Sicherheit

Wie konnte es zum Chemieunfall im Mannheimer Hafen kommen?

Im August treten am Mannheimer Hafen giftige Gase aus einem Container aus. Bei der Krisenkommunikation läuft einiges schief. Jetzt wird noch immer auf ein Gutachten zur Unglücksursache gewartet

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Sebastian Koch
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Der beschädigte Container im Mannheimer Hafen musste tagelang gekühlt werden. © Dieter Leder/dpa

Mannheim. Dass Mannheim Zentrum einer der größten Industrieregionen der Republik ist, das dürfte schon mit Blick auf die Landkarte klar sein: Die BASF im angrenzenden Ludwigshafen, das Roche-Werk auf dem Waldhof oder der Hafen – einer der größten Binnenhäfen Europas – prägen die Region weit über ihre Grenzen hinaus. Und wenn all das noch nicht deutlich genug ist, signalisiert ja schließlich der auch nach dem aufwendigen Umbau immer noch überwiegend im tristen Grau gehaltene Willy-Brandt-Platz am Hauptbahnhof allen Ankommenden auf den buchstäblich ersten Blick: Willkommen in einer Industriestadt.

Unscheinbare Mitteilung der Polizei zum Unfall

Dass es aber einen Unterschied zwischen dem Wissen, in einer solchen zu leben, und dem Bewusstsein über die daraus folgenden Konsequenzen gibt, zeigt sich Sommer. Alles beginnt an diesem 23. August 2022 mit einer zunächst recht diffusen Mitteilung, in der die Polizei um 15.32 Uhr über einen Großeinsatz im Hafen informiert. Dort sei es gegen 15 Uhr zu einem Austritt von Gefahrgut gekommen, heißt es.

Bald wird klar: In einem mit Fässern der BASF beladenen Container findet eine chemische Reaktion statt. In den Fässern befindet sich das als hochreaktiv geltende und bei unsachgemäßer Handhabe zur Selbstentzündung neigende Hydrosulfit. Der Stoff wird als Bleichmittel in der Textilindustrie verwendet. „Die ausgetretene Flüssigkeit kann giftige und reizende Dämpfe entwickeln“, teilt die Polizei mit.

Die Feuerwehr musste den beschädigten Container im Mannheimer Mühlauhafen auch nachts kühlen. © dpa

Erstmals kommt das Sirenensystem zum Einsatz

Es ist Hochsommer. Auf der Neckarwiese wird gelesen und gespielt, die Außenbereiche der Restaurants in der Neckarstadt füllen sich zusehends, der eine oder die andere bricht zum Joggen auf. Als die Verwaltung angesichts des Gefahrgutaustritts im Hafen in angrenzenden Stadtteilen gegen 18 Uhr Sirenenalarm auslöst, passiert – fast nichts.

Noch nie zuvor war das erst in den vergangenen Jahren neu geschaffene Sirenensystem in Mannheim in Ernstfällen zum Einsatz gekommen. Wohl auch deshalb können viele, das zeigt sich nun, mit dem auch nur etwa einminütigen Sirenengeheul nichts anfangen. Ja, man gewinnt den Eindruck: Was in einer Region, in der täglich mit chemischen Stoffen hantiert wird, im Krisenfall zu tun ist, wissen die wenigsten.

Mannheimer unbeeindruckt von Alarm und Giftwolke

Trotz Sirene, sofern sie überhaupt wahrgenommen wird, wird auf der Neckarwiese weiterhin gespielt und gelesen, in Außenbereichen von Restaurants gegessen und getrunken, und auch die Jogger sind weiter unterwegs. Im nahe gelegenen Hafen verletzen sich durch die chemische Reaktion 16 Polizisten und ein Kranfahrer. Eine Giftwolke steigt 150 Meter hoch in den Himmel auf.

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Letztlich endet der Unfall glimpflich: Laut Polizei sind die Verletzten wenige Tage später genesen – und Praxen sowie Krankenhäuser verzeichnen in einer Umfrage dieser Redaktion kaum Patientinnen und Patienten mit Symptomen wie tränenden Augen oder Reizhusten. Eine Sprecherin der BASF erklärt am Tag nach dem Vorfall, die Konzentration der Wolke sei durch die Luft so verdünnt worden, dass für Menschen keine Gefahr bestanden habe.

Experten überrascht von Schwere der Reaktion

Mannheims Feuerwehrchef Thomas Näther sagt im Oktober dem Sicherheitsausschuss des Gemeinderats: „Wir haben tatsächlich festgestellt, dass es eine viel, viel, viel heftigere Reaktion ist, als wir ursprünglich erwartet hatten.“ Zur Gefährdung für Menschen macht er im Vortrag allerdings keine Angaben.

Dass ein Chemieunfall auch weitaus tragischer enden kann, zeigte sich etwa am 27. Juli 2021, als im Entsorgungszentrum des Chempark Leverkusen drei Tanks in Brand geraten und sieben Menschen sterben. Auch in Leverkusen, berichtet Martin Fricke von der dortigen Feuerwehr im August dieser Redaktion, hätten damals nur wenige Menschen gewusst, was der ausgelöste Sirenenalarm bedeute. „Viele Dinge kommen auch erst in Bewegung, wenn man sich der Gefahr durch Ereignisse bewusst wird.“

Anwohner sollten Fenster über Tage geschlossen halten

Der Großeinsatz im Mannheimer Hafen dauert tagelang an, während die Feuerwehr den Container ununterbrochen mit Wasser kühlt. Fast eine Woche vergeht, bis die Stadt mitteilt, im Jungbusch, in der Neckarstadt-West und im westlichen Teil der Innenstadt könnten Fenster wieder „bedenkenlos“ geöffnet werden. Am Abend des 1. September ist das letzte Fass aus dem Container geborgen, und der Großeinsatz der städtischen Feuerwehr, der Werksfeuerwehr der BASF sowie des Technischen Hilfswerks Mannheim und vieler weiteren Feuerwehren aus dem Umland wird offiziell als beendet erklärt.

Die schwierige Bergung der Fässer nach dem Chemieunfall im Mannheimer Handelshafen. © Julius Prior

Stadt will Bevölkerung für Katastrophen sensibilisieren

Zum Start des neuen Jahres ist noch immer nicht klar, was die chemische Reaktion im Inneren des Containers ausgelöst hat. Mitte Oktober hatte die Staatsanwaltschaft Mannheim, die Ermittlungen gegen Unbekannt wegen des Verdachts auf fahrlässige Körperverletzung eingeleitet hat, ein Gutachten zur Ursache in Auftrag gegeben. Mit einem Ergebnis rechne man „frühestens im Dezember“, hieß es im Herbst. Auf Anfrage erklärte die Behörde nun, das Gutachten liege noch nicht vor.

Ende November kündigt die Stadt an, bei ihrer inzwischen laufenden Sicherheitsbefragung Mannheimerinnen und Mannheimer erstmals auch danach zu fragen, wie Warnungen beispielsweise über das Sirenensystem wahrgenommen werden, wie sie darauf reagieren und welche Informationsquellen die Befragten nutzen. Die Fragen seien eine direkte Reaktion auf den Chemieunfall im Hafen, erklärten Erster Bürgermeister und Sicherheitsdezernent Christian Specht (CDU) und der Leiter der wissenschaftlichen Umfrage, Dieter Hermann.

Die Stadt hat am 8. Dezember am bundesweiten Warntag teilgenommen. „Ich bin zufrieden“, erklärte Specht anschließend. „Die Sirenen haben Alarm ausgelöst und waren gut zu hören.“ Allerdings passiert in Mannheim ein Fehler bei der angekündigten Entwarnung: Statt dem Dauerton von einer Minute wird er, zumindest in der Innenstadt, zwei Mal unterbrochen – früher der Alarm für Feuer.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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