Geflüchteten aufnimmt, um Familien, die der Krieg auseinanderreißt, später wieder zusammenführen zu können. Es folgt die amtliche Registrierung, so sind die Geflüchteten offiziell in Mannheim als wohnhaft gemeldet.
Um Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung geht es bei der Sozialberatung im Pavillon der Jugendherberge. Die Aktivierung der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie durch die Europäische Union hat die Integration der ukrainischen Geflüchteten extrem vereinfacht. Statt langwierige Asylverfahren zu durchlaufen, erhalten sie „vorübergehenden Schutz“ und damit automatisch einen Aufenthaltstitel. Leistungen zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts sind ihnen damit ebenso sicher wie Möglichkeiten, sich Arbeit zu suchen. Deshalb wurde im Pavillon auch gleich eine Jobbörse eingerichtet. Daneben werden die Menschen ärztlich versorgt, und wer will, kann sich gegen Corona impfen lassen – was viele wollen, die Impfquote in der Ukraine ist niedrig.
Maximal 48 Stunden in der Jugendherberge
Lange bleiben soll jedoch niemand in der Jugendherberge. „Nach maximal 48 Stunden sollen die Menschen weitervermittelt werden“, sagt Möller. Sie ziehen dann in ein Hotel oder ins Studentenwohnheim, wo die Stadt Zimmer gemietet hat, oder sie kommen privat unter. Täglich registrieren sich 50 bis 100 Kriegsflüchtlinge neu in der Willkommensstation. Offiziellen Zahlen zufolge sind bereits über 2000 Geflüchtete in Mannheim, Platz ist in der Jugendherberge für maximal 230. Wenn alle Zimmer belegt sind, dient die Lilli-Gräber-Halle in Friedrichsfeld als Ausweichquartier. Bislang wurde die jedoch nicht gebraucht.

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Zuständig für die Wohnraumvermittlung ist die GBG, die Mannheimer Wohnungsbaugesellschaft, sowie die Wohnraumsicherung der Stadt. 180 private Haushalte haben sich bislang bereit erklärt, geflüchtete Familien aufzunehmen. „Im Schnitt sind das pro Haushalt drei Personen“, so Möller. Wer kostenlosen Wohnraum zur Verfügung stellen will, kann sich über ein Formular auf der Website der Stadt melden. GBG und Wohnraumservice nehmen dann Kontakt auf und führen die Familien zusammen. Zunächst in der Jugendherberge, es findet ein Kennenlerngespräch statt, und wenn das Angebot für beide Seiten passt, können die Familien umziehen.
Auch Natascha hofft, bald eine Bleibe zu finden. Ihr 13-jähriger Sohn ist Autist. „Er muss zur Ruhe kommen“, sagt sie. Nikita spreche verschiedene Sprachen, Ukrainisch, Englisch, Französisch – und bald bestimmt auch Deutsch. Außerdem könne er gut singen. Ewgenij, der Vater, zeigt auf einem Tablet ein Video. „Das war bei einem Gesangswettbewerb in Kiew“, erzählen die Eltern. Sie seien dankbar, hier zu sein. „Wir hoffen, dass wir auch etwas zurückgeben können.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie: Einmalige Chance