Mannheim. Ein Polizist hockt auf einem Mann und schlägt auf seinen Kopf ein. Kurz darauf ist der psychisch kranke Mann tot. Jetzt wird ermittelt. Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes sieht in dem Fall ein generelles Polizeiproblem. Beim Umgang mit psychisch Kranken werde regelmäßig falsch gehandelt.
Herr Professor Feltes, wie beurteilen Sie die Bilder aus Mannheim?
Thomas Feltes: Der Einsatz selbst war in meinen Augen unverhältnismäßig. Schläge ins Gesicht sind zulässig bei einer Person, die steht, um sie kurzfristig zu irritieren und dann festzunehmen. Da ist die Gefahr gering, dass der Kopf irgendwo dagegen schlägt. Hier lag die Person am Boden. Zwei schwere Faustschläge ins Gesicht – die Wirkung hat man gesehen – können massive Folgen haben: Schädelhirnprellung, schwere Gehirnerschütterung.
Im vorliegenden Fall handelte es sich um eine psychisch kranke Person…
Feltes: …und die Polizei wusste das. Das macht den Fall für mich fast unfassbar. Der Polizeibeamte sollte in solchen Fällen wissen, dass die Person auf bestimmte polizeiliche Maßnahmen anders reagiert als andere Menschen.
Nämlich?
Feltes: Sie reagiert nicht auf entsprechende Anweisungen. Sie empfindet polizeiliche Maßnahmen als unmittelbaren Angriff, gegen den man sich wehren muss. Auch ist die Gefahr des lagebedingten Erstickungstodes bei psychisch Kranken größer, weil sie in der Bauchlage häufig in Panik geraten. Ich verstehe nicht, warum der Arzt, der die Polizei gerufen hat, nicht selbst vor Ort war und nicht dafür gesorgt hat, dass sorgsam vorgegangen wird. Das muss in meinen Augen dringend aufgeklärt werden. Ich habe auch bisher keine Stellungnahme des Mannheimer Psychiatrischen Zentralinstituts dazu vernommen, von wo der Patient kam.
Ist es eine häufige Konstellation, dass polizeiliche Zwangsmaßnahmen ausgerechnet bei psychisch Kranken eskalieren?
Feltes: In drei von vier Fällen, in denen ein Mensch nach einer polizeilichen Maßnahme stirbt, ist die Person psychisch gestört gewesen. Das ist meine Schätzung. Die offiziellen Zahlen liegen etwas darunter, aber es wird auch nicht immer erfasst. Die Problematik besteht darin, dass es für Polizeibeamte häufig schwierig ist, die psychische Störung zu erkennen.
Zur Person
- Thomas Feltes (71) lehrte bis 2019 Kriminologie an der Ruhruniversität Bochum.
- Zuvor war der Jurist zehn Jahre Rektor an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen.
Das war in Mannheim ja nicht das Problem.
Feltes: Richtig, aber die Beamten wissen auch häufig nicht genau, wie sie mit solchen Personen umgehen sollen. Sie haben das möglicherweise in der Ausbildung in einer kurzen Lehrsequenz behandelt. Aber das liegt mindestens drei bis vier Jahre, manchmal auch 30 bis 40 Jahre zurück. Da kann man nicht erwarten, dass das in einer solchen Situation abgerufen wird. Wir bräuchten da ständige Nachschulungen.
Wie würden sich Polizisten in solchen Situationen richtig verhalten?
Feltes: Das kommt darauf an, ob von der Person eine Gefahr ausgeht, ob sie ein Messer oder gar eine Schusswaffe in der Hand hält und damit unmittelbar andere oder auch sich selbst bedroht. Dann muss sofort reagiert werden bis hin zum Schusswaffeneinsatz. Wenn die Person aber nur stört, irritiert durch die Gegend läuft, dann muss die Polizei sich zurückhalten. Sonst könnte sich die Person bedroht fühlen und in den Angriffsmodus gehen. Dann gilt wegbleiben, sichern, Hilfe holen, zum Beispiel einen Psychiater.
Jetzt ist viel von Tasern die Rede. Bräuchten die Polizisten eine andere Bewaffnung?
Feltes: Nein, Taser sind gerade bei psychisch kranken Menschen kontraindiziert. Die Nebenwirkungen sind erheblich, weil psychisch Kranke häufig auch unter anderen gesundheitlichen Problemen wie Herz-Kreislauf-Schwäche leiden. Auch Pfefferspray ist ungeeignet. Es erhöht nur die Aggressivität.
Zehn Menschen starben in den vergangenen fünf Jahren in Baden-Württemberg nach Polizeieinsätzen. Das Innenministerium konnte auf Anfrage nicht sagen, wie viele davon psychisch krank waren. Dies werde nicht erfasst. Haben die Sicherheitsbehörden das Problem aus Ihrer Sicht ausreichend auf dem Schirm?
Feltes: Offensichtlich nicht, sonst würde man es erfassen, so wie man alle möglichen unsinnigen Statistiken führt. Ich fordere seit zehn Jahren, dass man dieses Problem stärker in den Fokus nimmt, Richtlinien erstellt und besonders auf die Verhältnismäßigkeit hinweist. In erster Linie gilt es, Leben zu schützen und nicht polizeiliche Maßnahmen oder den staatlichen Strafanspruch unter allen Umständen durchzusetzen. Aber das wird bei den Innenministerien nicht ernst genommen.
In allen Fällen wurde hinterher die Rechtmäßigkeit des Einsatzes bestätigt. Wundert Sie das?
Feltes: Nein, das ist das gleiche Ergebnis, das generell bei Ermittlungsverfahren wegen Gewalt durch Polizeibeamte herauskommt. Dort werden mehr als 90 Prozent der Ermittlungsverfahren eingestellt.
Es ist viel Vertrauen in die Polizei verloren gegangen. Wie lässt sich das zurückgewinnen?
Feltes: Insgesamt ist das Vertrauen der Bevölkerung immer noch recht hoch. Das Problem besteht vor allem in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Auch im Mannheimer Beispiel wurde ja der Rassismusvorwurf wieder in den Raum gestellt. Gerade Menschen mit Migrationshintergrund haben das Vertrauen in die Polizei massiv verloren. Ich glaube auch, dass sie von den herkömmlichen Umfragen gar nicht erreicht werden. Das Problem ist: die Polizei lebt bei der Ermittlung von Straftaten vom Vertrauen. 80 bis 90 Prozent der Straftaten werden durch Hinweise aus der Bevölkerung geklärt. Das heißt, die Polizei untergräbt ihre eigene Basis für erfolgreiche Ermittlungen.
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