Oft Gewalt durch Eltern

Viele Kinder leiden im Verborgenen

Von 
Stefanie Ball
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Auch psychische Misshandlungen – wie Isolierung und emotionale Kälte – rufen bei Kindern große Qualen hervor. © istock

Das Recht auf gewaltfreie Erziehung ist seit dem Jahr 2000 gesetzlich verankert. Doch noch immer werden viele Kinder Opfer von körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt. Zugleich fehlen Zahlen, wie und wo Übergriffe genau stattfinden.

Die Autorin dieser Zeilen, geboren 1970, kann sich noch erinnern, wie ihre Sportlehrerin auf dem Gymnasium mit dem Schlüsselbund nach Schülerinnen warf, die beim Warmlaufen nicht schnell genug durch die Turnhalle rannten. Niemand hat das damals hinterfragt. Das war vielleicht Mitte der 1980er Jahre und noch nicht wirklich lange her, dass körperliche Strafen an Schulen verboten worden waren, nämlich 1973. Bis sich das bis zur letzten Dorfschule herumgesprochen hatte, dauerte es noch eine Weile.

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Noch länger dauerte es, ehe im Jahr 2000 mit dem Paragrafen 1631 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ein Recht eines jeden Kindes auf gewaltfreie Erziehung verankert wurde. Ursprünglich, in der Fassung des BGB von 1900, hatte genau dieser Paragraf dem Vater das Recht auf den Einsatz „angemessener Zuchtmittel“ zugestanden.

Die Idee, den Nachwuchs mit Hilfe körperlicher Züchtigungen zu erziehen, zieht sich durch die gesamte Geschichte der Pädagogik, wie Norbert M. Seel und Ulrike Hanke in ihrem Buch über die Geschichte der Erziehung schreiben. So empfiehlt vor mehr als 4000 Jahren im Alten Ägypten ein hoher Beamter namens Ptahhotep: „Ein Sohn stirbt nicht von dem Prügeln der Hand seines Vaters. Wer aber seinen Sohn so lieb hat, dass er zugrunde geht, richtet sich selbst zugrunde, denn Stock und Scham schützen einen Sohn gegen den Fall.“

Kinder sollen durch "maßvolle" Prügelstrafe lernen

Ähnliches wusste der Prediger Berthold von Regensburg 1240 zu verkünden: „Von der Zeit an, wenn das Kind die ersten bösen Worte spricht, sollt ihr ein kleines Rütlein bereithalten, das jederzeit an der Decke oder in der Wand steckt.“ Eine „maßvolle“ Prügelstrafe wurde nicht nur akzeptiert, es wurde davon ausgegangen, dass Kinder nur dann Wissen und Tugenden lernten, wenn sie leiden.

Wie sehr dieses Denken die Zeiten überdauert hat, trotz reformpädagogischer Ansätze Ende des 19. Jahrhunderts, die das autoritäre Denken in Frage stellte, zeigt eine Radioreportage des Deutschlandfunks, in der die Nachkriegsgeneration von ihren Erfahrungen berichtet. So erzählt Detlef, Anfang 70, der in Wirklichkeit anders heißt, wie sein Vater, wenn Detlef mit einer schlechten Note nach Hause gekommen sei, mit der Schnur vom Bügeleisen auf ihn eingedroschen habe, bis er blutete.

„Ich bin dann ins Schlafzimmer gegangen, und es war eine verrückte Situation, ich bin auf die Fensterbank gestiegen und habe überlegt, komm, wenn jetzt mein Vater reinkommt, ich springe runter, damit meine Geschwister vor so etwas bewahrt werden. Ja, zum Glück kam er nicht rein. Diese ganze Geschichte hat mich sehr lange begleitet“, erzählt Detlef.

Erst mit dem Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung vor 20 Jahren beginnen sich die Einstellungen zu Körperstrafen und psychischer Gewalt zu verändern. So geben in einer Umfrage von Unicef und deutschem Kinderschutzbund 2005 drei Viertel an, einen „Klaps auf den Hintern“ als Erziehungsmethode verwendet zu haben. 2020 sinkt der Anteil auf 43 Prozent.

Übergriffe in Familien werden heutzutage häufiger gemeldet

Ohrfeigen halten heute nur noch 18 Prozent für angebracht, 2005 war es mehr als die Hälfte. Umgekehrt zeigt sich an den Zahlen aber auch: Noch immer ist es für Eltern normal, Kinder körperlich zu bestrafen. Das spiegelt sich auch in der Statistik wider: Danach stellten die Jugendämter im Jahr 2019 bei rund 55 500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung fest – zehn Prozent mehr als 2018. Als Grund für den Anstieg nennt das Statistische Bundesamt mehr Fallzahlen, aber auch eine generelle Sensibilisierung von Bevölkerung und Behörden, so dass mehr Übergriffe in Familien gemeldet werden. Die meisten Kinder wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf, bei rund einem Drittel der Fälle wurden Hinweise auf psychische Misshandlungen – dazu zählen beispielsweise Einschüchterungen, Demütigungen, Isolierung und emotionale Kälte – gefunden. In 27 Prozent der Fälle gab es Anzeichen für körperliche Misshandlungen.

Auch sexueller Missbrauch bleibt ein großes Thema. Das Bundeskriminalamt zählte im vergangenen Jahr fast 15 000 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern (unter 14), viele davon im sozialen Umfeld, in den Familien, im Freundes- und Bekanntenkreis. Was Prävention schwierig macht: Es gibt keine genauen Zahlen, wie und wo genau Missbrauch passiert. Das Dunkelfeld ist riesig und seit Jahren genau das: dunkel und kaum erforscht.

Freie Autorin

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