Speyer. Wahrheit. Lüge. Hoffnung. Verzweiflung. Aufklärung. Vertuschung. Im Schatten des Kaiserdoms zu Speyer liegt all das ganz nah beisammen. So nah, dass es zuweilen schmerzt. Dass in einem Moment etwas als Gewissheit gilt, was im nächsten schon wieder von Zweifeln verwischt wird. Rund fünf Monate ist es her, dass das Bistum Speyer von ungeheuerlichen Missbrauchsvorwürfen erschüttert wurde. Fünf Monate, in denen immer mehr grausige Details aus der Dunkelheit ans Tageslicht kamen. In denen Opfer laut wurden - und ein Wegsehen schlichtweg nicht mehr möglich war.
Persönliche Reise
Ganz genau hingesehen haben die beiden Journalisten Dennis Leiffels (Y-Kollektiv) und Stephan Alfter (Mannheimer Morgen). In einer 45-minütigen Reportage beleuchten sie die Vorgänge im Bistum und rund um ein von Nonnen geführtes Kinderheim in der Speyerer Engelsgasse, erzählen die Geschichte der Opfer, befragen hohe Geistliche und versuchen, das Unbegreifbare greifbar zu machen. „Wann in Gottes Namen macht die katholische Kirche endlich reinen Tisch?“, schwebt als Leitfrage über dem gesamten Film. „Rabiat: In Gottes Namen“, läuft an diesem Montag um 23.05 Uhr in der ARD.
TV-Reportage "In Gottes Namen" - Personalien
- Andreas Sturm ist Generalvikar im Bistum Speyer und vertritt den amtierenden Bischof Karl-Heinz Wiesemann während dessen Krankheit in der Bistumsleitung.
- In der Aufarbeitung der Missbrauchsvorwürfe in Speyer vertritt Sturm die Position, dass die Kirche transparenter sein müsse und die Kinder und Jugendlichen präventiv besser schützen müsse.
- Als Andreas Sturm sich vor einigen Wochen für die Segnung homosexueller Paare aussprach, bekam er viel Applaus.
- Schwester Barabara Geißinger ist Oberin der Niederbronner Schwestern mit Sitz in Nürnberg. Ihr Orden steht derzeit wegen diverser Missbrauchsvorwürfe massiv unter Druck.
- In der ARD-Doku „In Gottes Namen“ spielt sie wie Andreas Sturm eine Hauptrolle. Sie hat es geschafft, einige Schwestern, die einst im Speyerer Kinderheim Engelsgasse gearbeitet haben, an einen Tisch zu holen.
- In der Aufarbeitung der Vorwürfe lässt sie sich von zwei Anwaltskanzleien beraten.
- Dennis Leiffels hat die Regie im Film „In Gottes Namen“ geführt. Der 35-Jährige leitet das Reportageformat Y-Kollektiv und ist Mitbegründer der Produktionsfirma „Sendefähig GmbH“ mit Sitz in Bremen.
- Als Autor vor und hinter der Kamera berichtete er über Zeitgeschehen, Rechtsradikalismus und Salafismus und wurde mehrfach für Preise nominiert und ausgezeichnet.
- Für den aktuellen Film kooperierte das Y-Kollektiv mit dem „Mannheimer Morgen“.
- Stephan Alfter (45) ist Redakteur beim „Mannheimer Morgen“ und dort als Reporter in der Metropolregion unterwegs.
- Als Speyerer lebt Alfter in dem Bistum, das seit Monaten wegen der Missbrauchsvorwürfe unter Strom steht. Das Kinderheim Engelsgasse kennt er durch mehrere Begegnungen mit Bewohnern seit Mitte der 80er Jahre.
- Vier Monate lang arbeitet er gemeinsam mit Leiffels an der nun vorliegenden Doku. Seine Hoffnung: Die Aufarbeitung muss gelingen.
Für „Rabiat“-Reporter Leiffels ist der Film auch eine persönliche Reise. Einen Teil seiner Jugend verbrachte er in einer christlichen Jugendgemeinde mit Ausflügen, Lagerfeuer und Stockbrot. Seine Werte, so sagt er, hat er von der Kirche. Missbrauch, pädophile Priester, Sexparties - all das macht ihn umso betroffener. Und deshalb begibt sich der Gründer des Youtube-Kanals Y-Kollektiv mit seinem Zeitungskollegen Alfter vor Ort auf Spurensuche. In Speyer, wo leitende Nonnen des Ordens der Niederbronner Schwestern Kinder in den 1960er- und 1970er Jahren systematisch Priestern zum Missbrauch zugeführt haben sollen, wo Betroffene sogar von einer Art Zuhälterring für pädophile Priester berichten. Im Mittelpunkt der Vorwürfe: Der bereits verstorbene Ex-Generalvikar Rudolf Motzenbäcker.
Draußen ist es dunkel. Die Kamera ist am Armaturenbrett befestigt und filmt durch das Lenkrad in Leiffels’ Gesicht. „Die Recherche macht einen so langsam wahnsinnig“, berichtet er. Nach 14 Tagen in Speyer und unzähligen Interviews und Hintergrundgesprächen mit Messdienern, mit aktiven und ehemaligen Priestern und mit Menschen aus der Gemeinde ist der Erkenntnisgewinn geringer als erwartet. Frust macht sich breit. „Hier kommt man einfach nicht weiter“, muss Leiffels ernüchtert feststellen.
Sackgassen, beklemmende Gespräche mit Opfern, unzählige Telefonate, Fleißarbeit im Archiv des Bistums, zu dem Leiffels und Alfter Zutritt erhalten - es ist eine mühsame Recherche, die die Journalisten teilweise an ihre Grenzen bringt, sie zweifeln und verzweifeln lässt. Welche Anschuldigungen sind wahr? Was ist gelogen? Und weshalb ist das Thema im Bistum so lange totgeschwiegen worden? Der Zuschauer erlebt das Gefühlschaos mit, schaut den Protagonisten gewissermaßen beim „Dreckaufwühlen“ über die Schulter. Beim Klinkenputzen. Teils einfach nur mit verwackelter Handkamera gefilmt.
In Speyer treffen sie auf eine zerrissene Institution. Auf einen sichtlich angeschlagenen Bischof Wiesemann, den die Missbrauchsvorwürfe in „seinem“ Bistum auszuzehren scheinen. Auf einen Generalvikar Andreas Sturm, der Fehler einräumt, den Finger in die Wunde legt, etwas zum Besseren verändern will. „Wenn wir jetzt hier nicht ehrlich aufklären, verlieren wir jegliche Reputation. Und dann können wir als Kirche, finde ich, auch einpacken“, sagt er im Interview mit den Journalisten. Es ist ein Bistum, das sichtlich um Aufklärung bemüht ist, auch wenn alles unendlich schwerfällig erscheint. Eines, das Opfer nicht mehr als Bedrohung des eigenen Selbstverständnisses ansieht, sondern den unbequemen Tatsachen ins Auge sieht.
Schonungslose Reportage
Wahrheit. Lüge. Hoffnung. Verzweiflung. Aufklärung. Vertuschung. Davon erzählt „Rabiat: In Gottes Namen“ auf schonungslose Art und Weise. Es ist eine Reportage, die an die Nieren geht, die den Zuschauer aber nicht komplett hoffnungslos zurücklässt. Ein Film, der das Gefühl vermittelt, dass endlich etwas ins Rollen kommt. Und der einen denken lässt: In Gottes Namen, jetzt muss die katholische Kirche doch endlich reinen Tisch machen.
Schwerpunktthema Missbrauch & Gewalt
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