Theater

"New World Franklin": Mannheimer Stadtensemble wandelt auf Weg der Erinnerung

"New World Franklin" heißt die neue Produktion des Mannheimer Stadtensembles und des Schauspiels des Nationaltheaters. Im Stück von Björn Bickel wird symbolträchtig und sehenswert die Geschichte des Franklingeländes aufgearbeitet

Von 
Martin Vögele
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Eine neue Welt? Szene aus der Produktion „New World Franklin“ des Mannheimer Stadtensembles. © Maximilian Borchardt

Kann eine Utopie aus den narbigen Furchen des Krieges wachsen? „Hier sollte ein neuer Stadtteil entstehen, neues Leben“, sagt US-Gründervater Benjamin Franklin, der die in bester naturalistischer Reenactment-Manier geschminkte, mit Gehrock und Bauchkissen ausgestattete Nationaltheater-Schauspielerin Tala Al-Deen ist.

Hier habe man daran arbeiten wollen, die Welt besser zu machen: „Auf diesem Grund und Boden, der die letzten hundert Jahre nichts gesehen hat als Panzer und Stiefel, als marschierende Frauen und Männer, der getränkt ist in Maschinenöl und Tränen, in Schweiß und Tod“, fährt der Politiker und Blitzableiter-Erfinder auf dem Vorplatz des Alten Kinos Franklin fort, wo sich weit über hundert Menschen versammelt haben, die ihm - und bald auch dem „Chor der Siedler:innen“ - interessiert zuhören.

Benjamin Franklin Village war eines der europaweit größten Wohngebiete der US-Streitkräfte

Vielleicht ein kleiner historischer Exkurs, bevor wir dem Mannheimer Nationaltheater (NTM) mit der Uraufführung von „New World Franklin - Die Verteidigung der freien Welt“ weiter folgen: Auf nämlichem Gelände bezogen nach Kriegsende US-Soldaten die vormaligen Wehrmachtkasernen; in den 1950er Jahren entstand dann mit dem Benjamin Franklin Village eines der europaweit größten Wohngebiete der US-Streitkräfte. Nachdem die letzten von ihnen es vor etwas über zehn Jahren verlassen hatten, begann ebenda ein neuer Mannheimer Stadtteil zu entstehen. Ab 2015 kamen auch Geflüchtete auf Franklin unter. Der Krieg ist hier mithin nur einen kleinen Gedankensprung weit entfernt.

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Für seinen Auftragswerk-Text zu „New World Franklin“ - eine Koproduktion von Mannheimer Stadtensemble und NTM-Schauspiel - hat Autor Björn Bicker vor Ort mit allerlei Menschen gesprochen, hat Geschichten gesammelt und ein Gespinst von Stimmen, Narrativen, Erinnerungsfragmenten geschaffen, die sich zu einer Art komplexem kollektiven Gedächtnis des Ortes und seiner Relikte zusammenfügen: Ein „Geister“-Flüstern, Chor-Rufen und episodenhaftes Schauspiel, das aus verschiedensten Perspektiven durch die Zeit klingt und dabei von Trauer und Wut, von Verlust und Verlorenem, Zukunftshoffnungen und Scheitern, von Freiheit, (Un-) Gleichheit und geschichtlichen Ambivalenzen spricht.

„Und was ist mit diesem Glück. Happiness.“

In Gestalt einer imposanten Parade zieht das Stück von Station zu Station, das Regisseurin Beata Anna Schmutz mit dem rund 20-köpfigen Stadtensemble, drei Mitgliedern von NTM-Schauspiel und -Tanz, den Musikzügen der Karneval-Gesellschaft „Mannemer Stroseridder 1962“ und der Neckarauer Narrengilde „Die Pilwe“ sowie der Cheerleading-Abteilung und Garde des Carneval Club Waldhof inszeniert hat. Die erste Station markiert das Alte Kino - die neue Schauspielstätte des NTM, die hier mit einer Videoeinspielung für kurze Zeit wieder zum Lichtspielhaus wird.

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Schauspielerin Verena Jost verkörpert im Film und auf der Bühne Sabine, eine Frau, die sich in einen Soldaten verliebt, und hier werden auch die Kernfragen der Inszenierung formuliert: „Wie wollen wir leben?“ „Und was ist mit diesem Glück. Happiness.“

Unter Musikzugklängen und begleitet von Marschgesängen geht es dann zur alten Bibliothek, wo einen eine Art Erinnerungsinstallation und NTM-Ensemblemitglied Arash Nayebbandi in der Rolle des US-Architekten Jay erwarten.

Das Finale in der Panzerhalle

Dahinter bietet Julia Headley vom NTM-Tanz auf staubigem Boden eine ausdrucksvolle Choreographie dar - die Musik wird über Kopfhörer zugespielt. Aus der Parade wird nun eine Art mystisch-religiös anmutender Trauermarsch, der zum Offizierskasino zieht, wo wir erst Sabine wiederbegegnen und dann unter anderem auch einer Figur namens George (Nayebbandi), die von einem Soldaten erzählt, der sich, vom Krieg traumatisiert, das Leben nahm.

Nach einem flamboyanten Besuch in der alten Kirche führt der Weg schließlich in die offene Panzerhalle: Bei Cheerleading- und Techno-Tanz im Trockeneisnebel endet dort eine sowohl auf der Symbol-reichen Bildebene wie auch hinsichtlich des (nur ab und an etwas ungreifbar-entgrenzt mäandernden) Textes vielschichtige, mit Tiefe, auch Humor und Spielstärke in Szene gesetzte Inszenierung. Und die ist zudem bei einer Premieren-Dauer von immerhin knapp drei Stunden erstaunlich schnell vorüber.

Freier Autor

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