Mannheim. Man stelle sich vor: „Der See macht eine Bucht ins Land, eine Hütte ist unweit dem Ufer, Fischerknabe fährt sich in einem Kahn. Über den See hinweg sieht man die grünen Matten, Dörfer und Höfe von Schwyz im hellen Sonnenschein liegen.“ Und nun stelle man sich dies alles im Mannheimer Luisenpark vor, wo Mannheims Schauspielintendant Christian Holtzhauer die 22. Internationalen Schillertage auf der Seebühne eröffnen wird. Mit „Wilhelm Tell“.
Zu diesem Auftakt, so verspricht er leicht ironisch, werde das hohe Felsenufer des Vierwaldstättersees nachgebaut. Doch Kühe, das „harmonische Geläut der Herdenglocken“ und hoffentlich auch das dumpfe Krachen von den Bergen und die Schatten von Wolken dürften bei Regisseur Christian Weise keine Rolle spielen. Er interessiert sich mehr für Migration, Diversität, Cancel Culture, Gendern, Globalisierung oder Feminismus. Es wäre nicht überraschend, wenn hier eine „Wilhelmine Tell“ den Apfel vom Tochterkopfe schösse, steht doch im Programm: „Alle Menschen werden Schwestern.“
Übersicht
- Eröffnungsfeier: 22.6., 22 Uhr, Werkhaus (WH).
- Wilhelm Tell: 22., 24., 25., 28., 30.6. und 1.7., Buga.
- Schill-Outs und Partys: 23.6. bis 2.7. tgl. 21 Uhr (Schill-Outs) und 23 Uhr Festivalzentrum (FZ) Altes Kino (AK).
- Queens. Der Heteraclub: 22. bis 25.6, 15/17/19/21 Uhr, EinTanzHaus.
- Johanna (to go): 23.6, 11/20 Uhr, Kulturhaus Käfertal.
- Tell. Eine ukrainische Geschichte: 23., 26., 28. und 29.6, 1., 2.7., Theaterhaus G7.
- Außerdem: FreeWalkingTour: 24., 25., 30. Juni, 2. Juli, FZ. Maria Stuart und Elisabeth: 24. Juni, AK. Schiller Ballade Rave: 25. Juni, AK. Do You Know This Song: 26., 27.6. Studio WH. Die Räuber (Überschreibung): 27.6., FZ. Das Haymatministerium: 28.6., FZ. FIQ (Wach auf!): 29.6., AK. Nomadische Recherche: 30.6., 1.7. Haltestelle NTM. Natures Mortes: 30.6., 1., 2.7., N.N. X! (un opéra fantastique): 30.6., 1.7., Studio WH. (Ist): 23., 24.6, House of Maemories. SWR 2 Forum, Zeitgenossen, Festivalrede, Gen Z liest Schiller, Windkanal 2023.
Pressekonferenz im Alten Kino Franklin. Kulturbürgermeister Michael Grötsch ist da. Intendant Holtzhauer und Lena Wontorra, die verantwortliche Festivaldramaturgin. Grötsch spricht vom Krieg in der Ukraine und einer noch gerechteren und noch freieren Welt. Er lobt das Alte Kino und den Gemeinderat, der sich zu einer einmaligen Zuschusserhöhung von 20 000 Euro fürs Festival durchgerungen hat. Wontorra erklärt das Motto des in rund zwei Monaten beginnenden Schillerfestivals. „Schiller war ein Antikenfan. Er hatte eine große Sehnsucht nach Kunst und Freiheit. Und die Antike schien ihm glücklicher als seine eigene Zeit“, sagt sie und verweist auf das Gedicht „Die Götter Griechenlands“, aus dem der Vers „Schöne Welt, wo bist du?“ als Festivalmotto entlehnt ist.
Schill-Outs und Partys
Holtzhauer indes meint, „ich bin nicht sicher, ob es uns gelingt, Heiliges und Ehrwürdiges zu präsentieren“. Er schmunzelt. Die Idee des Mottos stamme aus der Pandemie, als sich die Hoffnung, es müsse doch alles wieder besser werden, nicht erfüllen wollte. Allgemeiner spricht er davon, dass sich die Fortschrittsversprechen der Moderne auch nicht eingelöst hätten. „Vielleicht sollten wir das, was wir haben, schon für gut befinden, aber nie aufgeben, es doch noch besser zu machen.“
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Mit Theater will Holtzhauer freilich an dieser Verbesserung der Welt mitbauen. Dazu haben er und sein Team 72 Veranstaltungen geplant. 20 Projekte – davon zwei Eigenproduktionen und Uraufführungen, zwei Deutsche Erstaufführungen, vier Koproduktionen, zehn Gastspiele und dazu auch noch Konzerte. Festlich werden die Schillertage nach der „Tell“-Premiere im Festivalzentrum am Alten Kino Franklin eröffnet. Jeden Abend und jede Nacht werden dort auch die traditionellen „Schill-Outs“ und Partys stattfinden.
Der Vers aus „Ode an die Freude“ zieht sich durchs Programm. Alle Menschen werden nicht nur Schwestern, sondern auch „schillern“, „friends“, „bisschen besser“ , „sichtbar“, „schweben“, „Menschen“ und, so fügt Holtzhauer wünschend ein, ab 20. April „tickets kaufen“. Alle ist vielleicht etwas erhöht. Wenn es 25 000 würden wie bei der letzten präpandemischen Biennale 2019, so wäre das schon ein Erfolg.
Zum Brunch dürfen auch Jungs
Nicht nur, aber auch notgedrungen kooperiert das NTM mit Mannheimer Institutionen wie dem Theaterhaus G7, wo die „Tell“-Bearbeitung als „Eine ukrainische Geschichte“ von Unterdrückung und Nationalstolz über die Bretter geht. Auch mit dem EinTanzHaus wird kooperiert, was aber fast nur für Frauen relevant ist, denn bei „Queens. Der Heteraclub“ von Sibylle Peters sind Männer nicht zugelassen. Es geht um einen sicheren Ort für Frauen und ihre Begierde. „Hier geht es nicht um Sex“, klärt ein Text auf, sondern: um den „schmalen Grat zwischen Kunst, Sex- und Sorgearbeit“ und eine „neue Art der Nähe“. In einer – auch durch #metoo – prüder werdenden Gesellschaft habe sie einen Raum schaffen wollen, „wo es doch wieder möglich ist, das weibliche Begehren zu thematisieren. Beim „Brunch with the boys“ dürfen dann auch mal kurz Jungs rein. Schiller wäre begeistert.
Zwei renommierte Gastspiele beschäftigen sich schon mit ihm. Das Düsseldorfer Schauspiel bringt „Johanna (to go)“ ins Kulturhaus Käfertal, und zwei Grandes Dames des Schauspiels, Karin Neuhäuser und Barbara Nüsse, kommen im Namen des Thalia Theaters mit „Maria Stuart und Elisabeth“ nun live ins Alte Kino und thematisieren (im Duell) den historischen Konflikt der beiden.
Es gibt noch vieles, vieles mehr, von A wie Akrobatik („FIQ! (Wach auf!)“ bis X wie „X!“, eine fantastische Oper, in der auch queere „hot bodies of the future“ ohne Normen und Zwänge zueinander finden. Holtzhauer nennt es „eine sexuelle Neuerfindung als Ausweg aus dem Kapitalismus“. Dazwischen werden „Die Räuber“ vom Jungen Deutschen Theater Berlin „überschrieben“, weitere Theater- und Performanceproduktionen, Diskursformate mit dem SWR, ein Stadtspaziergang, eine Festivalrede der albanisch-britischen Politologin Lea Ypi und natürlich eine Festivalakademie. Und vieles mehr.
Wer Schillers Gedicht nach dem Motto-Vers „Schöne Welt, wo bist du?“ weiterliest, stößt direkt auf: „Kehre wieder, / Holdes Blütenalter der Natur!“ Es wird spannend zu sehen, in welchem Licht dieser Vers nach der „Tell“-Premiere am 22. Juni erscheint.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Bei den Schillertagen muss Mann durchaus auch draußen bleiben