Missbrauch & Gewalt

Wenn der Arzt eine zu große Nähe zum Patienten sucht

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Eine Ärztin hört eine Patientin im Behandlungszimmer ab. © dpa

Nur wenige Männer und Frauen zeigen Grenzverletzungen in der ärztlichen Behandlung an. War die Berührung am Bein zufällig – oder doch nicht? Die #MeToo-Debatte hat den Medizinbetrieb nur deshalb noch nicht erreicht, weil die meisten Opfer schweigen, wenn im Behandlungszimmer etwas schiefläuft. Das Dunkelfeld ist groß.

In Berlin steht ein international anerkannter HIV-Arzt vor Gericht, ihm wird sexueller Missbrauch an Patienten in fünf Fällen vorgeworfen. Er habe das Vertrauen der Männer ausgenutzt und sie aufgefordert, sich vollständig zu entkleiden, und Berührungen in ihrem Intimbereich durchgeführt. Der Arzt streitet die Vorwürfe ab, die Zeugen hätten das fantasiert, es habe sich um legitime Behandlungsmethoden gehandelt. Die Vorwürfe gegen den Allgemeinmediziner kursieren seit Langem, wie viele Opfer es tatsächlich gibt, ist unklar; die Ermittlungen dauerten mehrere Jahre, der Prozessbeginn wurde immer wieder verschoben.

Nicht nur Einzelfälle

Was wie ein Einzelfall klingt, ist keiner. Die #MeToo-Debatte hat den Medizinbetrieb nur noch nicht erreicht. Pro Jahr gibt es knapp eine Milliarde Arztkontakte in den Praxen, läuft hinter der geschlossenen Behandlungstür etwas schief, schweigen die meisten Patienten. „Der Patient vertraut darauf, dass der Arzt weiß, was er tut und dass er das Verhältnis nicht missbraucht und die Grenzen wahrt“, sagt Meinhard Korte. Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker und Facharzt für Allgemeinmedizin sowie Ombudsmann für Fälle von Missbrauch in der ärztlichen Behandlung. Seit acht Jahren gibt es bei der Landesärztekammer Hessen diese Ombudsstelle für Betroffene, Angehörige und andere Ratsuchende. Es ist die einzige in Deutschland. Warum das so ist? Korte: „Dahinter könnte die Vorstellung stehen, wenn wir keine Anlaufstelle haben, haben wir auch keinen Missbrauch.“

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Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, wobei konkrete Zahlen fehlen. Wie auch in anderen Kontexten von sexuellem Missbrauch und Gewalterfahrungen ist das Dunkelfeld groß. Bei Korte rufen jedes Jahr bis zu 100 Personen an, in rund der Hälfte der Fälle liegt ein tatsächliches Fehlverhalten des behandelnden Arztes vor. „Natürlich könnten sich Patientinnen und Patienten auch an die Beschwerdestellen der Ärztekammern wenden, aber das wollen viele nicht, die möchten erst einmal ein vertrauliches Gespräch führen, um zu klären, was da war.“ Viele Betroffene finden oft erst nach Jahren den Mut, sich an Korte zu wenden. Weil sie fürchten, dass ihnen niemand glaubt. Weil sie dem Arzt, den sie vielleicht schon lange kennen, nicht schaden wollen.

Überhaupt ist es für Patienten oft schwer zu beurteilen, wo übergriffiges Verhalten beginnt. War die Berührung am Bein zufällig oder doch absichtlich? Lag die Hand etwas zu lange auf der Brust? Musste die Therapie, privat verschrieben und bezahlt, wirklich sein? „Grundsätzlich beginnt Missbrauch dort, wo der Arzt etwas in die Arzt-Patienten-Beziehung hineinbringt, das nichts mit der Behandlung und dem Behandlungsauftrag zu tun hat“, sagt Korte.

Patienten berichteten ihm häufig nicht von einzelnen Berührungen, sondern von etwas Atmosphärischem, einer Frage nach dem Privatleben etwa, die nicht in den Zusammenhang passt. Wie es nach einem Gespräch mit Korte weitergeht, entscheidet der Patient. Korte kann mit dem Arzt Kontakt aufnehmen, um eine Stellungnahme zu erhalten, wozu der Arzt aber nicht verpflichtet ist. Oft gelingen eine Klärung und Vermittlung. Der Patient kann auch offiziell Beschwerde bei der Ärztekammer einreichen oder Anzeige bei der Polizei erstatten. „Das passiert aber nur sehr selten.“

In der Psychotherapie ist das Verhältnis zwischen Arzt und Patient meist viel enger, die Abhängigkeit des Kranken von seinem Psychotherapeuten groß. „In jeder Behandlung besteht ein strukturelles Machtgefälle. Der Psychotherapeut ist sehr viel mächtiger, weiß viel mehr, und er macht ein Angebot, das selten ist, weil ein Versorgungsmangel besteht und nicht jeder, der eine Therapie möchte, auch gleich eine bekommt“, sagt Andrea Schleu, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Vorsitzende des Ethikvereins in Essen. Es ist die einzige unabhängige und vertrauliche Beratungsmöglichkeit in Deutschland, an die sich Betroffene wenden können.

Die Zahl der Opfer falscher psychotherapeutischer Behandlungen ist hoch. Auf jährlich rund zwei Millionen ambulante und stationäre psychotherapeutische Behandlungen kommen geschätzt 1000 Fälle allein von sexuellem Missbrauch. Daneben gibt es andere Formen der Grenzverletzung, Schweigerechtsverletzungen oder finanziellen Missbrauch. Gemeinsame Aktivitäten, das Singen im selben Chor, ein Spaziergang gelten ebenfalls als übergriffig, „Auch wenn der Patient die Hecke seines Therapeuten schneidet oder der Therapeut ihn bittet, doch seine Stiftung zu unterstützen, verstößt das gegen die Abstinenzregel, persönliche Bedürfnisse des Arztes – abgesehen von dem Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Vergütung – haben in einer Behandlung nichts zu suchen.“

Zu zweit allein im Zimmer

Die Folgen solcher Tabubrüche sind oft verheerend. Denn das Loch, in das die labilen Menschen fallen, ist tief. „Viele Patienten sind hinterher stationär behandlungsbedürftig, sie werden depressiv, manche gar arbeitsunfähig.“ Bis sie begreifen, in welch schädliche Verstrickungen sie geraten sind, vergehen Jahre. Zu einer Anzeige kommt es so gut wie nie. Die Zahl der Strafverfahren liegt bei vier pro Jahr. Das Problem, so Schleu: „In der Psychotherapie sind in der Regel zwei Menschen allein in einem Zimmer. Da stellt sich die Frage, was belegbar ist.“

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