Mannheim. Was läuft schief seit dem 7. Oktober? So die Fragestellung zur jüngsten Ausgabe der „Mannheimer Reden“, die sich mit den Folgen des Terroranschlags der Hamas auf Zivilisten in Israel befasst hat. Auf der Bühne des Alten Kinos Franklin, wo derzeit das Mannheimer Nationaltheater gastiert, schien der konfliktreiche Gesprächsstoff entschärft. In der idealtypischen Konstellation einer muslimisch-jüdischen Ehe, wie sie Saba-Nur Cheema und Meron Mendel führen, ist erkennbar kein Raum für jene Aggressionen und Unterstellungen, die seit Monaten die Stimmung auch hierzulande aufheizen.
Mannheimer Reden: Denis Scheck moderiert
Literaturkritiker Denis Scheck moderierte die zerklüfteten Gegensätze, die sich im Meinungsbild über den Konflikt in Nahost auftun, mit gelehrten Zitaten weg. Und in den von kühler Vernunft, fachlicher Expertise und liberaler Haltung geprägten Positionen der Muslimin Cheema und des Juden Mendel ließen sich reichlich Potenziale der Annäherung und Versöhnung erkennen – wenn bei dieser stark polarisierenden Themenlage die Bereitschaft bestünde, einander zuzuhören.
Wie schwierig die Ausgangslage ist, klang in den Worten von Amnon Seelig, des Kantors der Jüdischen Gemeinde Mannheims, an, der bei der Begrüßung im gut besuchten, aber nicht bis auf den letzten Platz besetzten Franklin-Kino seine anhaltenden Irritationen schilderte, die ihn mit Blick auf den Israel-bezogenen Antisemitismus befielen. Dieser sei in den vergangenen Monaten regelrecht „salonfähig“ geworden. Das Schweigen und die darin sich kundtuende Akzeptanz einer Mehrheit dieser Gesellschaft gegenüber den islamistischen Gräueltaten vom 7. Oktober machten ihm, so Seelig in seinem von persönlicher Betroffenheit temperierten Plädoyer, zunehmend Sorgen.
Im Kibbuz unweit des Gaza-Streifens aufgewachsen
Der 1976 geborene Meron Mendel, der in einem israelischen Kibbuz unweit des Gaza-Streifens aufgewachsen ist, kennt die Namen von Freunden und Bekannten, die den Überfall der Hamas nicht überlebt haben. Er lehrt heute Soziale Arbeit in Frankfurt und ist Direktor der dortigen Bildungsstätte Anne Frank. Gemeinsam mit seiner Frau, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften arbeitet, schreibt Mendel in einer Frankfurter Tageszeitung eine Kolumne unter dem Titel „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“.
Auch Mendel äußerte sich erstaunt über die vergleichsweise moderate Lautstärke kritischer Stimmen nach dem terroristischen Anschlag. Jenes „donnernde Schweigen“, von dem laut Moderator Scheck der türkischstämmige Bundesminister Cem Özdemir gesprochen habe, bestätigte auch die in Frankfurt geborene Saba-Nur Cheema.
„Bekenntniszwang“ für Muslime
Die Tochter eines aus Pakistan geflohenen Ehepaars nahm die muslimische Community gleichwohl in Schutz. Diese sehe sich nach islamistischen Anschlägen einem allgemeinen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sowie mit einem Generalverdacht belegt. Mittlerweile werde ein „Bekenntniszwang“ zum Existenzrecht Israels ausgeübt, etwa bei der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft. Die muslimischen Verbände, gegen die sich die Kritik vor allem richte, repräsentierten aber bei weitem nicht sämtliche sechs Millionen in Deutschland lebenden Muslime.
Auch Cheema bekundete Irritationen angesichts der Reaktionen von Muslimen unmittelbar nach dem Terroranschlag der Hamas, sowohl auf den Straßen wie in den digitalen Netzwerken. Moderator Denis Scheck hatte zuvor einen Ausspruch des Historikers Theodor Mommsen – dieser erhielt 1902 den Literatur-Nobelpreis – zitiert, wonach Antisemitismus „der Geist der Kanaille“ und lediglich auszutrocknen sei. Die Geschichte habe freilich gelehrt, so Scheck, dass ein passives Aussitzen antisemitischer Bewegungen nicht genüge.
Gerade in den sogenannten sozialen Medien sah Meron Mendel einen Antisemitismus erstarken, der sich größtenteils aus Fehlinformationen speise. Er sei zudem von der Absicht getragen, moralisch auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Laut Mendel ist hierbei eine Tendenz erkennbar, sich mit denen zu solidarisieren, die sich mit der Opferrolle identifizierten. Damit erscheine Israel einseitig als Täter. Gleichwohl sei der Aufenthalt in diesen digitalen Foren „Teil der Lebenswelt“ vor allem vieler Jugendlicher. Ziel müsse es daher sein, politische Bildung auch in diese Netzwerke einzuspeisen und sogenannte Influencer, an deren Aussagen sich Jugendliche orientierten, mit sachlichen Informationen zu versorgen.
Zu einer der verzerrten Urteile über die Politik Israels zählte Mendel etwa die Behauptung, das israelische Volk habe keine historische Verbindung zu Palästina und sei aus diesem Grund als „kolonialer Vorposten Europas“ zu sehen. Die globale Linke betrachte die Israelis als „privilegierte Minderheit“. Mit dieser Sichtweise sei Südafrika vor den Internationalen Gerichtshof gezogen, um Israel des Völkermords gegenüber den Menschen in Gaza zu bezichtigen.
Auf die skeptische Nachfrage des Moderators, was Bildungsarbeit vor diesem Hintergrund überhaupt ausrichten könne, erwiderte Mendel mit einem persönlichen Erlebnis: So habe er als Soldat in Hebron Kontakt mit einem jungen Siedler bekommen und mit ihm über die radikale Haltung eines Teils der jüdischen Bevölkerung diskutiert. Jahre später habe ihm dieser ehemalige Jugendliche anvertraut, sich vom Extremismus distanziert zu haben. Für Saba-Nur Cheema ein Beispiel, das zeige, wie „unbedingt notwendig“ es sei, im Dialog zu bleiben.
Angeregte Gespräche unter Besucherinnen und Besuchern
Im Publikum saß bei dieser Veranstaltung auch Thomas Hornung von der Mannheimer CDU-Gemeinderatsfraktion. Er äußerte in der öffentlichen Aussprache Unverständnis über das Auftreten palästinensischer Aktivisten bei der jüngsten Demonstration gegen Rechts, das er als „unpassend“ empfunden habe. Zwar wollte Saba-Nur Cheema daraus kein repräsentatives Verhalten aller in Deutschland lebenden Muslime ableiten; dass sich viele Muslime vor dem Feindbild Israel vereinigten, räumte aber auch sie ein. Meron Mendel hielt es unterdessen für grundsätzlich problematisch, wenn eine Anti-AfD-Demonstration für eine Pro-Palästina-Kundgebung „instrumentalisiert“ werde. Er hielte einen Platzverweis für angebracht.
Die Gespräche unter den Besucherinnen und Besuchern nach der Veranstaltung waren lebhaft. Ein Ehepaar aus Mannheim, das sich zu den treuen Abonnenten des Nationaltheaters zählt, schilderte auf Anfrage eine hohe persönliche Betroffenheit, die sich auf dem üblichen Niveau bloßer sachlicher Informationen nur selten einstelle. Zwei Besucherinnen aus der Pfalz würdigten das Format der „Mannheimer Reden“ als wichtigen bildungspolitischen Beitrag. Doch nach so einer Veranstaltung falle es schwer, mit Blick auf den Nahostkonflikt eine klare Position zu beziehen. Zwei Mitarbeiterinnen des Jungen Nationaltheaters vertragen die Auffassung, das Gespräch hätte mehr in die Tiefe gehen können. Die Komplexität des Themas habe der Mannheimer Rede Grenzen aufgezeigt.
Mannheimer Reden
Gesellschaftspolitische Debatten anstoßen und Vertreter von Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur gewinnen, ist das Anliegen der Reihe „Mannheimer Reden“.
Die Reihe wurde 2017 von Christof Hettich von der SRH zusammen mit Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski vom Nationaltheater Mannheim und in Medienkooperation mit dem "Mannheimer Morgen" gegründet. Erster Gast war der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Weitere Gäste der Mannheimer Reden waren unter anderen Filmproduzent Nico Hofmann und der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert.
Bei der sechsten Mannheimer Rede 2019 gingen Maja Göpel und Klaus Töpfer der Frage nach, wie sich die Gesellschaft ökologisch und sozial weiterentwickeln soll.
Wegen Corona wurde die Reihe 2020 bis 2023 eingestellt. urs
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