Haifa. Bis zu dieser Nacht fiel einem da ein: Sonne, Zitronen und Wärme. Selbst im Februar. Dies hier ist aber ganz anders. Um 3.17 Uhr morgens wanken Erde, Hotel und Betten. Es stürmt. Es regnet. Es ängstigt. Wind pfeift durch die Fenster. Wasser prasselt gegen die Scheiben. In den Schulen heulen die Sirenen. Ein Aufruhr der Gefühle.
Für Sturm, Regen und Kälte ist sicherlich der Klimawandel verantwortlich. Es ist, auch für diese Jahreszeit, nicht üblich, wird uns die junge Dame an der Rezeption am Morgen danach sagen. Für das furchtbare Wanken des Hotels im Haifaer Stadtteil Carmel hoch über den Dächern der Altstadt und Israels größtem Seehafen aber sind es, wie wir dann ebenfalls erfahren, tektonische Bewegungen: die Ausläufer des verheerenden Erdbebens an der syrisch-türkischen Grenzregion. Tausende Tote, Millionen Betroffene. Da fühlt man sich mit seiner Portion Furcht in einem wankenden Hotel im nach hinein fast kindisch.
Was für ein Willkommensgruß von Mannheims Partnerstadt! Da sind wir also. Wir, das ist eine kleine Delegation um Buga-Kulturchef Fabian Burstein, zu der am letzten Tag auch noch David Linse vom Fachbereich Internationales, Integration und Protokoll stößt. Grund der Reise: Kontaktpflege und vor allem das große Eröffnungsevent der Bundesgartenschau am 14. April mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz. Der Star: Das Haifa Symphony Orchestra mit Chefdirigent Yoel Levi wird auf der großen Bühne sitzen. 1800 geladene Gäste vor ihm.
Das Werk ist eine Gratwanderung zwischen den Welten
Die Musik, eine Uraufführung, wird von zwei Wahl-Mannheimern komponiert sein: Konstantin Gropper und Ziggy Has Ardeur. Zwei Komponisten aus dem Dunstkreis der Popakademie, die auch schon Filmmusik für Netflix-Serien wie „How To Sell Drugs Online (Fast)“ geschrieben haben. Die beiden sitzen auch schon ein paar Stunden später vom Prasselregen durchnässt im Parkett des Auditoriums an der Mahanayim-Straße. Vor ihnen: die Partitur. Auf der Bühne: das große Orchester. „This should sound a bit more cartoonish“, ruft Gropper vom Sitz aus zur Bühne, „more Disney!“
Die Buga und das Werk "Rhizom"
- Eröffnungsakt: Am 14. April um 10 Uhr spielt das Haifa Symphony Orchestra (HSO) auf der großen Buga-Bühne auf Spinelli das Werk „Rhizom“ von Konstantin Gropper und Ziggy Has Ardeur. Der Veranstaltung mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist für geladene Gäste, kann aber von außerhalb des Bühnenbereichs verfolgt werden und soll auch im SWR-Fernsehen zu sehen sein. Am 15. April spielt das HSO dann Werke von Lavri, Tchaikovsky und Sibelius.
- Haifa Symphony Orchestra: Das HSO ist eine tragende Säule im kulturellen Leben der israelischen Hafenstadt. Der Klangkörper unter der Leitung von Maestro Yoel Levi spielt in ganz Israel, auf internationalen Festivals und wird 2024 eine USA-Tournee machen.
- „Rhizom“: Das Werk von Konstantin Gropper und Ziggy Has Ardeur dauert etwa 50 Minuten und ist dreigeteilt. Zur Musik des Orchesters spielen Gropper und Has Ardeur Gitarre, Klavier, Electronics, Synthesizer, Vocoder und singen.
Dirigent Rotem Nir dreht sich um. Ein junger sympathischer Dirigent. Ein paar Ohrringe zieren seinen Kopf. Er übernimmt die Einstudierung für Maestro Levi. Gropper geht es um eine chromatisch schmetternde Trompetenpassage mit Dämpfer. Maestro Nir gibt die Information weiter. Takt 43 bis 46 von „Everything is everywhere“ werden wiederholt, danach kommt direkt die Stelle mit Gesang. Gropper singt leise mit: „More flowers I noticed, the more it is true: the more I see, the more is always new.“ Je mehr Blumen er bemerkt habe, desto mehr sei es wahr: Je mehr er sehe, desto mehr sei immer neu. Sofort erinnert man sich an sein Projekt Get Well Soon.
Klar, die Buga handelt schließlich von Pflanzen. „Rhizom“, das Werk des Duos Gropper/Has Ardeur, tut es auch. „Rhizom“ bedeutet so viel wie Wurzelstock, der Teil unterhalb der Erdoberfläche. In einem Satz wird darin auch eine Pflanze ein Solo spielen. Per Sensoren. Das Werk der beiden ist eine Gratwanderung zwischen den Welten. Poprhetorik, Hollywood, Broadway und ein Funke Avantgarde geben sich darin minimalistisch die Hand, Pathos und Ironie verschmelzen zur Karikatur, kurzum: Es ist nicht unbedingt ein Gemisch, das mit klassisch geschultem Personal wie einem Orchester zum Selbstläufer wird. „Wenn man, wie wir, ohne den klassischen Hintergrund kommt, ist das normal, dass nicht alle das ernst nehmen“, sagt Has Ardeur: „Damit müssen wir rechnen. Das müssen wir aushalten.“
Ruth Scholz, erste Klarinettistin im Orchester, widerspricht: „Ich mag diese Musik. So etwas spielen wir viel zu selten“, sagt sie in der Pause. Aber auch: „Es ist halt sehr einfache Musik.“ Scholz ist noch keine 30. Es ist ihre erste Stelle. Sie ist Kind deutsch-israelischer Eltern. In Aachen geboren hat sie nicht viel Zeit in Deutschland verbracht. Ihr Deutsch ist gut. Ihre Eltern sehen sich nur alle sechs Monate. Sie leben zwischen Aachen und Tel Aviv.
Überhaupt ist das Orchester von Haifa sehr international. Scholz sagt, dass rund 90 Prozent des Orchesters Russen seien, später wird diese Zahl von Manager Yair Mashiach korrigiert. Es seien 80 Prozent. „Im Zusammenwirken vor allem von Russen und Ukrainern sind wir ein positives Beispiel für das friedvolle Miteinander der Nationen und Kulturen“, sagt Mashiach in seinem Büro. Der Mann trinkt Kaffee. Er ist stolz auf seinen Klangkörper. Dennoch verlässt er ihn im Mai. Nach Tel Aviv.
Kuznetsovs Flucht aus Moskau
Russland und die Ukraine. Bei den ersten Geigen spielen da Mark Tiktiner und Andrei Kuznetsov Seite an Seite am ersten Pult. Der eine, Tiktiner, ist Ukrainer aus Charkiw, kam aber schon im Alter von vier Jahren nach Israel und hat vor einiger Zeit in München studiert. Auch er spricht gut Deutsch. „Das Stück der Männer aus Mannheim ist interessant“, sagt der Konzertmeister: „Gut, dass wir auch so etwas spielen.“ Als wir über den Krieg sprechen und über seine Familie, ruft er Kuznetsov zu uns. Die beiden jungen Männer scheinen befreundet zu sein. Grenzen herrschen zwischen Nationen. Nicht zwischen Menschen.
Kuznetsov, Kapuzenshirt und Jeans, spricht kein Englisch. Kein Deutsch. Kein Französisch. Nur Russisch. Sein Freund, der Ukrainer, übersetzt. Kuznetsov ist des Krieges wegen nach Israel emigriert. Er wirkt aufgeräumt und wach, während er sein Instrument im Geigenkasten verpackt. Mit seiner Frau und zwei Kindern hatten sie sich gerade noch eine Wohnung in Moskau gekauft, sagt er.
Dann kam der 24. Februar 2022. Und die Flucht nach Israel. Kein Krieg! Die beiden hätten alles hinter sich gelassen. Die Wohnung. Die Freunde. Das Bankkonto. Ein Bankkonto, das von den Russen sofort gesperrt wurde. Wie immer. Russland ist ein Teil des Orchesters. Scholz, die Klarinettistin, lernt deswegen seit einiger Zeit Russisch, „sonst kann ich nicht mit den Russen sprechen. Die sprechen nicht Hebräisch“, sagt sie. Etwas verlegen. Und die Streicher, fügt sie hinzu, seien nun mal im Prinzip alle Russen. Na ja, bis auf Taktiner, den Ukrainer. Um kurz nach 12 Uhr ist die Probe vorüber. Ein Bus bringt viele der Musikerinnen nach Tel Aviv. Viele wohnen dort.
Die wenigen Tage in Haifa bleiben regnerisch, stürmisch und kühl. Immer wieder erschüttern heftige Sturmböen und Regengüsse die Vegetation und Menschen. Einmal geht auch ein heftiges Graupelgewitter nieder. Die Straßen an den Hängen von Carmel werden zu rauschenden Bächen. Doch die Möglichkeit, die rund 90 Kilometer entfernte Weltstadt Tel Aviv, Haifas vibrierendes Hafenviertel oder die faszinierende Religion der Baha’i im heiligen Ort des Haifaer Weltzentrums mit den prachtvollen Gärten und Gebäuden kennenzulernen, wiegen die meteorologischen Härten auf.
Eingebrockt hat diese Mannheimer Reise, diese Kooperation mit der Partnerstadt, dieses Abenteuer er: Fabian Burstein. Er, der gebürtige Wiener, ist mit seiner chronisch guten Laune und dem Wiener Schmäh Mittelpunkt der Delegation. „Ich bin total glücklich“, wird er nach einer Probe beim Mittagessen in einem sympathischen Restaurant mit Orchestermanager Mashiach sagen. Falafel. Hummus. Salat und noch viel mehr. Alles extrem lecker. Es herrscht gelöste Stimmung. Er sei froh, sagt Burstein, „dass sich die Musik aufs Orchester übertragen hat.“ Er kannte sie in ihrer elektronischen Variante schon aus Mannheim und war, wie er zugibt, in den ersten 40 Sekunden so gerührt (er sagt „geflasht“), dass er Gänsehaut hatte. Der Wiener ist mit dem Auftrag an Gropper und Has Ardeur ein Risiko eingegangen. Wer eine Uraufführung bestellt, bekommt eine Uraufführung, ergo: eine Wundertüte.
Mit Walzer und Marsch zur Buga 23
Die aber in diesem Fall auch voller Wunder ist. Maestro Nir findet das sehr gut. „Als ich zum ersten Mal in die Partitur geguckt habe, dachte ich: cool!“ Nir, der in Tel Aviv auch Assistent von Mannheims langjährigem GMD Dan Ettinger ist, meint, das sei alles sehr gut aufgeschrieben: „Das Stück ist voller Farben, voller Ideen. Es ergeben sich kaum Fragen.“ Für das Orchester, so Nir, sei es ein „positiver Schock“, das zu spielen. Bei der zweiten Probe klingt das dann auch schon ziemlich perfekt. Die Farben strahlen, das Pochen groovt, die Melodien schwelgen, die Figuren weben sich mit stoischer Unbeirrbarkeit in die Zeit. Das hat einen Grund: „Auch die Tempi sitzen schon viel besser“, wird Gropper danach sagen, „Maestro Nir ist sehr gut auf all unsere Anmerkungen eingegangen und hat an einigen Stellen sehr detailliert gearbeitet.“
Buga kompakt
Die wichtigsten Infos zur Buga 23 in Mannheim in Kürze:
- Die Bundesgartenschau in Mannheim fand vom 14. April bis 8. Oktober 2023 statt.
- Ausgerichtet wurde sie auf dem Spinelli-Gelände zwischen Feudenheim und Käfertal. Auch der Luisenpark wurde mit eingebunden. Der Luisenpark war bereits 1975 ein wichtiger Teil der Bundesgartenschau in Mannheim.
- Eine Attraktion der Buga 23 war die Seilbahn, die die neuen Anlagen und den Luisenpark miteinander verband. Die Seilbahn war 2049 Meter lang und bestand aus 64 Kabinen. Damit konnten knapp 3000 Passagiere pro Stunde und Richtung befördert werden.
- Auf der Bundesgartenschau wurden etliche verschiedene Veranstaltungen angeboten: ein Überblick.
- Die Internetseite der Buga: www.buga23.de
- Lageplan Luisenpark - hier klicken (PDF-Download)
- Lageplan Spinelli-Gelände - hier klicken (PDF-Download)
Bei der zweiten Probe haben Gropper und Has Ardeur dem Orchester auch ihr Stück erklärt, schließlich geht es den beiden ja in Sätzen wie dem Walzer „Idyll“, dem kurzen „Schrei“ oder dem ein bisschen nach klassischer Moderne klingenden „Rizophere March“ um eine Thematisierung der Buga-Themen unter dem Banner „Beste Aussichten“, wobei es dabei explizit auch um Natur geht. Die Musiker seien „dankbar für ein paar erläuternde Worte“ gewesen, sagt Gropper, „wir hatten das Gefühl, dass das Orchester Spaß an den Stücken hatte.“
Die Reise neigt sich dem Ende entgegen. Das Wetter wird jetzt schön. Ausgerechnet. „Nehmen Sie irgendetwas aus Israel mit nach Deutschland“, fragt die junge Dame am Zoll des Flughafens Tel Aviv Ben Gurion. „Starke Erinnerungen“, sage ich, ziehe meinen Koffer weiter und freue mich schon auf das Wiedersehen mit den Musikern am 11. April. Diesmal in Mannheim. Und hoffentlich ohne Regen, Beben und Sturm.
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