Dieser Beitrag ist unter den sechs Finalisten der Serie "75 Ideen für ein besseres Mannheim".
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An Lippenbekenntnissen fehlt es gewiss nicht. Mehr: Es wird ja viel gedacht, noch mehr geschrieben, geplant, und manchmal, da wird auch Wirklichkeit, was sich auf dem Papier etwas bürokratisch zum Beispiel so anhört: „Sie will vor allem die Grenzen zwischen Sparten und Sektoren der Kunst sowie zwischen Kommunen, Kreisen und Ländern, aber auch zu anderen Lebens- und Arbeitsbereichen durchlässiger machen: Erst Kooperationen erschließen Potenziale, die über die Möglichkeiten einzelner Akteurinnen und Akteure weit hinausgehen.“
So klingt die Kulturvision Rhein-Neckar, die offensiv einen offenen Kunstbegriff proklamiert. Er sei, so die Macher, zu denen federführend das Kulturbüro der Metropolregion Rhein-Neckar gehört, „nicht auf etablierte Sparten und Sektoren festgelegt, sondern umfasst auch neue und interdisziplinäre Strömungen“.
Brücken schaffen über Gräben
Man will also Sphären verbinden, Menschen, Religionen, Kulturen, kurz: alle und alles, um dem Genüge zu leisten, was man vor allem auch vor der Politik gebetsmühlenartig wiederholt: treibende gesellschaftliche Kraft zu sein, Motor für Innovation, Integration und Problemlösung und zudem identitätsstiftend für die Menschen in der Region.
Dies vor Augen ist es fast verwunderlich, dass die Metropolregion mit ihren 20 international renommierten Festivals und nach eigenen Angaben jährlich über 300 000 Gästen sowie einem Repertoire, das von Theater, Tanz, Performance und Film über Fotografie, Literatur und Bildende Kunst bis hin zu Klassik und Jazz reicht, nicht längst ein echtes genreübergreifendes Festival hat.
Die Metropolregion als Festivalregion
- Die Kulturvision: In der Metropolregion haben sich seit 2005 auf die Initiative der damals entwickelten „Kulturvision 2015“ rund 20 Festivals zu einem Festivalnetzwerk zusammengetan. Laut Kulturbüro der Metropolregion Rhein-Neckar GmbH besuchen jährlich 300 000 Menschen ihre Veranstaltungen. Die Kulturvision 2025, die die Kulturvision 2015 ersetzt hat, ist eine Art Zielsetzung dessen, was in der Region mit gemeinsamer Kulturarbeit erreicht werden soll.
- Der Sprecher: Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz ist Sprecher der AG Kulturvision und sagt, sie sei „eine klare Strategie für die regionale Kulturarbeit.“ Besonders das erste Visionsziel hebt er hervor: „Dass wir Kultur und Kunst als Motoren für die gesellschaftliche und regionale Entwicklung verstehen und nutzen.“
- Die Festivals in Mannheim: Mannheimer Sommer, Internationale Schillertage, Wunder der Prärie.
- Die Festivals in Ludwigshafen: Festspiele Ludwigshafen, Festival des deutschen Films, Straßentheaterfestival Ludwigshafen, Ludwigshafener Kultursommer.
- Die Festivals in Heidelberg: Heidelberger Frühling, Heidelberger Literaturtage, Heidelberger Stückemarkt, Heidelberger Schlossfestspiele, Geist Heidelberg, Metropolink Festival.
- Die Festivals in der Region: Biennale für aktuelle Fotografie, Enjoy Jazz, Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg, Nibelungen-Festspiele, Schwetzinger SWR Festspiele, Winter in Schwetzingen, Matchbox.
Zum Beispiel in der Musik. Allein hier, wo die Klassik mit den Schwetzinger Festspielen und dem Heidelberger Frühling, wo Improvisationsmusik vor allem durch Enjoy Jazz, wo Pop und Rock durch viele kleinere Festivals wie das Maifeld Derby, das Finkenbach Festival oder die Popakademie, und wo selbst die arabische Musik durch die Orientalische Musikakademie präsent ist – hier sollte es doch möglich sein, musikalische Brücken zu bauen, wo soziale Unterschiede unüberwindbare Gräben hinterlassen.
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Mannheim als Unesco City of Music könnte hier eine federführende Rolle übernehmen. Natürlich hat die Quadratestadt mit dem Jetztmusikfestival, das zuletzt 2018 stattfand, auch seit Jahren einen vagen Versuch des Genreübergreifens am Start. Elektronische Avantgarde und Tanzmusik wie auf dem Technofestival Time Warp gehörten zu den Inhalten. Natürlich berühren auch Enjoy Jazz mit seinem Zusatz „für Jazz und Anderes“ sowie der Heidelberger Frühling vor allem mit seiner Erweiterung des Liedbegriffs benachbarte Genres. Und natürlich diffundiert auch der Mannheimer Sommer am Nationaltheater von der E- in die U-Kultur hinüber und bietet abends auch schlicht Rockmusik an.
Ed-Sheeran-Fan trifft Beethoven
Unter dem Strich bleiben aber die Milieus weitgehend unter sich, bewegen sich, wie auch in den sozialen Medien, weitgehend in ihren Blasen und bestätigen sich, ihr Weltbild und ihre Ansichten gegenseitig. Wer Kultur und Kunst aber als zentrale Impulsgeber für die gesellschaftliche Entwicklung betrachtet und daraus folgert, es seien „Formate und Plattformen zu etablieren, die Austausch und Kooperationen mit anderen Bereichen der Gesellschaft ermöglichen“, müsste doch alles daran setzen, den Ed-Sheeran-Fan auf Beethoven, den Wagnerianer auf Rammstein, den Gregory-Porter-Hörer auf Sidney Corbett, den Techno-Dancer auf Steve Reichs Minimalismus und den Tarkan-Fan auf Händels wunderbare Opernwelt stoßen zu lassen – und zwar, weil es anders vermutlich nicht funktioniert, in einem einzigen Event, das im Anschluss unbedingt zum Austausch und vielleicht sogar Diskurs einlädt – all das freilich keinesfalls in der konservativen Frontalbeschallung, sondern kommunikativ, offen, locker.
Kultur will immer einen und eint doch meist nur die, die sich eh einig sind – weitgehend wenigstens. Auch Theatermacher verbreitern das Portfolio ihrer Angebote, schaffen dadurch aber oft vor allem eines: Junge gehen getrennt von jungen Erwachsenen und die getrennt von Älteren und die getrennt von Alten ins Theater, der der Popkultur Zugeneigte also getrennt vom Schiller- und Schnitzler-Jünger, im schlimmsten Fall gar Frauen getrennt von Männern. Das ist der falsche Weg. Zusammenführung ist gefragt, das Schaffen gemeinsamer Erlebniswelten durch die Generationen, Bildungs- und Einkommensschichten hindurch. Gemeinsame Erlebnisse, wir wissen es aus der eigenen Jugend, können komplett fremden Menschen einen Kommunikationscode einimpfen, der zusammenschweißt, Gemeinschaftsgefühl schafft.
Gerade die Kultur – und ihre einzigen Formen, die nicht an Sprache gebunden sind, also bildende Kunst, Tanz, Performance und Musik – könnte in Zeiten, in denen die Begriffe Herkunft, Zukunft und Zuhause so vage und wackelig geworden sind, Geborgenheit und, ja, ein „Daheim“ bieten. Für viele. Für alle.
Es dürfte bei einem genreübergreifenden Musikfestival für alle keine Beliebigkeit herrschen. Nicht alles kann sinnvoll mit allem kombiniert werden. Aber mal weg von den organisatorischen Strukturen: Die zahlreichen Solokünstlerinnen und -künstler der Region, die Bands und Orchester aus Klassik, Jazz, Pop, Folklore oder elektronischen Musikformen sind höchst kreativ. Ihnen ist alles zuzutrauen – doch hoffentlich keine Lippenbekenntnisse.
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