Heidelberg. Menschen erheben sich von den Plätzen. Dazu blinken plötzlich im Saaldunkel Uhren an Handgelenken. Ob der donnernden Applausstärke melden Smartwatches an ihre Träger hektisch gesundheitsschädliche Dezibelwerte. Das spielt in diesem Moment keine dramatische Rolle, weil eine andere die ihre so gut spielte: Lina Beckmann. Eine szenische Naturgewalt trifft zum großen Stückemarktfinale auf das Heidelberger Publikum. In diesem Fall ist er gar eine Urgewalt, spielt die faszinierende Mimin doch Uraltes von Göttern und Königen - und das natürlich gewohnt urig.
Regisseurin und Intendantin Karin Beier hat am Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit Dramatiker Roland Schimmelpfennig eine Antikenserie namens „Anthropolis” ins Leben gerufen - und einen echten Coup gelandet. Ihr mittlerweile abgeschlossener, fünfteiliger Theben-Überblick im Netflix-Format zu Uraufführungen von Schimmelpfennigs Dramen sorgte für Furore.
Der heutige Mensch im Spiegel antiker Mythen
Deren zweiter Teil „Laios” reiste nicht nur zum Heidelberger Stückemarkt, sondern schaffte es zeitgleich auch in die Bestenauswahl des Berliner Theatertreffens. „Es gehe um Ödipus und so”, sagt ein Herr im Foyer, und für das „und so” braucht es natürlich einen Erklärbär, den Lina Beckmann mit Verve auch in Heidelberg exzellent verkörpert.
Ihr serienkonformes „Was bisher geschah” ist nicht nur aller Ehren wert, sondern hat auch höchsten Unterhaltungswert, zumal sie bei Heidelbergs hoher Altphilologendichte mit dem lustigen Publikumsquiz ebenso punkten kann wie mit der interaktiven Herleitung der Dramen und Geschichten der anderen traurigen Helden des Hamburger Theben-Zyklus’: Dionysos, Laios, Ödipus, Iokaste und Antigone.
Es ist in der Mythologie nicht anders wie im Hier und Jetzt, Angst, Bedrohung und Gewalt gefährden die humane Idee, aus Anthropolis eine Demokratie zu machen. Später, wenn Intendant Holger Schultze im Rahmen der Preisverleihung beklagt, dass es beängstigend sei, „zu sehen, dass manche unserer Gäste sich hier im Theater - in unserer Mitte - nur mit Personenschutz sicher fühlen“, begreifen wir, wie nah uns Gewalt ist. Gemeint ist damit etwa auch der jüdische Publizist Michel Friedman, der bei seinem Festivalauftritt (wir berichteten) permanent einen Bodyguard an seiner Seite haben musste. Oder wenn bei Auftritten aus dem diesjährigen Gastland Georgien die Furcht vor dem „russischen Gesetz“ und die tagesaktuellen Geschehnisse in Tiflis im beschaulichen Heidelberg auf die Bühne schwappen.
Beweise erbrachte der Stückemarkt also selbst: Tragödisch kompliziert und grausam bleibt das Leben im menschlichen Gemeinwesen, dem Roland Schimmelpfennig den schönen antikisierenden Kunstnamen „Anthropolis“ gegeben hat, bis heute. Dessen war sich der kluge Autor wohl bewusst, als er in die Tasten griff, um den ollen Stoff, aus dem bis heute familiäre und gesellschaftliche Alpträume sind, in Neudeutsch auf die zeitgenössische Schauspielbühne zu schreiben.
Neid, Missgunst, Machtgier, Mord, Totschlag, Inzest - alles Bestimmung? Laios, einst im Wald ausgesetzter letzter Spross auf der Thronfolgerliste und nun doch König von Theben, versucht mit Iokaste, dem Fluch der Labdakiden zu entrinnen. Aber entrinnen Sie mal den Erinnyen! Flügel haben sie und fauchen und singen im Kopf in den höchsten Tönen der nervigen Drehleier, sind Flugkatzen und Sphinxe und Göttinen: Lina Beckmann spielt Schimmelpfennigs alternativ angebotene Möglichkeiten, „wie es wirklich war“, sich trotz niederschmetternden Orakelspruchs für ein Kind namens Ödipus zu entscheiden, gleichwertig furios durch. Das muss man wollen, wird es doch dereinst den Vater erschlagen und mit der Mutter schlafen. Das will gut überlegt sein. Wie spielt man das?
Wie sie eben so ist, „die Beckmann“, diese wieselhaft präsente Erscheinung, die selbst im Antikenfach eine ganze Shakespeare-Welt im Farbkasten ihrer Begabung hat: Puck, Hamlet, Richard III., Lady Macbeth - und auch schon eine Prise König Lear. Dazu spielt sie noch glaubhaft einen ganzen Bürgerchor, ohne den es nun mal nicht geht in der Tragödie; in der Demokratie freilich auch nicht. Aber in der Monarchie braucht es weniger Volk, als eben einen Erben …
Ziel ist es, „die Dynamiken unserer Gesellschaft zu beleuchten“
Dem unprätentiösen Charme dieser zwischen harmlos-naiv und diabolisch-maliziös changierenden Frau von nebenan kann sich kaum ein Sprechtheaterfreund erwehren. Folglich prasselt Applaus auf Karin Beiers Inszenierung, Schimmelpfennigs „Anthropolis II: Laios“ und natürlich die heldenhafte Protagonistin des 90-minütigen Monologs.
Dass es auch den Siegern des Dramatikerwettbewerbs gelungen sei, „die komplexen Dynamiken unserer Gesellschaft, ausgehend von Rassismen und Klassismen, zu beleuchten und dabei sowohl die individuellen als auch die strukturellen Herausforderungen unserer Zeit zu reflektieren“, war hernach bei der Preisverleihung zu hören. Und in der Tat sind in diese Richtung gerichtete Ambitionen bei einem Festival für zeitgenössische Bühnentexte auch durchaus geboten. Wenn sich Debatten um Staatsordnung und Ethik - wie im Laios - begegnen, darf man fast sicher sein, dass es „irgendwo im Theater“ ist …
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Heidelberger Stückemarkt Heidelberger Stückemarkt: Zuwachs an Lebendigkeit