Mannheim. Herr Wurthmann, Sie haben nach der Oberbürgermeisterwahl getwittert: „Mannheim, wir müssen reden.“ Warum?
Constantin Wurthmann: Es haben relativ wenige Menschen gewählt. Das ist bei Kommunal- oder Oberbürgermeisterwahlen zwar nicht unüblich - aber bei der Wahlbeteiligung hat es teilweise massive Diskrepanzen zwischen den Stadtteilen gegeben. Das ist erschreckend, weil es ein Indikator dafür ist, dass Teile der Gesellschaft sozial und politisch abgehängt sind.
Sie haben davon gesprochen, dass die Wahlbeteiligung auf der Hochstätt bei 5,3 Prozent lag. In Neuostheim haben fast 32 Prozent gewählt, auf dem Lindenhof etwa 36,5 Prozent. Wie kommt das?
Wurthmann: Leider stellt die Stadt Mannheim keine vollständigen Daten zur Verfügung, in der auch die Briefwahlstimmen berücksichtigt sind, um sie auf einzelne Stadtteile genau herunterzubrechen. Das würde eine noch genauere Analyse ermöglichen, um die Wahlbeteiligung differenzierter zu betrachten. Auf Basis der Daten, die uns vorliegen, können wir aber sehen, dass in Stadtteilen, in denen viele Menschen in Lohn und Brot sind und wenig Armut herrscht, mehr gewählt wird als in Stadtteilen, in denen die Beschäftigungsquote niedriger und die Mindestsicherungsquote höher ist. Eine abschließende Bewertung können wir wegen der fehlenden Daten aber leider nicht vornehmen.
Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Wahlbeteiligung?
Wurthmann: Wir wissen, dass sich an Wahlen eher gebildetere Menschen beteiligen, die in der Regel auch politisch interessierter sind und ein höheres Einkommen haben. Das führt auch dazu, dass die Interessen von Menschen mit niedriger formeller Bildung und weniger Einkommen politisch unterrepräsentiert bleiben.
Wahlforscher aus Düsseldorf
- Constantin Wurthmann (Bild) wurde 1992 in Düsseldorf geboren und studierte an der Universität Duisburg-Essen, Zürich und in Rumänien Politikwissenschaften.
- 2022 wurde Wurthmann an der Universität Düsseldorf promoviert.
- Seit 2021 arbeitet Wurthmann als Wahlforscher am Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim. Hier forscht er insbesondere zu Wahlverhalten, politischen Einstellungen und im Bereich der Parteienforschung.
Wäre die Beteiligung denn höher gewesen, wenn auch die AfD einen Kandidaten aufgestellt hätte?
Wurthmann: Die Möglichkeit besteht. Die AfD setzt gerade im Spektrum von Nicht-Wählerinnen und Nicht-Wählern erfolgreich Punkte. Wir wissen aber natürlich nicht hundertprozentig, was passiert wäre, wenn die AfD jemanden aufgestellt hätte. Bei der AfD ist es so, dass sie die Potenziale in diesem Spektrum inzwischen mehr oder weniger ausgeschöpft hat. So viel höher wäre die Wahlbeteiligung deshalb nicht gewesen, vermute ich. Abschließend kann man das nicht beurteilen.
Sie sagen, dass sich eine niedrigere Beschäftigungsquote und höhere Mindestquote negativ auf die Wahlbeteiligung ausgewirkt haben. Ist das eine generelle Beobachtung oder ist Mannheim da eine Ausnahme?
Wurthmann: Mir ist wichtig zu betonen, dass nichtbeschäftigt sein nicht gleichbedeutend mit Arbeitslosigkeit ist. Man kann auch nichtbeschäftigt sein, weil man zum Beispiel Angehörige pflegen muss. Deshalb war es wichtig, die Mindestsicherungsquote zu betrachten und nicht die Arbeitslosenquote. Die Mindestsicherung ist ein klarer Armutsindikator. Ja, man weiß: Wenn Menschen keine Beschäftigung haben, werden sie tendenziell eher demobilisiert und können gerade polit-apathisch werden.
Was hat das zur Folge?
Wurthmann: Da tut sich nicht nur in Mannheim eine Diskrepanz auf: Menschen mit einer niedrigeren formelleren Bildung und geringem Einkommen werden immer stärker abgehängt. Die Beteiligung am politischen Geschehen und an der demokratischen Gesellschaft ist mit sehr vielen Ressourcen verbunden. Man sieht auch, dass zum Beispiel Menschen aus der klassischen Arbeiter- und Arbeiterinnenschicht heute politisch massiv unterrepräsentiert sind - auf kommunaler, auf Landes-, auf Bundes- und auf europäischer Ebene. Das sind Fragen, über die wir nachdenken müssen. Wie können wir wieder mehr demokratische Teilhabe ermöglichen?
Wie bringt man Menschen aus diesen Bereichen wieder in die Wahlkabinen?
Wurthmann: Wir sehen in anderen Städten, in denen detailliertere Daten vorliegen, dass viele Parteien - vor allem Grüne, CDU, FDP und AfD - dort Wahlkampf machen, wo sowieso viele Menschen wählen. Die Parteien gehen aber selten flächendeckend in Bezirke und Stadtteile, in denen kaum gewählt wird. Das hat auch damit zu tun, dass sie nicht genug Mitglieder haben, um alles abzudecken und überall Wahlkampf zu machen. Aber natürlich bedarf es gerade bei Menschen, die sich von der Politik nicht mehr verstanden fühlen, viel Aufwand und Zeit zur Remobilisierung oder um sie überhaupt erstmal zu aktivieren. Es gibt in jeder Gesellschaft Menschen, die nicht teilhaben wollen. Aber es gibt auch die, die durch direkte Ansprache mobilisiert werden können.
Die hat es aber doch gegeben. Es gab in diesem Wahlkampf so viele Podien wie nie. Die Kandidaten haben die Stadtteile besucht, waren an Haustüren und haben auch soziale Medien bespielt. Muss man sich - auch mit Blick auf die Oberbürgermeisterwahl 2015 mit ähnlich schwachen Zahlen - einfach damit abfinden, dass mit etwa 30 Prozent Wahlbeteiligung das Maximum erreicht ist?
Wurthmann: Damit sollte man sich nicht abfinden. Es ist auch eine Frage, wer sich eine Diskussion anschaut. Auch da gibt es eine soziale Selbstselektion. Diskussionen werden häufig von Menschen mit höherer formeller Bildung, höherem Einkommen und stärkerem politischen Interesse besucht. Aus der Forschung wissen wir, dass Haustürbesuche nach wie vor das effizienteste Mittel sind, um Menschen zu mobilisieren. Das Problem ist aber auch dabei: Je weniger Mitglieder es gibt, desto weniger Ressourcen haben Parteien. Viele Parteien haben aber bis heute nicht verstanden, dass wir nicht mehr in den 60er-Jahren leben, in denen es ausreichend war, einmal vier bis sechs Wochen vor der Wahl die Trommel zu rühren. Heute braucht es kontinuierliche Arbeit. Menschen haben kein Vertrauen mehr in Parteien und auch nicht in Politikerinnen und Politiker. Das bedeutet aber nicht, dass sie Demokratie ablehnen. Sie sind einfach unzufrieden. Das kann man als Populismus verunglimpfen. Man kann sich aber auch essentiell damit auseinandersetzen, wie es dazu kommt, dass Menschen unzufrieden sind und nicht wählen gehen.
Haben Sie eine Idee?
Wurthmann: Parteien und Politiker müssen sich überlegen, wie sie präsenter sein können. Es reicht nicht, alle zwei Monate einen Stand am Marktplatz zu machen. Es würde schon helfen, längerfristig Haustürbesuche zu machen. Parteien glauben oft immer noch, Bürgerinnen und Bürger seien in der Bringschuld. Es sind aber vor allem die Parteien, die sich hinterfragen müssen. Am Wahlabend sagen Politikerinnen und Politiker, ihre Botschaften seien nicht durchgedrungen. Das kann man so sagen. Man kann sich aber überlegen, ob die Botschaften vielleicht einfach schlecht waren und nicht verstanden worden sind. Parteien zeichnen Wählerinnen und Wähler oft mit einer Glasglocke, durch die nichts durchdringt. Das ist Unsinn. Bürgerinnen und Bürger sind mündig und haben auch mit dem Fernbleiben von einer Wahl eine Entscheidung getroffen. Da müssen die Parteien jetzt in sich gehen. Auch die CDU sollte im Jubeltaumel nicht denken, dass es bei der Kommunalwahl genauso läuft. Wir haben eine Situation, bei der es gesamtgesellschaftlich um viel geht.

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Ist es nicht etwas einfach, nur die Parteien in die Pflicht zu nehmen? Man hört oft, dass vielen Menschen nicht klar ist, wie wichtig das Amt des Oberbürgermeisters ist. Ist die geringe Wahlbeteiligung nicht auch ein Problem der politischen Bildung im Allgemeinen?
Wurthmann: Wir haben das Problem, dass schon in der Schule zu wenig Augenmerk darauf gelegt wird, wie sich politische Ebenen unterscheiden. Eine der absurdesten Aussagen ist, die wahrscheinlich viele im Oberbürger- oder Kommunalwahlkampf zu hören bekommen: ,Ihr macht im Ukraine-Konflikt doch dies oder das.’ Mit dem Krieg hat Kommunalpolitik nichts zu tun. Viele wissen oft gar nicht, welche Ebene für was zuständig ist. Ja, es wird zu wenig über politische Bildung gesprochen. Das fängt aber schon bei der Frage an, was eine Fünf-Prozent-Hürde ist oder wer den Bundespräsidenten oder den Bundeskanzler wählt. Man bekommt das Problem, wie man Menschen vermitteln will, wie wichtig die kommunale Ebene ist, wenn die Sensibilität dafür von Grund auf fehlt. Dieser großen Herausforderung müssen sich alle Parteien stellen.
Haben Sie eine Idee, wie man das lösen kann?
Wurthmann: Das würde ich mir nicht anmaßen. Die Aufgabe der Forschung ist es, auf Missstände hinzuweisen und zum Nachdenken anzuregen. Die abschließende Bewertung müssen andere treffen. Wenn man aber weiß, dass die persönliche Ansprache nachgewiesen der wichtigste Indikator ist, kann man sich überlegen, was man daraus macht. Die Ansprache hilft auch beim Anwerben von Mitgliedern. Wenn man die Ressourcen hat, sollten Parteien über diese Option nachdenken.
Muss die persönliche Ansprache an der Haustür geschehen oder helfen da auch soziale Medien?
Wurthmann: Eine persönliche Ansprache kann auch gelingen, wenn man auf sozialen Medien auf Nachrichten direkt und persönlich reagiert. Die Haustür bleibt aber am persönlichsten. Ich glaube, es würde auch im positiven Sinne viel schockierender wirken, wenn Kandidatinnen und Kandidaten, die erst in einem oder zwei Jahren antreten, klingeln - und nicht erst drei oder vier Wochen vor der Wahl. Wenn sie mit Wählerinnen und Wählern so früh ins Gespräch kommen, ist das glaubwürdiger, wenn man später Wahlkampf mit der Aussage macht: Mir wurde dies und das bei Haustürbesuchen erzählt. Als Bürgerin oder Bürger lese ich das, erinnere mich an das Gespräch und finde das toll. Vielleicht erzähle ich das auch weiter. Das hat eine positive Wirkung, die wir nicht unterschätzen sollten.
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