Serie "Die verlorenen Jahre" - Teil 5

Lebenserwartung in Mannheim und Heidelberg: Weshalb Bildung Leben retten kann

Von 
Martin Geiger und Daniel Kraft
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Die Weichen werden früh gestellt: Wie erfolgreich Kinder in der Schule und damit später im Berufsleben sind, hängt stark am Elternhaus. Das wiederum beeinflusst die Lebenserwartung in Mannheim und Heidelberg. © istock

Das Wichtigste in Kürze

  • Statistisch gesehen haben Menschen in Mannheim die niedrigste und in Heidelberg die höchste Lebenserwartung in Baden-Württemberg.
  • Warum ist das so? In unserer Serie "Die verlorenen Jahre" begeben wir uns auf Spurensuche.
  • In Teil 5 beleuchten wir das Thema Bildung - bei dem es in beiden Städten beachtliche Unterschiede gibt.
  • Wir erklären, wie Bildung die Lebenserwartung beeinflusst und warum Heidelberg von der "selektiven Migration" profitiert.




Bildung, Bildung, Bildung: Wer zu verstehen versucht, warum die Lebenserwartung in Mannheim deutlich niedriger ist als in Heidelberg, landet früher oder später immer bei diesem Thema. Denn die Experten sind sich einig, dass vor allen Dingen die sozioökonomische Situation der Einwohner diesen Befund erklärt. Und diese wiederum wird wesentlich vom Bildungsniveau beeinflusst, das eng mit den Faktoren Arbeit und Einkommen verknüpft ist. So hat ein gebildeterer Mensch in der Regel einen besseren Job und ein höheres Einkommen. Darum soll es im vorletzten Teil dieses Projekts um Bildung gehen.

Dass es dabei beachtliche Differenzen gibt, wird beim Blick auf die amtliche Schulstatistik deutlich. So wechselten im vergangenen Jahr in Heidelberg 64,3 Prozent der Viertklässler aufs Gymnasium. In Mannheim waren es 46 Prozent. Landesweit liegt der Wert bei 42,5 Prozent.



Auch bei den Abschlüssen gibt es Unterschiede. Den Zahlen des Statistischen Landesamtes zufolge haben in Heidelberg im Jahr 2020 mehr als 60 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Schule mit dem Abitur oder einer anderen Hochschulzugangsberechtigung verlassen. In Mannheim waren es 54,5 Prozent. Die Quote der Abbrecher ohne Abschluss ist hier mit 7,1 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Heidelberg mit 3,1 Prozent.



"Der Bildungserfolg der Kinder ist stark an das Elternhaus gekoppelt"

„Die Städte sind historisch gewachsen einfach sehr unterschiedlich“, erklärt Frank Schäfer diese Zahlen. Er ist der stellvertretende Leiter des Staatlichen Schulamts Mannheim, das unter anderem für alle Grund-, Gemeinschafts- sowie Werkreal- und Realschulen in Mannheim und Heidelberg zuständig ist. „Wir haben in beiden Städten unterschiedliche Ausgangslagen und Herausforderungen.“ In Heidelberg sei in vielen Stadtteilen der Anteil der Akademiker an den Eltern im Durchschnitt höher als in Mannheim. „Und weil der Bildungserfolg der Kinder stark an das Elternhaus gekoppelt ist, macht sich das auch bei den Schülern bemerkbar“, sagt Schäfer. So habe Heidelberg landesweit mit eine der höchsten Quoten an Übergängen auf das Gymnasium.

In Mannheim seien die Voraussetzungen und Herausforderungen dagegen andere. „Dort haben wir in Relation zur Schülerzahl doppelt so viele Vorbereitungsklassen für Schüler mit unzureichenden Sprachkenntnissen wie in Heidelberg.“ In manchen Stadtteilen bräuchte es zwar keine, in anderen gebe es aber Klassen mit 14 Nationalitäten.

So sei der Bedarf an Ganztagsschulen in Heidelberg sehr gering, in Mannheim jedoch hoch: „Die Stadt ist da mit ihren vielen Angeboten schon auf einem sehr guten Weg“, findet Schäfer. „Denn es ist empirisch gesichert, dass Ganztagsschulen ein probates Mittel sind, um den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildung zu entkoppeln.“ Ohne dieses Instrument, ist er sich sicher, „wäre die Schere definitiv größer“.

Das Bildungsniveau beeinflusst die Gesundheit der Menschen

Auch das Schulamt versuche, durch die Zuweisung von Förderangeboten, die mit zusätzlichen Lehrerstunden verbunden sind, für einen gewissen Ausgleich zu sorgen. „Aber unsere Möglichkeiten sind da begrenzt. Darum wünschen wir uns als Schulverwaltung schon lange, dass wir die Möglichkeit bekommen, die Schulen noch bedarfsorientierter mit Lehrkräften zu versorgen.“

Doch auch in Heidelberg gibt es Themen, die Schäfer beschäftigen – selbst wenn es ganz andere sind: „Wir beobachten schon länger, dass dort immer mehr einkommensstarke Haushalte ihre Kinder auf Privatschulen schicken“, berichtet er. „Und das macht uns große Sorgen, weil diese Kinder häufig zu den leistungsstarken zählen – die dann aber für die gesunde Mischung in den öffentlichen Schulen fehlen.“

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Dabei ist ein möglichst hohes Bildungsniveau wichtig – weil es auch die Gesundheit der Menschen beeinflusst, wie in der Forschung allgemein anerkannt wird. So heißt es im Datenreport 2021 der Bundeszentrale für politische Bildung: „Nach Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) gaben im Jahr 2018 Personen mit niedriger Bildung in jeder Altersgruppe häufiger als Personen mit hoher Bildung an, aufgrund körperlicher oder seelischer Probleme in ihren arbeits- oder alltagsbezogenen Beschäftigungen eingeschränkt zu sein.“ Bei Männern mit niedriger Bildung sei das Risiko für Einschränkungen aufgrund körperlicher Probleme um das 2,3-Fache, bei Frauen um das 2,2-Fache erhöht. Das Risiko für Einschränkungen aufgrund seelischer Probleme sei jeweils doppelt so hoch.

„Selektive Migration“ begünstigt Heidelberg

„Wer gebildet ist, hat eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, länger zu leben“, sagt Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: „Heutzutage spielt das Verhalten eine wesentliche Rolle für die Lebenserwartung. Wer etwa regelmäßig raucht oder zu viel Alkohol konsumiert, stirbt in der Regel früher. Gebildete Personen lassen sich eher von derartigen Informationen in ihrem Verhalten leiten, ebenso wie sie häufiger Präventionsangebote nutzen.“

Verstärkt werde das in Heidelberg durch die „selektive Migration“. „Allgemein sind Menschen, die umziehen, gesünder als Menschen, die nicht umziehen“, sagt Klüsener. „Denn wer krank ist, bleibt in der Regel lieber in seinem gewohnten Umfeld.“ Da Heidelberg als Wohnort beliebt sei und viele Zuziehende sehr gebildet sind, wirke sich das gleich doppelt aus: „Darum haben Städte wie Hamburg, Bonn oder Heidelberg, wo sehr viele gebildete oder allgemein gut situierte Menschen wohnen und hinziehen, meistens auch eine sehr hohe Lebenserwartung.“

Das sagen die Städte Mannheim und Heidelberg

So unterschiedlich die Bildungsstatistiken ausfallen, so einig sind sich die Zuständigen beider Städte bei der Erklärung: „Eine leider nach wie vor relevante Koordinate für den Bildungserfolg ist die soziale Herkunft, weshalb wir als Stadt Mannheim weiter an der Entkoppelung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft arbeiten“, sagt der Leiter des Mannheimer Fachbereichs Bildung, Lutz Jahre. „Heidelberg hat einfach eine andere Sozialstruktur.“

Sein Heidelberger Kollege Stephan Brühl, Leiter des Amts für Schule und Bildung, äußert sich ähnlich: „Erstens spielt die Bevölkerungszusammensetzung eine sehr große Rolle: Bei uns gibt es einen hohen Akademikeranteil, der ein großes Interesse an Bildung hat und dem die Unterstützung der Kinder und Schulen sehr wichtig ist. Und ergänzt wird das zweitens durch eine Vielzahl an Unterstützungs- und Bildungsangeboten.“

Die gibt es in Mannheim auch, betont Jahre: „Wir machen da sehr viel.“ Auch weil es notwendig sei: „Mannheim verzeichnet einen hohen Anteil an Menschen mit einfachen Abschlüssen, was sich oftmals unmittelbar familiär fortsetzt.“ Zudem sei die Zuwanderung vor allem von Menschen mit geringen Ressourcen „ein vielschichtig zu bearbeitendes Dauerthema“.

Versorgung mit Lehrern - Forderungen an das Land

Darum finanziere die Stadt Sprachkurse und das Fördersystem MAUS. Dadurch erhalten die Kinder an 15 Schulen zusätzlichen Unterricht in den Kernfächern und weitere Angebote wie Theaterworkshops. Zudem werde an einem Drittel der Grundschulen ganztags unterrichtet, wofür die Kommune Erzieher bereitstelle. 60 Prozent der Schulen haben auch einen Sozialarbeiter. In Heidelberg gibt es die bereits überall, so Brühl. Ansonsten klingen die Programme, die er aufzählt, im Prinzip recht ähnlich.

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„Mit dem Bildungsangebot haben die Unterschiede nichts zu tun“, betont denn auch Jahre. Wichtiger sei etwas anderes: „Die Frage der Lehrerversorgung spielt eine große Rolle. Da wünschen wir uns, dass das Land dort mehr Lehrer hinschickt, wo die Herausforderungen am größten sind. Das wäre eine enorme Hilfe.“

Thorsten Papendick und die Stimme der Eltern

Für Thorsten Papendick, den Vorsitzenden des Gesamtelternbeirats der Stadt Mannheim, ist die Sache ziemlich klar: „Der Sozialindex der Stadt Mannheim ist weitaus besorgniserregender und dramatischer, als es in Heidelberg der Fall ist“, sagt er. „Darüber hinaus ist es so, dass der Bildungsabschluss der Eltern in Heidelberg in der Gesamtheit einfach höher ist. Darauf baut die ganze Entwicklung auf.“

Die Schullandschaft beider Städte sei vergleichbar. So macht er der Kommune keinen Vorwurf: „Mit dem, was die Stadt Mannheim als Schulträger zu verantworten hat, bin ich zufrieden.“ Klar könne man immer mehr machen. So wünscht Papendick sich eine Ausweitung des Förderprojekts Campus, noch mehr Ganztagsangebote und weitere Mensen: „Immer wieder beobachtet man, dass viele Schülerinnen und Schüler nicht mal eine warme Mahlzeit am Tag erhalten. Entweder, weil das Geld nicht da ist, oder weil die Fürsorge fehlt.“

Womit er jedoch unzufrieden ist, ist die Rolle des Landes: „Da wird seit Jahrzehnten hinsichtlich der Versorgung mit Lehrern zu wenig getan.“ Vor allem in den Grundschulen und Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren fehlten Lehrkräfte: „Das ist ein Riesenproblem.“

Redaktion Reporter für das Ressort "Mannheim".

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