Mannheim. Tausende Jugendliche haben am Mittwoch Zeugnisse bekommen und können nun durchschnaufen. Neben ihnen werden das auch viele Pädagoginnen und Pädagogen nach einem Schuljahr machen müssen, das gesellschaftspolitisch alles andere als einfach war. Der Überfall der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel und das darauffolgende - international inzwischen umstrittene - militärische Vorgehen Israels in Gaza polarisiert auch an Mannheims Schulen und stellt Lehrkräfte vor Herausforderungen. „Es hat sich zum Beispiel gezeigt, dass manche Lehrerinnen und Lehrer sich nicht trauen, den Nahost-Konflikt im Unterricht offen anzusprechen, wenn 75 Prozent und mehr der Kinder Migrationshintergrund haben“, hat etwa Oberbürgermeister Christian Specht (CDU) vergangene Woche im Interview mit dieser Redaktion gesagt.
Antisemitische Vorfälle an Schulen: Dunkelziffer befürchtet
Das Kultusministerium verzeichnet landesweit bereits einen Anstieg antisemitischer Vorfälle in Bildungseinrichtungen. Der Mannheimer Landtagsabgeordnete Boris Weirauch (SPD) und die Beratungsstelle OFEK kritisieren aber die Art der Datenerhebung und fürchten eine Dunkelziffer bei der Zahl der Fälle. Fragen und Antworten.
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Wie haben sich antisemitische Vorfälle in Bildungseinrichtungen über die Jahre entwickelt?
Das Ministerium hat im April 2018 Schulen dazu verpflichtet, antisemitische sowie religiöse und ethnisch diskriminierende Vorfälle zu melden. Wurden 2017/18 laut einem Ministeriumssprecher landesweit noch drei Fälle gemeldet, waren es im darauffolgenden, dem ersten kompletten Schuljahr nach Einführung der Pflicht, 36. Von 2020/21 bis 2022/23 sind jeweils zwischen 15 und 19 Fälle gemeldet worden. In diesem Schuljahr ist die Zahl auf 86 angestiegen. Vier davon stammen aus Mannheimer Bildungseinrichtungen, teilt der Sprecher weiter mit.
Grundsätzlich sei zu beobachten, dass die Zahl der Fälle mit diskriminierenden Hintergründen, wozu das Ministerium auch ethnisch-motivierte, sexistische und queerfeindliche Vorfälle zählt, gestiegen ist. „Dabei machen die Vorfälle mit einem rechtsextremen Hintergrund die Mehrzahl aus“, sagt der Sprecher. Eine regionale Häufung in Mannheim sei nicht erkennbar.
Sind das alle Fälle, die aus Mannheim bekannt sind?
Nein. Auf eine Anfrage von Weirauch hin, der als Sprecher seiner Fraktion gegen Antisemitismus das Ministerium nach „bekanntgewordenen antisemitischen bzw. rechtsradikalen Vorfällen“ gefragt hat, zählt das Kultusministerium dem Landtagsabgeordneten Ende Mai weitere Fälle aus Mannheim auf, die auch das Landesinnenministerium und das Justizministerium erfasst haben. Laut Antwort des Kultusministeriums sind demnach mindestens sieben Fälle aus Mannheim bekannt, die nach dem 7. Oktober 2023 gemeldet wurden. Zudem gibt es einzelne Fälle in den Jahren 2019, 2020, 2022 und im Jahr 2023 vor dem 7. Oktober.
Um welche Arten von Fällen handelt es sich in Mannheim?
Laut Kultusministerium sind mehrere Arten bekannt. So gab es Schmierereien und Graffiti, die als rechtsradikal oder antisemitisch eingestuft werden, oder Hakenkreuz-Schmierereien. Das Ministerium berichtet Weirauch auch von Jugendlichen, die den Hitlergruß gezeigt oder im Klassenchat „rechtsradikale, pornografische oder sexistische Inhalte“ gepostet haben. Zudem wurden im Oktober 2023 in einer Mail an sechs Schulen Straftaten angedroht, die die Polizei als religiös-motiviert eingestuft hat. Auch ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz ist aufgezählt. Nach Informationen dieser Redaktion sollen Unbekannte auf dem Gelände eines Gymnasiums am Tag vor der Europawahl zudem ein Graffito mit dem verbotenen Slogan der SA „Alles für Deutschland“ gesprayt haben.
Warum unterscheiden sich die Zahlen?
Zum einen sind private Einrichtungen von der Meldepflicht ans Kultusministerium ausgenommen. Zum anderen sind Schulen nur verpflichtet, diesem Fälle zu melden, wenn ein Schüler oder eine Schülerin verantwortlich gemacht werden kann. Fälle können deshalb in anderen Ministerien verzeichnet werden, weil etwa die Polizei eingeschaltet wird - nicht aber die Schulverwaltung. Sie tauchen dann in der Statistik des Kultusministeriums nicht auf.
Aktuell besteht die Gefahr, dass die Fälle auf Ebene der Schulverwaltung nur unzureichend erfasst und konsolidiert werden
Das kritisiert Weirauch. „Das greift viel zu kurz, zumal es oftmals schwer ist, die Täterschaft eindeutig zuzuordnen“, sagt er dieser Redaktion. Nicht die Täterschaft, sondern der „Tatort Schule“ sollte für eine Meldung ans Kultusministerium ausschlaggebend sein. Der SPD-Politiker fordert Ministerin Theresa Schopper (Grüne) auf, die Pflicht dahingehend zu verschärfen. „Aktuell besteht die Gefahr, dass die Fälle auf Ebene der Schulverwaltung nur unzureichend erfasst und konsolidiert werden.“ Zudem will er auch private Schulen verpflichten. „Bei Antisemitismus darf es keine blinden Flecken geben. Das sind wir unserer Geschichte schuldig.“
Wie reagiert das Ministerium auf diese Kritik?
Der Sprecher erklärt, dass Informationen über Verantwortliche für die Beurteilung der Lage „notwendig“ seien. „Das setzt eine Benennung des Täters voraus.“ Auch reagieren ihm zufolge Schulen mit „pädagogischen oder anderen Maßnahmen“, wenn Fälle nicht offiziell gemeldet werden müssen. „Zudem gibt es neben der schulischen Meldepflicht auch ein polizeiliches Lagebild. Hier werden Delikte erfasst, auch wenn keine Täterschaft ermittelt werden kann.“ Eine Ausweitung der Meldepflicht auf Privatschulen sei aufgrund der Rechtslage nicht möglich.
Was ist OFEK?
Die OFEK ist die nach eigenen Angaben erste Fachberatungsstelle in Deutschland, die auf Betroffenenberatung bei Erfahrungen mit Antisemitismus spezialisiert ist. Sie berät und unterstützt Betroffene antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten.
Wie äußert sich OFEK zu den Zahlen des Ministeriums?
Ebenfalls kritisch. „Aus unserer Arbeit und aus der Forschung heraus wissen wir, dass antisemitische Vorfälle häufig nicht gemeldet werden“, erklärt Sprecher Alexander Rasumny dieser Redaktion. Es sei unerheblich, ob damit eine innerschulische Meldung an die Lehrkraft oder die Schulverwaltung oder eine externe, etwa an die Polizei, gemeint ist. Er verweist auf eine Studie der EU-Agentur für Grundrechte, nach der lediglich 35 Prozent der zwischen Januar und Juni 2023 Befragten den letzten antisemitischen Vorfall, den sie erlebt haben, gemeldet hätten. Laut einer Studie des Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung von 2020 werden Fälle in der Schule oft nicht gemeldet, weil Lehrkräfte aufgrund des Machtgefälles „nicht die ersten Vertrauenspersonen für Schüler*innen darstellen, wenn es um Beschwerden über Übergriffe geht“, heißt es. „Eine Annahme, dass es über die gemeldete Anzahl von Vorfällen ein Dunkelfeld von weiteren Vorkommnissen gibt, die nicht in der Statistik des Kultusministeriums berücksichtigt sind, ist vor diesem Hintergrund naheliegend“, sagt Rasumny.
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Wie bewerten Lehrerinnen und Lehrer OB Spechts Aussage zum Nahost-Konflikt im Unterricht?
Diese Redaktion hat drei Lehrkräfte gesprochen, die an weiterführenden Schulen in Mannheim Geschichte und Gemeinschaftskunde unterrichten. Nun sind drei Lehrkräfte natürlich nicht repräsentativ, doch fällt auf: Alle äußern sich – anonym – ähnlich wie der Oberbürgermeister, dass sie an ihren Schulen mit einer heterogenen Schulgemeinde versuchen, das Thema im Unterricht weitgehend zu umgehen – aus Angst, Konflikte auszulösen, die nur schwer einzufangen seien. Auf die Zahlen des Landes angesprochen, will sich nur eine Lehrkraft äußern: Sie vermutet, dass die Zahlen „ein wenig“ zu niedrig seien. „Es ist aber auch nicht so, dass wir täglich oder wöchentlich mit Antisemitismus zu tun haben.“
Wie viele antimuslimische Fälle sind seit 7. Oktober registriert?
Seit 7. Oktober ist dem Ministerium ein Fall gemeldet worden, der „neben einem ethnisch diskriminierenden zudem einen antimuslimischen Hintergrund hatte“, erklärt der Ministeriumssprecher. Dieser sei nicht aus Mannheim gemeldet worden. „Die Zahl von antimuslimischen Vorfällen bleibt damit gleichbleibend niedrig“, sagt er - mit Blick auf die offizielle Statistik.
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[3] https://ofek-beratung.de/
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