Herr Specht, Sie sind fast genau ein Jahr Oberbürgermeister. Haben Sie sich das Amt so vorgestellt?
Christian Specht: Ja. Als Erster Bürgermeister hatte ich schon tiefe Kenntnisse davon, wie Verwaltung funktioniert und welche zentralen Themen es in der Stadt gibt. Insofern war die Überraschung nicht groß. Herausforderungen sind vor allem Themen, die von außen in die Stadt getragen worden sind.
Welche meinen Sie damit?
Specht: Ziemlich bald nach meinem Amtsantritt hat die Hamas Israel überfallen. Die Auswirkungen zeigen sich auch auf unseren Straßen – denken Sie nur einmal an die vielen und regelmäßigen Demos in der Innenstadt. Aber auch die Entwicklungen rund um das Klinikum sind herausfordernd, weil ich gedacht hatte, dass wir beim Verbund von Mannheim und Heidelberg schon wesentlich weiter wären. Und natürlich gab es das Attentat auf dem Marktplatz. Diese drei Themen sind zentrale Herausforderungen im ersten Jahr gewesen, die so nicht vorhersehbar waren.
Welche war die schwierigste?
Specht: Eine zentrale Herausforderung ist der gesellschaftliche Zusammenhalt. Nach dem Überfall der Hamas mussten wir testen, wie belastbar in einer solchen Situation die Mannheimer Erklärung ist, mit der sich zahlreiche Institutionen aus unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft zu einem respektvollen und friedlichen Zusammenleben in unserer Stadt bekannt haben.
Wie belastbar ist die Erklärung?
Specht: Es gibt eingespielte Gesprächsstrukturen zwischen einigen Akteuren unterschiedlicher religiöser Gruppen, die auch in der Krise gut funktionieren. Die Frage ist aber, ob wir damit an den eigentlichen Problemen beim Thema Integration dran sind. Es hat sich zum Beispiel gezeigt, dass manche Lehrerinnen und Lehrer sich nicht trauen, den Nahost-Konflikt im Unterricht offen anzusprechen, wenn 75 Prozent und mehr der Kinder Migrationshintergrund haben. Jugendtreffleiter berichten, dass wir teilweise nur einen kleinen Ausschnitt der Jugendlichen erreichen, die wir ansprechen wollen. Wir müssen aufpassen, dass wir die vielen anderen nicht verlieren. Dazu gehört, dass auch Moscheevereine uns sagen, dass sie Jugendliche an Gruppen verlieren, die die Jugend mit radikalen Parolen ködern. Darum müssen wir uns stärker damit beschäftigen, wie Jugendarbeit in migrantischen Milieus funktioniert und wie sie vernetzt ist. Wir müssen diskutieren, wen wir zum Beispiel mit unserem Projekt „Junge Muslime engagiert für Demokratie im Einsatz“ (Jumedie) erreichen, das das Mannheimer Institut für Integration und interreligiöse Arbeit aufgebaut hat. Das sind Punkte, die wir evaluieren müssen. Mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser habe ich besprochen, dass wir ein Modellprojekt für systemische Radikalisierungsprävention entwickeln. Wir müssen nachsteuern.
Wir erleben generell, dass die organisierte Jugendarbeit schwieriger wird.
Wie schaut dieses Projekt aus?
Specht: Das Projekt zielt darauf ab, Moscheen als Orte der Identitäts- und Persönlichkeitsbildung junger Menschen zu öffnen und viel stärker als bisher mit anderen zentralen Orten der jugendlichen Sozialisation zu verbinden. In dieses offene Angebot für Moscheegemeinden wollen wir Erfahrungen aus anderen Religionen ebenso einbeziehen wie Lehrkräfte oder pädagogisches Personal in der außerschulischen Jugendarbeit.
Sie sagen, wir müssen schauen, dass wir beim Thema Integration auf dem richtigen Weg sind. Haben Sie Ansätze, was man machen muss?
Specht: Darauf gibt es nicht die eine Antwort. Ich hatte vor rund einer Woche ein schönes Erlebnis, als im Marchivum der Film Kismet 2 einer jungen türkischen Filmemacherin Premiere hatte, der Großmütter aus der ersten Generation von Gastarbeitern in Deutschland porträtiert. In den Diskussionen danach hat man gemerkt, dass es zwischen der ersten Generation – also denen, die in den 1960er und 70er-Jahren nach Deutschland gekommen sind – und der dritten oder vierten große Unterschiede gibt. Die dritte und vierte Generation mitzunehmen, ist eine große Herausforderung. Dazu kommt, dass wir inzwischen nicht mehr nur über türkische Migration sprechen, sondern eine multi-ethnische Migration erleben. Das bedeutet, dass wir ständig hinterfragen müssen, ob Konzepte, die wir nutzen, noch passen.
Die Jugendgeneration, die größtenteils in Deutschland geboren worden ist, ist also schwieriger zu integrieren als die Eltern- und Großelterngeneration?
Specht: Interessanterweise ja. Wir erleben generell, dass die organisierte Jugendarbeit schwieriger wird. Diese Probleme gibt es auch in der Jugendarbeit, die sich mit Integration beschäftigt.
Wie beschreiben Sie den momentanen Austausch der Verwaltung mit muslimischen Gemeinden?
Specht: Der ist gut.
Es fällt aber auf, dass sich viele muslimische Gemeinden im Moment selten öffentlich zu Wort melden. Im gesellschaftlichen Leben sind die nicht so präsent wie zum Beispiel die Jüdische Gemeinde. Täuscht dieser Eindruck?
Specht: Wir haben in Mannheim 16 muslimische Gemeinden. Die Beteiligung ist sehr unterschiedlich.
Wünschen Sie sich als Oberbürgermeister, dass sich von den Gemeinden mehr als nur ein paar in die öffentlichen Debatten einbringen?
Specht: Ob sie sich mehr in öffentliche Debatten einbringen sollen, ist eine Frage. Die Frage nach dem Bekenntnis zur Stadt, zur Stadtgesellschaft und zur Art und Weise, wie wir Integration betreiben, ist für mich wichtiger. Dafür braucht es keine öffentlichen Erklärungen, aber teilweise eine stärkere Zusammenarbeit.
Seit 4. August 2023 im Amt
- Christian Specht (CDU) ist seit knapp einem Jahr Oberbürgermeister von Mannheim. Sein Amt hatte er am 4. August 2023 angetreten, nachdem er zuvor zum Nachfolger von Peter Kurz (SPD) gewählt worden war.
- Der Jurist wird an diesem Samstag, 20. Juli, 58 Jahre alt.
- Vor seiner Wahl war er viele Jahre – seit 2007 – Erster Bürgermeister und als Dezernent zuständig für Finanzen, Beteiligungsvermögen, IT sowie Sicherheit und Ordnung
Lassen Sie uns über das Attentat auf dem Mannheimer Marktplatz am 31. Mai sprechen. Wann ist Ihnen zum ersten Mal klar gewesen, welche Trauer und welchen Schock die Tat ausgelöst hat und dass in diesen Tagen ganz Deutschland auf Mannheim geschaut hat?
Specht: Ich bin an jenem Freitag schon zehn Minuten nach der Tat auf dem Marktplatz gewesen. Da war mir sofort klar, dass der Anschlag den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Mannheim auf eine harte Probe stellen und politische und gesellschaftliche Diskussionen nach sich ziehen wird.
Haben Sie das Video der Tat schon gesehen, als Sie auf dem Marktplatz waren?
Specht: Ja. Auch deshalb war uns klar, dass wir aufpassen müssen, dass Mannheim in den nächsten Tagen – nur wenige Tage vor der Europawahl – nicht zu einem Treffpunkt für Radikale wird, wenn das Video tausendfach geteilt wird. Auch deswegen haben wir entschieden, Versammlungen auf dem Marktplatz zu verbieten. Gleich nach der Tat haben wir uns an die Moscheen gewandt, die dann in ihren Freitagsgebeten zu Ruhe und Besonnenheit aufgerufen haben. Wir haben klar gesagt, was passiert ist und was wir wissen. Wir haben betont, dass die muslimische Bevölkerung zur Stadt gehört und wir sie vor Vorverurteilungen schützen werden. Und wir haben davor gewarnt, sich von anderen aufhetzen zu lassen.
Sie haben für Ihre öffentlichen Auftritte und Reden nach dem Attentat über Parteigrenzen hinweg viel Lob erfahren.
Specht: Mir war es wichtig, am Montag in einem interreligiösen Friedensgebet mit allen ein Zeichen zu setzen, dass das nicht Mannheim ist und die Tat nicht für die offene Gesellschaft steht, die wir haben wollen. Wir müssen aber auch klar sagen, dass das ein Attentat war, und haben nicht um den heißen Brei herumgeredet.
Hat sich Mannheim von dem Schock erholt oder wie stark ist das Attentat sechs Wochen danach noch in der Stadt zu spüren?
Specht: Die Stadt hat sich noch nicht erholt. Wir befinden uns aber im Prozess der Verarbeitung.
Das bedeutet?
Specht: Dass wir unter anderem an Themen arbeiten, die wir zu Beginn des Interviews besprochen haben. Wir dürfen uns bei der Integration keinen Träumereien hingeben, sondern müssen erkennen, dass das weiter sehr viel harte Arbeit ist und dass wir dabei auch Unterstützung brauchen.
Es stimmt, dass in den letzten Jahren viele Projekte in großen Dimensionen angeschoben worden sind, die nicht ausfinanziert sind.
Lassen wir uns über ein Thema sprechen, das ganz anders, aber trotzdem kompliziert ist. Es ist durchgesickert, dass das Kartellamt einem Klinikverbund zwischen Mannheim und Heidelberg wohl nicht zustimmen wird. Was würde es für den Haushalt der Stadt bedeuten, wenn dieser Verbund nicht zustande kommt?
Specht: (denkt lange nach) Die Frage nach dem städtischen Haushalt ist in diesem Zusammenhang nur eine von mehreren Komponenten. Wir müssen uns fragen, was das für die medizinische Versorgung in Mannheim, für die Arbeitsplätze und für den Medizintechnik-Standort bedeuten würde, den wir in Mannheim aufgebaut haben.
Dann gehen wir die Punkte mal durch.
Specht: Wir haben ein Haus der Supra-Maximalversorgung mit herausragenden wissenschaftlichen Kompetenzen. Wir bilden am Klinikum mehr als 1800 Studentinnen und Studenten aus und sind als Krankenhausträger für die Gesundheitsversorgung von 325 000 Menschen verantwortlich. Der Ausbau von Medizintechnik und Gesundheitswirtschaft funktioniert nur, wenn wir die Potenziale beider Standorte richtig kombinieren. Zusammen mit den Standorten des Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg und dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim würde eine große Chance entstehen, die nationale und europaweite Leitregion für Gesundheitsversorgung und Gesundheitswirtschaft zu werden.
Über die Finanzen haben Sie jetzt nicht gesprochen.
Specht: Wir haben über die genannten Themen hinaus die Aufgabe, die Verluste des Klinikums im laufenden Betrieb zu begrenzen. Wir sprechen hier von einer dreistelligen Millionensumme pro Jahr. Auf der anderen Seite müssen wir uns Gedanken machen, wie wir die notwendigen Investitionen für die Zukunftsfähigkeit der Krankenversorgung in Mannheim darstellen können. Das ist die größte finanzielle Herausforderung der letzten 30 Jahre.
Wenn das Kartellamt dem Verbund nicht zustimmt, gibt es die Möglichkeit einer Ministererlaubnis. Wirtschaftsminister Robert Habeck könnte den Verbund ermöglichen. Sind Sie optimistisch, dass das funktionieren könnte?
Specht: Ich will dem weiteren Verfahren nicht vorgreifen. Noch haben wir keinen endgültigen Bescheid des Kartellamts. Bei einer Ministererlaubnis wird es auf ein klares Bekenntnis ankommen, die Potenziale der Standorte zusammenzuführen und das als nationale Chance zu begreifen. Dafür gibt es sehr gute Argumente.
Was ist, wenn das nicht klappt? Gibt es einen Plan B?
Specht: Dann müssen wir uns Gedanken machen, was das für das Klinikum bedeutet. Universitätskliniken in Deutschland werden nicht ohne Grund in der Regel direkt vom Land getragen, denn ein Haus der Supra-Maximalversorgung übersteigt die finanziellen Möglichkeiten einer Stadt wie Mannheim. Wir müssen dann mit dem Land besprechen, wie man mit dem Klinikum künftig umgeht.
Wäre es eine realistische Option, dass das Land das Klinikum übernimmt?
Specht: Es gibt viele denkbare Optionen.
Welche noch?
Specht: Ich glaube, es ist wenig sinnvoll, jetzt darüber zu spekulieren. Wir sind davon überzeugt, dass ein Verbund zwischen Heidelberg und Mannheim das Land, aber auch den Gesundheitsstandort Deutschland voranbringt. Dieses Ziel verfolgen wir gemeinsam mit dem Land nachdrücklich und in großer Einigkeit.
Unabhängig vom Verbund ist das Geld im Haushalt knapp. Haben Sie schon konkrete Vorstellungen, wo eingespart werden soll?
Specht: Es stimmt, dass in den letzten Jahren viele Projekte in großen Dimensionen angeschoben worden sind, die nicht ausfinanziert sind.
An welche denken Sie da?
Specht: Das Nationaltheater ist eines. Die Multihalle ein anderes. Es gibt auch viele Schulen, Straßen und Brücken, die saniert werden müssen. Es gibt ein Kita-Bauprogramm, das umgesetzt werden muss. Viele andere Wünsche werden zwar besprochen, sind aber noch gar nicht in den Haushalt eingerechnet. Die Frage, wie viel priorisiert werden muss und was von dieser Liste nicht gemacht oder verschoben wird, hängt wesentlich von der Frage der Finanzierung des Klinikums ab. Und die hängt wiederum von der Frage ab, ob es einen Verbund gibt und wie wir an diesem beteiligt werden.
Aber selbst wenn es zu einem Verbund kommt, wird im Haushalt priorisiert werden müssen. Natürlich muss das letztlich der Gemeinderat entscheiden – aber Sie haben auch Vorstellungen. Wie würde Ihre Priorisierung aussehen?
Specht: Ich habe im Gemeinderat bereits zum Ausdruck gebracht, dass wir Projekte, die baulich weit fortgeschritten sind, nicht mehr abbrechen können. Oder solche, bei denen ein Stopp oder eine Pause mehr Kosten verursachen würden, als wenn wir sie trotz Kostensteigerungen zu Ende führen.
An welche Themen aus Ihrem ersten Jahr als Oberbürgermeister erinnern Sie sich gerne zurück und welche werten Sie als Erfolg?
Specht: Ich habe die Chance und das Glück, mit einer hoch motivierten Verwaltung zusammenarbeiten zu dürfen, die sich der schwierigen Situation sehr bewusst ist. Als positive Erfahrungen sind mir die vielen Besuche bei Unternehmen in Erinnerung, die sich auf den Weg gemacht haben, sich neu erfinden. Es geht um energetische Herausforderungen, aber auch um die Frage, wie wir nachhaltiger und klimaschonender produzieren können. Das macht mir sehr viel Hoffnung und gibt mir die Kraft zu sagen, dass Mannheim als Industriestandort eine Zukunft haben wird. Ich bin auch froh, dass es uns gelungen ist, als eine der ersten Städte überhaupt die Wärmeplanung mit einem klaren Konzept und konkreten Angeboten abzuschließen.
Die Mehrheitsverhältnisse im Gemeinderat sind nach der Kommunalwahl kompliziert. Wie wichtig ist es Ihnen, dass Beschlüsse im Gemeinderat ohne die Stimmen der AfD eine Mehrheit bekommen? Was wollen Sie dafür tun?
Specht: Bei langfristigen Projekten brauchen wir unabhängig vom Ergebnis der Kommunalwal breite Mehrheiten. Dafür werbe und stehe ich. Das habe ich vor der Wahl getan und werde das auch nach der Wahl tun. Wichtig ist, dass alle großen Fraktionen, aber auch die kleinen sich in dieser besonderen Lage ihrer Verantwortung für die Stadt bewusst sind und nicht versuchen, durch dauerhafte Opposition daraus Kapital zu schlagen. Wir müssen die Stadt gemeinsam und konstruktiv voranbringen.
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