"Am Sonntag fahren wir in die Pfalz“ – wenn der Mannheimer das ankündigt, meint er damit die Weinstraße am Haardtrand. Der Zweibrücker hat einen völlig anderen Blickwinkel. Der sagt: „Ganz weit hinten in der Pfalz liegen Ludwigshafen und Speyer. Da fließt nur träge der Rhein, und da hört die Pfalz auch auf. Mit Zweibrücken aber fängt sie an. Wer sich von den Metropolen dieser Welt – von New York, Rio de Janeiro, Paris oder Madrid – der Pfalz nähert, der erreicht als erste Stadt Zweibrücken: Sie liegt in der Pfalz eindeutig ganz vorn.“ So schreibt es der Leiter der „Rheinpfalz“-Redaktion in Zweibrücken, Georg Altherr. Ob man das in Speyer oder Mannheim widerspruchslos vortragen könnte? Welcher Mannheimer war überhaupt schon mal in Zweibrücken?
Die Pfälzer sind stolz, Pfälzer zu sein. Selbst die Frankenthaler, deren Stadt Kerngebiet der historischen Kurpfalz war, nennen sich allenfalls in Ausnahmefällen „Kurpfälzer“. Mannheimer oder Heidelberger dagegen sind ganz selbstverständlich Kurpfälzer. Das geografisch-politische Gebilde Pfalz ist in etwa 200 Jahre älter als das der Kurpfalz. Aber seit Mitte des 13. Jahrhunderts und bis zu Napoleon sind Pfalz und Kurpfalz immer irgendwie verbandelt und ohne einander nicht denkbar. Die Kurpfalz war zwischenzeitlich, zum Beispiel im 16. Jahrhundert, als Vormacht des reformierten Deutschlands viel mächtiger als der unübersichtliche Herrschaftsverbund mehrerer pfälzischer Linien und Gebiete.
Selbstbewusstsein aus Heimatstolz
Aber eine dieser „Nebenlinien“, nämlich die von „Pfalz-Neuburg“, hat dann 1685 die Kurpfalz geerbt. Knapp 100 Jahre später verschwanden die Pfalz und die Kurpfalz nahezu von der Landkarte. 1777 endete die Geschichte der eigenständigen Pfalz. 1778 wurde die Kurpfalz zu einem bedeutungsarmen Nebenland. Beides hatte denselben Grund: 1777 war der letzte bayerische Wittelsbacher gestorben und die pfälzischen Wittelsbacher aus der Zweibrücker Linie traten deren Erbe in München an. So zog ihre Residenz von von Mannheim nach München – ein politischer und kultureller Aderlass ohnegleichen für Kurpfalz und Pfalz. Klar, dass die Bayern von nun an sagten, die Pfalz sei bayerisches Land. Wir (Kur-)Pfälzer sehen das anders: Weil Bayern von einem pfälzischen Herrschergeschlecht regiert wurde, gehörte es seither zur Pfalz!
Michael Garthe
- Michael Garthe, Jahrgang 1958, zählt zu den dienstältesten Chefredakteuren Deutschlands. Er steht seit 1994 an der Spitze der „Rheinpfalz“-Redaktion mit Hauptsitz in Ludwigshafen.
- Der gebürtige Speyerer ist in Böhl und Haßloch aufgewachsen.
- Von 1989 bis 1993 war Garthe in Bonn Hauptstadt-Korrespondent – es waren deutsche Schicksalsjahre rund um die Wiedervereinigung. Die „Strickjacken-Diplomatie“ Helmut Kohls in Michail Gorbatschows Datscha, die den Weg zur Einheit ebnete, erlebte Garthe in der Nähe mit. Als beide Staatsmänner der Presse das Ergebnis präsentierten, so erzählte er später, habe er Tränen der Freude in den Augen gehabt.
Solches Selbstbewusstsein der Pfälzer entspringt ihrem Heimatstolz. Der wird manchmal belächelt. Aber warum empfinden die Pfälzer so viel Stolz auf ihre Heimat? Diese Landschaft hat mehr Geschichte als andere Regionen. Sie war oft Kriegsland, selten Friedensland und oft umstrittenes Land, selten Brückenland. Sie war oft zersplittert, selten geeint. Sie war eine Völkermühle: mal Einwanderungsland, mal Auswanderungsland, aber immer Durchgangsland. Sie war mal bloß Randland und mal europäisches Machtland. Warum dies so war, warum ausgerechnet die Pfalz Himmel und Hölle häufiger erlebte als andere Regionen, das vermag kein Historiker, kein Heimatkundler schlüssig zu erklären. War es ihre exponierte Lage im Herzen Westeuropas? Waren es das bevorzugte Klima, die Fruchtbarkeit der Landschaft, die Mentalität der Menschen? Oder war es einfach eine unerklärliche Laune der Geschichte?
Wie auch immer: Dagewesen sind viele Völker und viele Herrscher, die in Europa Geschichte schrieben: die Kelten, die Römer, die Alemannen, die Franken, merowingische und karolingische Königsgeschlechter, die Salier, die Staufer, die Habsburger, die Wittelsbacher. Und hier spielt sicher der Rhein eine wichtige Rolle. Denn für all die Völker und Herrscher war es erstrebenswert, an dieser Wasserstraße zu regieren – ganz egal, ob links oder rechts des Rheins. Doch wie dieser Strom verbindet, so trennt er auch – und das, so lange Menschen an seinen Ufern leben. Die Pfalz war jedenfalls Durchzugsland und deshalb auch Land der Verschmelzung vieler Völker. Zugleich aber war sie Grenzland, endgültig nach dem Dreißigjährigen Krieg, als sie im Westfälischen Frieden in unmittelbare Nachbarschaft zu Frankreich geriet und zum Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich wurde.
Grenzland sein, das hieß zumeist vor allem: Land zwischen den Fronten sein, zwischen zwei Seiten, zwischen Auf und Ab, Gut und Böse, sogar zwischen Leben und Tod. Oft so, dass seine Einwohner nie genau wissen konnten, welche Seite ihnen Gutes und welche Schlechtes bringen würde. „Grenzländer“ sein, das heißt aber auch: leidensfähig sein und zuversichtlich, geschickt und beweglich, offen und einfallsreich, das heißt, liberal sein und gastfreundlich, international und: europäisch. Die Pfalz hat ihre historische Chance genutzt: Heute ist sie ein prickelnd lebendiger Teil von Rheinland-Pfalz, eine stabile Brücke nach Frankreich, ein besonders selbstbewusster Teil Deutschlands und eine weltoffene Region Europas. Und das gilt genauso für den rechtsrheinischen Teil der Kurpfalz und seine Stellung in Baden-Württemberg und Europa.
Toleranz, Lebensfreude und Zuversicht
Die (Kur-)Pfälzer haben eine Lehre aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen: Frieden, Freiheit und Recht sind unteilbar. Wer sie nur für sich in Anspruch nimmt, sie dem Nachbarn nicht zugesteht, ihm nicht gönnt oder wem die Situation des Nachbarn völlig gleichgültig ist, der wird Frieden, Freiheit und Recht für sich selbst gefährden, der riskiert, sie zu verlieren. Deshalb ist für die Pfalz wie die Kurpfalz des 21. Jahrhunderts das friedliche Neben- und Miteinander mit den in- und ausländischen Nachbarn und Mitbürgern lebensnotwendig. Wie wollten die (Kur-)Pfälzer ihre Identität erhalten, wenn sie die Identität ihrer Nachbarn nicht anerkennen würden? Jede Region ist anders, aber keine ist besser als andere. Solcher Heimatstolz ist Antriebsfeder für die Freundschaft zwischen Regionen und Nationen. Kein Pfälzer, aber ein Europäer, nämlich Tschechiens früherer Präsident Václav Havel (1936-2011), hat das einmal ganz eindringlich formuliert: „Wir sollten lernen, die Heimat wieder als unseren Teil der Welt im Ganzen zu empfinden, das heißt, als etwas, das uns einen Platz in der Welt verschafft, statt uns von der Welt zu trennen.“
Der 8. Mai 1945 war für die Pfalz und für die Kurpfalz ein Tag der Befreiung. Knapp 170 Jahre nach ihrem Ende als selbstständige oder machtvolle Gebiete fanden sie zu neuer Blüte und zu neuem Selbstbewusstsein. Der Rhein zerteilte zwar auch weiterhin die ehemalige Kurpfalz – diesmal nicht zwischen Frankreich und Deutschland, sondern zwischen Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Die Pfalz rettete ihre Errungenschaft aus napoleonischer Zeit, den Bezirksverband, in die neue Zeit. So ist die Pfalz bis heute die einzige Region Deutschlands mit einem Parlament, dem Bezirkstag, und einer eigenen Exekutive. Der Jahresetat des Bezirksverbands im Jahr 2021 umfasst 110 Millionen Euro. Schon darin zeigt sich, dass er kein Papiertiger ist. Aus der Kurpfalz ist über Jahrzehnte des beharrlichen Wiederzusammenwachsens die Metropolregion Rhein-Neckar geworden. Eine der besonders starken Metropolregionen in Deutschland, die in der ganzen Europäischen Union Beachtung findet.
Bisweilen scheint es so, als würde sich die jahrhundertelange getrenntgemeinsame Geschichte der Pfalz und der Kurpfalz nun wiederholen im Verhältnis zwischen der Pfalz und der Metropolregion Rhein-Neckar. Doch in den meisten Fällen haben beide bemerkt, dass sie gemeinsam weiterkommen als getrennt. Deshalb gibt es zum Beispiel eine Zusammenarbeit der Gremien der Metropolregion mit den Zweckverbänden in der Westpfalz. Es gibt erkennbar den Willen, gleichzeitig das Gemeinsame der Region zu finden und ihre Vielfalt zu pflegen, um aus beidem, der Gemeinsamkeit und der Vielfalt, den größten Nutzen zu ziehen. Und wer in dieser gesegneten Region viel unterwegs ist, der spürt auch: Es gibt zwischen Heidelberg und Zweibrücken eine gemeinsame Mentalität des Fleißes, der Toleranz, der Lebensfreude und der (kur-)pfälzischen Zuversicht.
Der tolerante Heimatstolz der (Kur-)Pfälzer ist ein Trumpf der Region. Die Medien tragen zur Identität dieser Region und ihrer Menschen maßgeblich bei und bringen sie zum Ausdruck. Umgekehrt profitieren die Medien davon, dass die Menschen, für die und über die sie schreiben, sich so mit ihrer Heimat identifizieren. Die „Rhein-Neckar-Zeitung“ aus Heidelberg, der „Mannheimer Morgen“ und die „Rheinpfalz“ sind die wichtigsten Medien der (Kur-)Pfalz. Auch sie verbindet ein getrenntgemeinsames Verhältnis. Sie stehen im Wettbewerb miteinander und suchen Zusammenarbeit, wo es der Region und ihnen nutzt. Nach der „Rhein-Neckar-Zeitung“ am 5. September 2020 und der „Rheinpfalz“ am 29. September 2020 feiert nun auch der „Mannheimer Morgen“ seinen 75. Geburtstag. Von links des Rheines sende ich Pfälzer Grüße hinüber auf die rechte Rheinseite und gratuliere dem „MM“ sehr herzlich. Wir hier im Verlagshaus in der Amtsstraße in Ludwigshafen haben Hochachtung vor der Leistung und dem Können unserer Kolleginnen und Kollegen drüben in der Dudenstraße und wünschen dem „MM“ viel Erfolg und viele zufriedene Leserinnen und Leser. Der „Mannheimer Morgen“ ist eine herausragende Stimme der Kurpfalz und der Metropolregion Rhein-Neckar.
Michael Garthe
Chefredakteur "Rheinpfalz"
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