„Aufs Ganze gesehen – uns fehlt der ehrliche Diskurs“

Von 
Jutta Allmendinger
Lesedauer: 

Als vierter Gast der „Mannheimer Reden“ spürt die Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger im voll besetzten Schauspielhaus des Nationaltheaters Mannheim der Frage nach, wie es gelingen kann, eine Gesellschaft zu formen, die zusammenhält und in der wir leben wollen. Die Menschen seien dafür offen genug, so Allmendinger – das Manuskript der sehr frei gehaltenen Rede in Auszügen.

Ich freue mich ganz besonders, heute vor Ihnen zu stehen – nicht nur, weil Mannheim meine Geburtsstadt ist und die Universität Mannheim meine Alma Mater, sondern auch, weil es für mich eine Ehre ist, nach Winfried Kretschmann, Nico Hofmann und Norbert Lammert sprechen zu dürfen.

In Bundestagsreden, politischen Kommentaren, den sozialen Medien und vielen Blogs, durchaus auch in wissenschaftlichen Arbeiten finden wir die Mahnungen, doch endlich aufzuwachen aus unserer bundesdeutschen Lethargie: die Zukunft entschlossen anzugehen, zu gestalten und uns zu öffnen für das Neue.

Natürlich wird auf technologische Veränderungen hingewiesen, auf rapide Umbrüche in der Arbeitsorganisation, bei den Arbeitsinhalten, der Stellung der Menschen im Arbeitsprozess. Oft folgen nachdrückliche Appelle an ein besseres Bildungssystem, mit höherer Chancengerechtigkeit für Menschen aus Haushalten ohne akademischen Hintergrund, aus anderen Kulturen, mit körperlichen, geistigen Einschränkungen.

Inklusion und der Abbau von Bildungsarmut sind hier bekannte Stichworte. Der Umbau der Krankenversicherung wird thematisiert. Das Nebeneinander von privaten und gesetzlichen Krankenkassen hat sich als nicht zukunftsfest erwiesen, ist ineffizient und überträgt soziale Unterschiede in die Versorgung von Kranken. Auch hier wird ein aktives Gestalten gefordert.

Die Wohnungsfrage drängt

Das Rentensystem droht zu kippen und nicht mehr das zu leisten, was es anfangs versprochen hat, nämlich dass die Rente sicher ist und im Alter ein gutes Leben garantiert, solange man nur ausreichend viele Jahre gearbeitet und eingezahlt hat. Auch die Wohnungsfrage drängt. Räumliche Verdichtungen auf der einen Seite und verlassene Landschaften ohne Infrastruktur auf der anderen schreien nach proaktivem Handeln. (…) Und wie steht es mit der Einkommens- und Vermögensverteilung insgesamt? Warum sperren wir uns nicht gegen maßlose Bonuszahlungen, die Gerechtigkeitsvorstellungen der Menschen in Deutschland aushöhlen? Nach der neuesten Statistik verdienen Topmanager 52-mal so viel wie der Durchschnittverdiener. Warum lassen wir das zu?

Natürlich wären auch der Klimawandel und die europäische Frage zu nennen, doch ich hebe ein letztes Beispiel hervor: Flüchtlinge und Migranten. Wir haben kein Einwanderungsgesetz. Harte Positionen treffen hier aufeinander, unversöhnlich bis zur Regierungskrise. Aufs Ganze gesehen – uns fehlt der ehrliche Diskurs.

Diese Semantiken überfälliger Veränderungen, einer Vogel-Strauß-Politik und der schieren Unfähigkeit des aktiven Gestaltens treffen auf Standpunkte, die das genaue Gegenteil formulieren. Ein Festhalten am Status quo wird gefordert und, mehr noch, ein Rückbau in die vermeintlich bessere Welt von gestern, mit sogenannten Normalarbeitsverhältnissen, traditioneller Rollenteilung zwischen Männern und Frauen, ohne die Ehe für alle. Ein Heimatministerium wird eingerichtet, Migranten sollen wieder temporäre Gäste sein, in einem starken Nationalstaat mit klaren Grenzen, vielleicht sogar bald mit einer eigenen Währung.

Angesichts dieser zerrissenen Diskurse hat das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, ein großes Leibniz-Institut, welches ich seit über zehn Jahren leiten darf, zusammen mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ und dem infas-Institut für angewandte Sozialwissenschaft über 3100 Menschen befragt. Männer und Frauen in Deutschland, die zwischen 14 und 80 Jahren alt waren, in Ost und West, Süd und Nord lebten, in Städten und auf dem Land, mit oder ohne Migrationserfahrung. Wir haben lange mit ihnen gesprochen. Über ihr Leben, über das, was ihnen selbst wichtig ist, was sie bewahren und den kommenden Generationen mit auf den Weg geben möchten. Über das, was sie hinter sich lassen würden, könnten sie nochmals entscheiden, wie sie ihr Leben führen. Vermächtnis haben wir das genannt, man könnte auch von einem Auftrag reden, den sie uns und vielleicht sich selbst erteilen.

Bedeutung der Erwerbsarbeit

Beide Fragerichtungen – „Wie ist es heute?“ und „Wie soll es werden?“ – sind für sich genommen spannend. Was mich aber besonders interessiert, sind die Vergleiche zwischen den Antworten auf die beiden Fragerichtungen. (…) Beginnen wir mit den Bereichen, in denen die Menschen Kontinuität einfordern. Hier sticht die Erwerbsarbeit hervor. (…) Die Menschen arbeiten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch Erwerbsarbeit bedeutet ihnen mehr als nur finanzielle Absicherung. Sie schafft neue kommunikative Räume, bringt neue Erfahrungen, Orte außerhalb der eigenen Familie, ein Stück eigenes Leben. (…) Die Ausnahme bilden Menschen in schlechter Arbeit, also mit befristeten Tätigkeiten in Folge, vielen Schichtdiensten, Niedriglohn, Arbeit auf Abruf, Überforderung am Arbeitsplatz aufgrund zu dünner Personaldecke.

Dennoch: Dieses starke Drängen auf Erwerbsarbeit beschäftigt mich sehr und macht mich nachdenklich. Denn es trifft auf parallele Diskussionen um das bedingungslose Grundeinkommen, das einen starken und breiten gesellschaftlichen Zuspruch erfährt. Wann immer ich auf Podien sitze und mit jenen diskutiere, die sich entschlossen für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen, stehe ich mit meiner Meinung allein. (…) Weiterführende Studien und Nachfragen haben mir gezeigt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen oft geschätzt und gefordert wird, weil es genau genommen gar nicht um bezahlte Arbeit geht. Es geht um Sicherheit und um bezahlte freie Zeit. Diese „unbedingte freie“ Zeit nimmt einen immer größeren Stellenwert ein.

So möchten die Menschen ein Sabbatical nehmen und für eine Orientierungsphase nutzen können. Sie möchten zeitweise ihre Arbeitsstunden reduzieren und dann auf ihre ursprüngliche Stundenzahl zurückkehren können. Was ist also zu tun? Wir müssen Geld und Zeit und Arbeit und Sicherheit in neuer Weise denken. Wir müssen alternative Abfolgen der Lebensphasen motivieren und ermöglichen, mit Unterbrechungen in der Mitte des Lebens und einem Arbeiten im späteren Verlauf. Die gestiegene Lebenserwartung bei guter Gesundheit erlaubt uns, diese Modelle umzusetzen. Und sicherlich lassen sie sich auch versicherungsmathematisch berechnen. Ich würde mich freuen, wenn nicht nur Wirtschaft und Politik, sondern auch die Zivilgesellschaft hier Impulse setzten. Dabei sollten wir das Feld des bedingungslosen Grundeinkommens nicht einigen wenigen privaten Initiativen und Crowdfunding-Projekten überlassen, sondern systematisch untersuchen, wofür Menschen das bedingungslose Grundeinkommen nutzen würden. (…)

Auch in einem zweiten Bereich wünschen sich die Menschen Kontinuität. Sie teilen das tiefe Bedürfnis nach Nähe, nach einem Wir-Gefühl, nach Familie, nach einer sozialen Einbettung und stellen sich damit in gewisser Weise gegen Individualisierung, Wettbewerb und Selbstdarstellung. Die Zustimmung ist groß, über alle Gruppen hinweg. Die Vorstellungen, wie dieses Zusammenleben ausgestaltet sein sollte, variieren aber deutlich. Beispielsweise gilt manchen die Ehe als Ausdruck einer besonderen Liebe, andere leben bewusst in einer Partnerschaft ohne Trauschein. Aber die unterschiedlichen Modelle werden von allen akzeptiert, die Vielfalt wird anerkannt und begrüßt.

Konzentration auf eigene Gruppe

Allerdings gibt es auch in diesem Bereich Entwicklungen, die mich nachdenklich machen. Denn wiederum lässt sich belegen, dass Freundeskreise und Partnerschaften mehr und mehr in eigenen sozialen Kreisen gefangen bleiben und sich selten unbekannten Anderen öffnen. Man diskutiert und unternimmt Dinge unter seines- und ihresgleichen. Diese Wohlfühlgruppen haben ihre Berechtigung, gesellschaftspolitisch aber sehe ich eine gewisse Gefahr – und diese geht weit über die Gefahr einer sich weiter spreizenden sozialen Ungleichheit hinaus, die sich daraus ergibt, dass Partnerschaften von sozial gut gestellten Menschen zu einer Akkumulation von Vermögen führen und Partnerschaften von Menschen mit Niedriglohn zu einer Verdopplung von sozialen Risiken. Mindestens ebenso wirkmächtig wie die soziale Ungleichheit ist der kulturelle Riss, der sich ergibt, wenn Menschen unter ihresgleichen bleiben. (…) Wer aber Menschen aus anderen sozialen, ethnischen, religiösen Kreisen begegnet, hat die Chance, seine Vorurteile und Zuschreibungen zu überprüfen, den Menschen, das Subjekt, hinter dem Objekt zu erkennen (…)

Was können Politik und Zivilgesellschaft hier tun, um dem Neuen und Anderen mehr Chancen zu geben? Wir können daran arbeiten, Institutionen und Räume des Kennenlernens zu schaffen oder wieder einzuführen, wenn sie abgeschafft wurden. Den Zivildienst beispielsweise, verpflichtend nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen. Kitas und Schulen, die zumindest in der Grundstufe nicht segregiert und, wie in manchen Privatschulen, bewusst quotiert sind. Duale Ausbildungsgänge und Hochschulen fördern, die von Vielfalt leben. Finnland gibt einmal mehr den Weg vor: In allen Einrichtungen der Bildungskette steht dort Diversität ganz oben, das betrifft die Zusammensetzung der Klassen wie auch die Lehrinhalte. (…)

Menschen sind offen für Neues

Kommen wir nun zu den Bereichen, in denen sich die Menschen in Deutschland eine Veränderung wünschen, in denen sie sich selbst korrigieren. Hier treibt sie besonders der technologische Wandel um. Sie fühlen sich unzureichend gewappnet und wollen für die Anforderungen der Digitalisierung besser gerüstet sein. Konkret: Bei der Frage danach, wie wichtig es ihnen ist, die neuesten technologischen Entwicklungen zu verstehen, sind die meisten Menschen selbstkritisch. Sie wissen, sie sollten sich stärker interessieren und empfehlen dies auch den kommenden Generationen. (…) Die Menschen sind prinzipiell offen für Neues, das zeigen ihre Antworten. Aber sie schaffen das nicht alleine. Wir müssen ihnen interessante, für sie passgenaue Angebote machen, ihnen den Mut geben, neue Herausforderungen zu meistern, und die Sicherheit, dass sie mit dem neuen Wissen weiterkommen und eine Chance haben. (…)

Wir könnten Menschen in Jobs, die starker Digitalisierung unterliegen, rechtzeitig vor der Entlassungswelle in Teilzeit gehen lassen und sie zeitgleich weiterbilden in Tätigkeiten, die eine Zukunft haben. Die Kosten wären solidarisch zu tragen – von der Wirtschaft und dem staatlichen Bildungssystem. Verschiedene Untersuchungen zeigen uns, wo und wie sich die Tätigkeitsinhalte verändern. Warum passen wir die dualen Ausbildungscurricula und die duale Hochschulbildung nicht entsprechend an? Warum schaffen wir keine Brücken, die Sicherheit bieten bei dem schwierigen und zumindest in Deutschland institutionell wie kulturell nicht gut vorbereiteten Wechsel zwischen Berufen, Tätigkeiten und Jobs? (…)

Ich komme zum Ende. In der Vermächtnisstudie wurde nach den beiden Fragen „Wie ist es heute?“ und „Wie soll es werden?“ noch in eine dritte Richtung gefragt, und zwar: „Wie wird es tatsächlich sein?“ Hier geht es nicht mehr um die befragte Person, hier geht es um die Wahrnehmung dessen, was man bei den Mitmenschen beobachtet. Man bewertet dies und schreibt es in die Zukunft fort.

Der Vergleich dessen, was wir selbst tun, oder empfehlen zu tun, und dem, was wir von den Anderen um uns herum erwarten, zeigt große Unsicherheit, oft auch Sorge. (…) Selten äußern die Menschen Angst, befürchten also, dass etwas richtig kaputt geht. Entsprechend fällt meine Zeitdiagnose auch hier positiver und weniger dramatisch aus als die vieler Kollegen. Die Menschen artikulieren Unsicherheit und Sorge, aber die meisten von ihnen zeigen keine schiere Angst und verfallen nicht in Angststarre, die jede Bewegung unmöglich macht.

Zusammenleben in Vielfalt

Wir können also viel tun und wissen, wie wir die Menschen mitnehmen können. Dies lässt mich meinen Appell wiederholen: Wir müssen auf vielen Gebieten in die Bildung der Menschen investieren, ihre prinzipielle Offenheit für Neues fördern, in demokratischen Schulen, die Diversität und Inklusion leben, in sozialen Räumen, die Begegnungen verschiedenster Menschen ermöglichen. Wir müssen Orte der Begegnung schaffen und Anreize geben. Das Mannheimer Bündnis für ein Zusammenleben in Vielfalt tut genau das. Es unterstützt das breite Engagement für das Miteinander in gegenseitiger Anerkennung und Verständigung. Das ist mehr als Toleranz, die sich auch in passiver Duldung zeigen kann. Ich habe mich daher gefreut als Mannheim 2015 den alten MAP, den Mannheimer Aktionsplan für Toleranz, hinter sich gelassen und sich einem aktiven Miteinander verpflichtet hat.

Lassen Sie uns alle an einem Strang ziehen. (…) Ein Verpuffen von gelungenen sozialen Innovationen können wir uns nicht leisten. Wir sollten sie feiern.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen