Das Wichtigste in Kürze
- Statistisch gesehen haben Menschen in Mannheim die niedrigste und in Heidelberg die höchste Lebenserwartung in Baden-Württemberg.
- Warum ist das so? In unserer Serie "Die verlorenen Jahre" begeben wir uns auf Spurensuche.
- Teil 3 befasst sich mit dem Arbeitsmarkt - denn Arbeitslosigkeit erhöht Experten zufolge das Sterberisiko.
- Wo liegen die Unterschiede zwischen Mannheim und Heidelberg? Was sagt die Agentur für Arbeit, was die Stadt Mannheim? Antworten in unserem Beitrag.
Wenn man Wissenschaftler fragt, warum es in verschiedenen Regionen unterschiedliche Lebenserwartungen gibt, werden drei Faktoren praktisch immer genannt: Arbeit, Einkommen und Bildung. Und kaum einer vergisst, zu erwähnen, dass man diese eigentlich nicht voneinander trennen kann, da sie sich gegenseitig beeinflussen. So haben gebildetere Menschen in der Regel bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und damit tendenziell auch ein höheres Einkommen.
In der Studie des Rostocker Demografie-Professors Roland Rau hatte jedoch kein anderer Faktor einen größeren Einfluss auf die Lebenserwartung als die Arbeitslosigkeit. Entsprechend darf man davon ausgehen, dass diese auch eine wesentliche Rolle zur Erklärung des beachtlichen Unterschieds zwischen Mannheim und Heidelberg spielt.
Und die Zahlen belegen, dass der Arbeitsmarkt in den beiden Städten in der Tat deutliche Differenzen aufweist. So lag nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit die durchschnittliche Arbeitslosenquote in Mannheim im vergangenen Jahr bei 7,2 Prozent, während sie in Heidelberg 5 Prozent betrug. Damit lag Mannheim über dem bundesweiten Durchschnitt von 5,9 Prozent, Heidelberg darunter.
Jedes fünfte Kind hilfebedürftig
Dieser Unterschied setzt sich fort, wenn man weitere wesentliche Kennzahlen des Arbeitsmarkts betrachtet. Im vergangenen Jahr erhielten in Mannheim 11,1 Prozent der Menschen unterhalb des Renteneintrittsalters Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II, weil sie von Armut bedroht sind. In Heidelberg waren es 4,8 Prozent, die die auch als „Hartz IV“ bekannten Leistungen bezogen. Legt man den Fokus auf die Unter-18-Jährigen, ergibt sich für Mannheim sogar eine Quote von 19,3 Prozent. Übersetzt bedeutet das: Jedes fünfte Kind beziehungsweise jeder fünfte Jugendliche in Mannheim ist hilfebedürftig. In Heidelberg ist die Quote mit 8,6 Prozent nicht einmal halb so hoch.
Dass das Auswirkungen auf die Lebenserwartung hat, gilt in der Forschung als weitestgehend belegt. „Metaanalysen zeigen, dass Arbeitslose einen schlechteren Gesundheitszustand und ein um wenigstens 1,6-fach höheres Mortalitätsrisiko aufweisen als beschäftigte Personen“, zitiert eine im vergangenen Jahr im Springer VS-Verlag veröffentlichte Studie von Gerhard Krug – wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – und anderen eine entsprechende Untersuchung. „Dabei zeigt sich, dass Arbeitslosigkeit vor allem mit einer geringeren psychischen, aber auch physischen Gesundheit sowie teilweise mit einem riskanteren Gesundheitsverhalten (insbesondere bezüglich des Tabakkonsums) einhergeht“, heißt es weiter.
Auswertungen von Studien belegten, „dass psychische Probleme (Depressionen, Angststörungen etc.) bei Arbeitslosen gehäuft auftreten, diese ihren Gesundheitszustand deutlich schlechter einschätzen sowie, dass sie häufiger rauchen und seltener Sport treiben als Erwerbstätige“, schreiben Krug und Kollegen. Zudem beeinflusse Arbeitslosigkeit den Konsum von gesunden Lebensmitteln wie frischem Obst und Gemüse sowie einer warmen Mahlzeit am Tag negativ. Als Erklärungsfaktoren für diesen Befund werden unter anderem neben dem Verlust des Einkommens auch die fehlende Strukturierung des Tagesablaufes, der Teilhabe an kollektiven Zielen, Aktivität, Status und Identität sowie soziale Kontakte genannt.
„Wenn Arbeitslosigkeit eintritt, hat das Auswirkungen auf den Lebenswandel“, sagt auch der Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Sebastian Klüsener, „etwa auf die Frage, wie viel Alkohol man konsumiert oder ob man raucht. Und das kann dann zusätzlich zu einer Verkürzung der Lebenszeit beitragen.“ Gerade das Rauchen wirke sich mittelfristig stark auf die Lebenserwartung aus.
„Verhältnisse prägen Verhalten“
Auch das Umfeld könne das individuelle Verhalten beeinflussen, erklärt Klüsener: „Wenn eine gebildete Person nach Mannheim zieht, hat das in der Regel wenig Einfluss auf deren Lebenserwartung“, sagt er. „Wenn aber eine arbeitslose Person nach Mannheim in ein Problemviertel zieht, kann das Auswirkungen auf ihr Verhalten und damit auf die Lebenserwartung haben: Weil sie dann beispielsweise Leute findet, die auch arbeitslos sind oder mit dem Leben hadern. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die zugezogene Person in den Problemvierteln verbreitete gesundheitsbeeinträchtigende Verhaltensweisen wie etwa erhöhten Alkoholkonsum ebenfalls annimmt.“
„Das individuelle Verhalten wird sehr stark durch die Verhältnisse geprägt“, sagt auch der Dekan der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld, Oliver Razum. „Menschen, die in einer unbefriedigenden Arbeitssituation leben, rauchen oder trinken vielleicht überdurchschnittlich viel, weil sie mit dieser Situation nicht zurechtkommen.“
Geburtsort beeinflusst Chancen
Außerdem hätten Kinder, gibt der Mediziner und Epidemiologe zu bedenken, die in einer Stadt mit höherer Arbeitslosigkeit zur Welt kämen, statistisch gesehen ein größeres Risiko, in eine Familie geboren zu werden, in der Arbeitslosigkeit herrsche und der Bildungsstandard geringer sei. Werde lokal nicht genug in Arbeit und Bildung investiert, hätten diese Kinder dann selbst schlechtere Ausgangschancen, sagt Razum: „Der Ort, an dem man geboren wird, nimmt also einen Einfluss darauf, was man für Chancen hat.“
Das sagt die Agentur für Arbeit
Die Arbeitssituation beeinflusst also den Gesundheitszustand und das Verhalten der Menschen – und damit auch ihre Lebenserwartung. Warum aber ist der Arbeitsmarkt in Mannheim ein anderer als in Heidelberg? Und warum gibt es ausgerechnet in der „Arbeiterstadt“ mehr Arbeitslose?
Denny Krupp, Sprecher der hiesigen Agentur für Arbeit, kann das ganz gut erklären: „In Mannheim ist der Anteil an Menschen, die im produzierenden Gewerbe arbeiten, relativ hoch“, sagt er. „Etwa ein Viertel aller Beschäftigten, rund 51 000, arbeiten dort.“ Das sei historisch bedingt: „Mit Benz, Lanz und wie sie alle heißen, haben wir sehr große Unternehmen, die im produzierenden Gewerbe tätig sind. Darum haben sich auch die entsprechenden Arbeitskräfte hier angesiedelt.“
„Schwer für Industriestandort“
In den letzten 25 Jahren seien jedoch elf Prozent der Stellen in diesem Bereich weggefallen. „Das hat mit Automatisierung, Digitalisierung und Verlagerung ins Ausland zu tun“, erklärt Krupp. Zwar sei im gleichen Zeitraum im Dienstleistungsbereich – zu dem etwa Handel, Gastronomie oder Finanzwesen zählen – die Zahl der Stellen um etwa elf Prozent gestiegen. Die Jobs seien aber nicht vergleichbar. „Tendenziell sind im produzierenden Gewerbe eher die einfachen, die Helferberufe weggefallen“, sagt Krupp. „Aus einem ehemaligen Helfer in der Maschinenführung machen Sie aber nicht von heute auf morgen einen Bürokaufmann.“ Die Folge: „Alte Industriestandorte, wie Mannheim einer ist, tun sich mit dem Strukturwandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft etwas schwerer – und das schlägt sich eben auch auf dem Arbeitsmarkt nieder.“
In Heidelberg sei das anders, sagt Krupp: „Die hatten schon eh und je viel weniger verarbeitendes Gewerbe und stattdessen einen höheren Dienstleistungsanteil. Deshalb hat sich der Arbeitsmarkt dort im Grunde gar nicht so stark verändert.“
Migrantenanteil weiterer Grund
Dazu komme eine weitere Besonderheit: In Mannheim sei der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund deutlich höher als etwa in Heidelberg oder dem Rhein-Neckar-Kreis. „Und in dieser Personengruppe ist es so, dass es überdurchschnittlich viele gibt, die nicht die klassische deutsche Berufsausbildung haben“, so Krupp, „ganz einfach, weil sie in einem anderen Land groß geworden sind.“ So sei es für sie schwerer, Jobs zu finden. Im Juni etwa waren 43 Prozent der Arbeitslosen in der Stadt Ausländer.
Ferner beschrieben wissenschaftliche Studien ein weiteres Phänomen. „Insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit kann auch vererbbar sein“, sagt Krupp. „Wenn die Eltern oder Großeltern schon Hartz IV bekommen haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachfolgegeneration auch hilfebedürftig wird, deutlich größer. Deshalb arbeiten Jobcenter und Arbeitsagentur besonders intensiv mit der Gruppe der Schulabgänger und jungen Menschen ohne Beschäftigung.“
Das sagt die Stadt Mannheim
Jens Hildebrandt, Leiter des Fachbereichs Arbeit und Soziales bei der Stadt, sieht ebenfalls im Strukturwandel den entscheidenden Einflussfaktor auf den Arbeitsmarkt: „Darum sind die sozialen Problemlagen in Mannheim vielleicht eher mit denen im Ruhrgebiet zu vergleichen als mit denen in Heidelberg.“ Und in der Relation stehe Mannheim gut da.
Die Stadt unternehme sehr viel, um im Dienstleistungsbereich, etwa in der Kreativwirtschaft oder der Medizin-Technologie, Jobs zu schaffen. „Damit erreichen Sie meistens aber natürlich nicht die Arbeitslosen, die Hartz IV erhalten. Denn die neuen Arbeitsplätze sind nicht in der Produktion angesiedelt, sondern im Hightech-Bereich und erfordern viel Know-how.“ An diesem mangele es vielen Beschäftigungssuchenden aber: „Rund 60 Prozent aller Arbeitslosen im SGB II und III bringen keine Qualifizierung mit, bei Langzeitarbeitslosen im SGB II sind dies sogar knapp 75 Prozent“, sagt Hildebrandt. „In einer Wissensgesellschaft ist das jedoch das A und O.“
Die Gründe dafür seien vielfältig, einer sei auch die Zuwanderung aus Südosteuropa, die sich in Mannheim besonders bemerkbar mache, weil es einen „Klebeeffekt“ gebe: „Die Menschen kommen beispielsweise als Saisonarbeiter im Obst- und Gemüseanbau hierher, sie sanieren unsere Straßen und bauen unsere Häuser und leben dann gerne in Mannheim, weil es im Umland weniger Wohnraum gibt und sie hier eine tolerante Grundhaltung und eine gute soziale Infrastruktur vorfinden. Wir rufen Menschen, um zu arbeiten, und sie werden bleiben“, so Hildebrandt.
Bildungsgerechtigkeit als Ziel
Stadt, Jobcenter und Arbeitsagentur begegneten den sehr differenzierten Problemlagen auf vielfältige Weise: „Bildungsgerechtigkeit zu stärken und Armut zu bekämpfen, ist unser erstes und vornehmstes strategisches Ziel“, sagt der Fachbereichsleiter.
So gebe es nicht nur spezielle Förderprogramme für Unter-25-Jährige und Langzeitarbeitslose. „Wir treten auch gezielt an Zuwanderer aus Bulgarien heran und beteiligen uns an der Lokalen Stadterneuerung in der Neckarstadt-West, indem wir die Leistungsempfänger direkt ansprechen und zu Hause besuchen, um ihnen Chancen für eine Arbeitsaufnahme aufzeigen.“
Und noch etwas ist Hildebrandt besonders wichtig: „Ich habe Angst, dass Corona zu einer Vertiefung des Abstands zwischen Qualifizierten und weniger Qualifizierten führt. Das darf aber nicht sein: Wir müssen auch unqualifizierten jungen Menschen Chancen auf einen Ausbildungsplatz geben, damit die Corona-Pandemie nicht zur dauerhaften Arbeitslosigkeit bei der jüngeren Generation führt.“
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Die Lebenserwartung als Indikator für Ungerechtigkeit