Die wegen Missbrauchsvorwürfen letztlich in Konkurs gegangene Odenwaldschule war nur ein Einzelfall – markiert aber den Beginn einer noch lange nicht abgeschlossenen Aufarbeitung in Deutschland. Ein nachdenklicher Rückblick.
E. war zehn Jahre alt, als ihn seine Mutter aufforderte, sich zu ihr ins Bett zu legen – jetzt, wo doch der Vater noch Jahre auf Schicht und sie so einsam sein würde. Die Mutter war splitternackt, das habe ihn überrascht, sagt E., aber passiert sei sonst nichts, glaubt er – außer, dass er immer ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er seine Mutter mal allein lassen oder nicht massieren wollte.
Schwerpunktthema Missbrauch & Gewalt
Kinder hatten in den 1970er Jahren, als E. zehn wurde, wenig bis nichts zu sagen. Gewalt als Züchtigungsmittel wurde erst 1977 juristisch diskreditiert, bis dahin wurde legitim geohrfeigt und geprügelt – geschadet habe das noch niemandem, hieß es.
Sexuelle Befreiung
Just in jenen Jahren setzte sich auch ein revolutionärer Gedanke aus der Zeit des Aufbegehrens und der sexuellen Befreiung durch: Kinder hätten ein Recht auf selbstbestimmte Sexualität. Aber diverse Pädagogen vertieften sich daraufhin sehr intim darin, ihren Schülerinnen und Schülern dieses Selbstbestimmungsrecht nahezubringen. Und egal, ob private oder kirchliche Internate, die Abgeschiedenheit lieferte die Schüler ihren Schutzbefohlenen aus und ermöglichte systematischen Missbrauch.
An der Odenwaldschule etwa wurden zwischen den Jahren 1966 und 1989 rund 900 Schüler sexuell missbraucht, von Lehrern, pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitschülern oder Mitschülerinnen. So das Ergebnis zweier Studien, die Jens Brachmann, Professor an der Universität Rostock, im Jahr 2019 vorstellte. Die These sexueller Befreiung gab nur die Rechtfertigung für eine endlos scheinende Tortur.
Zurück zu E. Mit 14 Jahren begann er, sich selbst zu verletzen. Schob sich Stecknadeln unter die Haut seiner Arme, brachte Messerklingen über Kerzen zum Glühen und drückte sich damit Brandnarben auf die Handoberflächen. Der Schmerz habe ihn aus seinen Gedanken gerissen, sagt E. – und einmal habe er die ganzen Medikamente im Haushalt geschluckt, aber passiert sei da nichts. Er war nur enttäuscht, überlebt zu haben. Waren wohl keine besonders heftigen Arzneien. Damals begannen auch E.s Ängste vor Mitmenschen. Er hatte Hemmungen, etwas zu sagen, und wenn er etwas sagen musste, war er so blockiert, dass sein Hirn wie leer war. Er sei sich da immer sehr blöde vorgekommen, sagt E. Alkohol habe das mitunter gelöst.
Atmosphäre der Verklemmtheit
Es war aber nicht nur der irrige Traum einer befreiten Sexualität, der Kinder und Jugendliche im Sinne einer zweifelhaften Liberalisierung in den 1970er, 1980er Jahren für Missbrauch freigab, sondern es war gleichermaßen die verklemmte Atmosphäre einer rigiden Gesellschaft, die mit ihren engen Normen Menschen nach Ventilen suchen ließ.
Ob Zölibat in der Kirche, Männertum in der Bundeswehr, Homophobie in der Öffentlichkeit, die durchlöcherten Duschkabinen in Sportvereinen und Schwimmbädern – auch die geordnete, sexuell sich nicht befreit gebende Seite der Gesellschaft drangsalierte mit ihrer Lustfeindlichkeit zunächst sich selbst und dann die Schwächsten.
Im Kloster Ettal in Oberbayern wurden über Jahrzehnte Schüler misshandelt und sexuell missbraucht. Wie an der Odenwaldschule kamen die Vorfälle im Jahr 2010 unwiderruflich ans Licht. 2010 – das Jahr, als mit einem Mal zahlreiche Betroffene ihr Schweigen brachen.
Wie die Odenwaldschule beauftragten die Mönche im Kloster Ettal externe Berater zur Aufklärung der Vorfälle. Das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung untersuchte die Hintergründe sowie die Folgen von Missbrauch und Gewalt in dem oberbayerischen Internat. In ihrer Studie, an der unter anderem Sozialpsychologe Heiner Keupp beteiligt war, beschreiben die Wissenschaftler „Ringe des Schweigens“, die verhinderten, dass Missbrauch und Gewalt gestoppt wurden. Für die Schüler sei vieles von dem, was sie erlebten, unverständlich gewesen. Also hätten sie sich nicht getraut, davon zu erzählen. Und falls doch einmal etwas nach außen drang, hätten Mönche und auch die Eltern versucht, den Schein des Elite-Internats aufrechtzuerhalten.
Gleiches brachten zwei Studien zum Vorschein, die das Bistum Regensburg in Auftrag gegeben hatte, um das System „Domspatzen“ von 1945 bis 1992 sozialwissenschaftlich und historisch zu ergründen. Mindestens 547 Mitglieder des Domspatzen-Chors wurden Opfer sexuellen Missbrauchs. Sogar Eltern hätten entsprechenden Schilderungen ihrer Söhne nicht unbedingt geglaubt. Und wenn doch einmal ein Vergehen öffentlich wurde? „Solange es ging, wurde beschwichtigt und weggesehen“, sagte Bernhard Löffler von der Universität Regensburg bei der Vorstellung der Historikerstudie im Juli 2019.
Mehrere Studien
Und E.? Mit 17 hatte er einen ersten Zusammenbruch, kam in nervenärztliche Behandlung. Mit 18 folgten ein weiterer Zusammenbruch und der Beginn einer jahrelangen schweren Depression. Und die Ängste vor Menschen wuchsen. Freundin? Fehlanzeige. Nähe führte zu Herzrasen, Atemstörungen, Beklemmungsgefühlen, Zittern, Schweißausbrüchen, Fluchtreflexen. Und zum Gefühl, die Mutter zu betrügen. Daraus wiederum resultierte Hass auf sich selbst.
„Ebenfalls ist es für etliche schwierig gewesen, Beziehungen aufzubauen. Die allermeisten haben erlebt, dass zu Beginn der ersten stabilen Beziehung alles wieder hochkommt“, erklärte 2016 der Gründer des Vereins Ettaler Misshandlungs- und Missbrauchsopfer, Robert Köhler, dieses Phänomen. Sabine Andresen, Vorsitzende der Aufarbeitungskommission zu sexualisiertem Missbrauch, benannte im Oktober vergangenen Jahres die Kultur des Schweigens als typisch auch für den Sport: „Bislang gibt es im Sport keine Kultur des Sprechens über Gewalt.“
Warum spricht E. jetzt plötzlich doch, fast 50 Jahre später? Ich wusste ja selber nicht, was mir geschah, sagt er; bisher habe sofort ein Gedankenkarussell eingesetzt, das seine Emotionen unkontrollierbar in Aufruhr brachte. Es sei eben nichts, was man einfach so erzähle. Und vielleicht hänge es damit zusammen, dass kürzlich die Mutter starb.
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