Mannheimer Reden (mit Video und Fotostrecke)

„Auf eine subtile Art sind niedrige Zinsen ein Segen für Nachhaltigkeit“

Lesedauer: 
Immer wieder zeigte Jakob von Weizsäcker auf die Leinwand: Dort erörterte der Ökonom im Bundesfinanzministerium die Folien seiner mitgebrachten Power-Point-Präsentation. © Rinderspacher

Wir leben in Zeiten, die sich für große Investitionen eignen – so etwa hat es Jakob von Weizsäcker in seinem Vortrag am Nationaltheater Mannheim am Dienstagabend gesagt. Es gebe Kapital, weil alle – Bürger, Unternehmen und Staat – gespart haben, gleichzeitig seien die Zinsen bei Null – die Rede des 49-jährigen Chefvolkswirts im Bundesministerium für Finanzen in einer Zusammenfassung.

Heute Abend soll es um Kapital und Arbeit gehen. Ich fange nicht mit Kapital an, nicht mit Ersparnis, nicht mit Zinsen, sondern mit dem Produktionsfaktor Arbeit. Menschliche Arbeitskraft. 1990 war hier ein Schlüsseljahr. Mit dem Fall der Mauer traten Osteuropa, China und viele andere Länder in den globalen Arbeitsmarkt ein. Der Ökonom Richard B. Freemann sprach damals von der „Verdopplung der globalen Arbeitskraft.“ Was das für die Einkommen bewirkt hat, wurde eindrucksvoll von Branko Milanovic analysiert. Das Einkommen sehr vieler Menschen in China, Osteuropa und Indien hat sich deutlich verbessert. Lohnsteigerungen von 30 bis 70 Prozent in den 20 Jahren nach dem Fall der Mauer waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Die Löhne der Menschen in den reicheren Ländern hingegen stiegen deutlich langsamer an – ganz einfach, weil Arbeitskraft am Weltmarkt nun so reichlich vorhanden war. In den USA sind die Löhne für einige Bevölkerungsgruppen sogar gefallen. Enttäuschungen waren vorprogrammiert. Der Wahlsieg von Präsident Trump hat auch mit diesen enttäuschten Menschen zu tun.

Die Reichen wurden reicher

In Deutschland waren die Auswirkungen weniger dramatisch und wurden vom Sozialstaat abgefedert. Aber die Einkommenszuwächse waren auch hierzulande vergleichsweise gering. Das galt aber natürlich nur für die Normaleinkommen. Die Topeinkommen der Höchstqualifizierten und insbesondere der Kapitaleigner haben sehr davon profitiert, dass Arbeitskraft nun reichlich vorhanden war, während Kapital vergleichsweise knapp war. Die Reichen wurden reicher.

Aber inzwischen ist die Verdopplung der globalen Arbeitskraft von 1990 nicht mehr das dominierende Phänomen. Seit 2010 beobachten wir eine ganz andere Entwicklung. Nämlich sehr niedrige Zinsen. Ersparnis ist inzwischen reichlich vorhanden. In den letzten fünf Jahren haben die Privathaushalte insgesamt 800 Milliarden Euro gespart, die Firmen etwa 200 Milliarden, der Staat etwa 150 Milliarden. Kein Sektor der Wirtschaft in Deutschland hat sich also mehr Geld ausgeliehen, als er gespart hat.

Ein fröhlich alterndes Land

Aufmerksame Zuhörer werden sich fragen: „Wie kann denn das sein in einem Land, wenn alle drei Bereiche der Wirtschaft mehr sparen als sie sich Geld ausleihen?“ Darauf gibt es eine einfache Antwort: Wir verleihen unser Geld ins Ausland. Das ist ein Kuriosum der deutschen Debatte: Ein Land, das viel mehr spart, als es sich ausleiht, beschwert sich über die niedrigen Zinsen. Wo sollen die Zinsen denn herkommen?

Und wenn ich in den Raum schaue, stelle ich fest: Deutschland ist ein fröhlich alterndes Land. Es gibt tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der sehr großen Ersparnis und der Alterung. Glücklicherweise steigt die Lebenserwartung weiter an. Und das Renteneintrittsalter steigt viel weniger schnell als die Lebenserwartung. Das bedeutet, dass die Menschen einen immer größeren Teil ihres Lebens nicht arbeiten. Deshalb brauchen wir ein immer größeres Rentensystem oder immer mehr Ersparnis. Das ist ein fundamentaler Treiber für die große Sparneigung und die niedrigen Zinsen.

Wenn man mehr Kapital hat, bessere Infrastruktur, bessere Maschinen und so weiter, wird Arbeit produktiver. Und die Löhne können steigen. Umgekehrt konkurriert sich die reichlich vorhandene Ersparnis die Renditen weg. Renditen werden niedriger. Man sieht also: Langfristig ist es für die Arbeit gar nicht so schlecht, wenn Kapital nicht mehr knapp ist.

Warum lag Karl Marx falsch?

Natürlich gibt es viele Gründe, warum Löhne steigen. Aber es ist doch bemerkenswert, dass wir wohl auch dank niedriger Zinsen 2019 die höchste Lohnquote seit 1991 haben. Wie viele Leute denken: „Uns geht es immer schlechter!“ Empirisch ist das Gegenteil der Fall: Die Lohndynamik der letzten Jahre war ziemlich gut.

Wenn man mehr Kapital hat, kann man produktiver arbeiten und höhere Löhne zahlen. Warum ist die Ausbeutungstheorie von Karl Marx falsch? Weil der Kapitalismus zu so viel Kapitalanhäufung führt, dass die Arbeit produktiver und knapper wird, so dass wir nicht mehr ausgebeutet, sondern ganz vernünftig bezahlt werden. Jetzt wenden Sie ein: „Ja, lieber Herr von Weizsäcker, schön gesagt. Aber so wahnsinnig produktiv kann das Kapital doch heute gar nicht mehr sein, sonst würde es doch höhere Zinsen erwirtschaften.“

Das ist ein interessanter Einwand. Wenn einem tatsächlich nichts mehr einfallen würde, was man produktiv mit Investitionen anstellen könnte, dann würde ich mich geschlagen geben. Ich glaube aber nicht, dass das heute schon der Fall ist. Wenn wir wollen, dass niedrige Zinsen und das Kapital wirklich dazu führen, dass ein neues goldenes Zeitalter der Arbeit anbricht, müssen wir ein paar Dinge tun.

Erstens: Wir brauchen private und öffentliche Investitionen, die die Produktivität steigern. Für viele Betriebe stellen zum Beispiel ungenügende Verkehrsinfrastrukturen und digitale Infrastrukturen einen Engpass dar. Das hemmt nicht nur private Investitionen, das hemmt auch die Produktivität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb haben wir die Investitionen auf Rekordniveau erhöht und wollen sie weiter steigern.

Zweitens: Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Leute noch besser ausgebildet werden. Wir müssen noch mehr in Bildung investieren. Und das gilt weiterhin ganz besonders für unsere Kinder und Jugendlichen, die noch bessere Lernbedingungen brauchen. Aber es gilt auch im höheren Alter, damit ein Jobwechsel nicht zum Alptraum wird.

Kein kurzfristiges Wirtschaften

Drittens möchte ich über das Klima reden. Dass die Niedrigzinszeit zusammenfällt mit der akuten Erfordernis, unsere CO2-Emissionen drastisch zu senken, ist ein historischer Glücksfall. Denn durch die niedrigen Zinsen ist es viel leichter, die ungeheuren privaten und öffentlichen Investitionen für die Energiewende und die Verkehrswende zu stemmen.

Aber die niedrigen Zinsen begünstigen auch noch aus einem anderen Grund das nachhaltige Wirtschaften. Denn der Zins hat in der Wirtschaft nicht nur die Funktion, die Ersparnis zu entlohnen. Der Zins wird auch dazu benutzt, um zu fragen: Wie viel mehr ist die Gegenwart wert als die Zukunft?

Wenn Sie vier Prozent Zinsen haben, dann können Sie ihr Vermögen auf dem Sparbuch in 30 Jahren verdreifachen. Das bedeutet: Der Vorteil, einen Euro jetzt und heute zu haben, ist dreimal größer als einen Euro in 30 Jahren zu haben. Es bedeutet aber auch, dass diese Rechnung beinhaltet, einen Euro Gewinn heute zu machen, selbst um den Preis, dadurch im Jahre 2050 zwei Euro Umweltschaden angerichtet zu haben.

Das führt schnell zu kurzsichtigem Wirtschaften, das die Interessen der künftigen Generationen nicht hinreichend berücksichtigt. Bemerkenswert ist nun: Bei null Prozent Zinsen hat ein Euro Schaden oder Nutzen heute oder im Jahr 2050 dasselbe ökonomische Gewicht. Auf subtile Art ist das ein Segen für Nachhaltigkeit.

Ich kann mir vorstellen, dass angesichts niedriger Zinsen hier im Raum viele Menschen vor allem Unwohlsein verspüren, weil sie jetzt keine Zinsen mehr auf dem Sparbuch erhalten. Hoffentlich konnte ich mit meinen Ausführungen einen kleinen Beitrag dazu leisten, einen anderen Blick auf die niedrigen Zinsen zu ermöglichen. Einen Blick, der die Chancen für die Lohnentwicklung erkennt und für die Bewältigung der ökologischen Herausforderungen.

Lokales

Die 8. "Mannheimer Rede" in voller Länge

Veröffentlicht
Laufzeit
Mehr erfahren
Nationaltheater

"Mannheimer Rede" mit Jakob von Weizsäcker und Elisabeth Niejahr

Veröffentlicht
Bilder in Galerie
19
Mehr erfahren

Thema : Mannheimer Reden

  • Mannheimer Reden (mit Video und Fotostrecke) Jakob von Weizsäcker: „Auf eine subtile Art sind niedrige Zinsen ein Segen für Nachhaltigkeit“

    Wir leben in Zeiten, die sich für große Investitionen eignen – so etwa hat es Jakob von Weizsäcker in seinem Vortrag im Rahmen der "Mannheimer Reden" am Nationaltheater am Dienstagabend gesagt.

    Mehr erfahren
  • Eindrücke aus dem NTM (mit Video und Fotostrecke) Mannheimer Reden: Mit Raum für Polarisierungen

    Elisabeth Niejahr lobt nach der achten Mannheimer Rede vor allem eines: das aufmerksame Publikum im vollbesetzten Schauspielhaus. Sogar im Foyer hatte das NTM ein Public-Viewing eingerichtet, um dem Interesse gerecht zu werden.

    Mehr erfahren
  • Umfrage 8. Mannheimer Reden: Reaktionen zur Diskussion am NTM

    Die Reaktionen von Zuschauern der 8. Mannheimer Rede. Am Dienstagabend hatten Wirtschaftsjournalistin Elisabeth Niejahr und Jakob von Weizsaecker, Chefvolkswirt des Bundesfinanzministeriums, am NTM diskutiert.

    Mehr erfahren

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen