Das Wichtigste in Kürze
- Statistisch gesehen haben Menschen in Mannheim die niedrigste und in Heidelberg die höchste Lebenserwartung in Baden-Württemberg.
- Warum ist das so? In unserer Serie "Die verlorenen Jahre" begeben wir uns auf Spurensuche.
- In Teil 1 stellen wir den statistischen Befund vor und erklären, wie die Lebenserwartung berechnet wird.
- Zudem werfen wir einen Blick auf Gesamtdeutschland und zeigen, wie die Kreise und Städte in der Region abschneiden.
Kaum etwas vereint die Menschheit so sehr wie der Traum von einem langen Leben. Schließlich sind Lebenszeit und Gesundheit mit das Wichtigste, was wir haben. Auch wenn das im Trubel des Alltags allzu oft untergeht. Lebenszeit ist jedoch nicht nur kostbar – sie ist auch begrenzt. Durch den Tod. Niemand weiß, wann es so weit ist. Gott sei Dank, werden die meisten denken.
Betrachtet man das alles jedoch nicht aus individueller Sicht, sondern aus statistischer, lassen sich sehr wohl Vorhersagen treffen. Und diese sind nicht nur interessant – sondern auch von Wohnort zu Wohnort unterschiedlich.
So hat das Statistische Landesamt errechnet, dass nirgendwo in Baden-Württemberg die Menschen früher sterben als in Mannheim. Nirgendwo leben sie länger als in Heidelberg. Und das, obwohl beide Städte gerade einmal 20 Kilometer voneinander entfernt sind.
In konkreten Zahlen ausgedrückt, bedeutet das, dass ein neugeborenes Mädchen in Mannheim statistisch gesehen im Durchschnitt 82,5 Jahre alt wird. Ein in Heidelberg geborenes Mädchen darf dagegen damit rechnen, 85,4 Jahre alt zu werden – also fast drei Jahre länger zu leben.
Bei den Jungen ist der Unterschied sogar noch größer. Während der in Mannheim auf die Welt gekommene Säugling durchschnittlich 77,5 Jahre alt wird, kommt der in Heidelberg geborene auf 81,3 Jahre: also fast vier mehr.
So wird die Lebenserwartung berechnet
- Um die Lebenserwartung für Männer und Frauen zu errechnen, arbeitet die Statistik mit sogenannten Sterbetafeln. Diese bilden ab, wie viele Menschen eines Jahrgangs sterben oder überleben werden – und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, in einem gewissen Alter zu sterben.
- Betrachtet werden bei Sterbetafeln meist Todesfälle in einem gewissen Zeitraum. Die daraus resultierende Lebenserwartung bezieht sich also nicht auf einen konkreten Geburtsjahrgang. Für den ließe sich ja erst rückwirkend, wenn alle Angehörigen dieses Jahrgangs gestorben sind, eine abschließende Aussage treffen. Vielmehr blickt die amtliche Statistik in Deutschland auf die derzeitigen Sterbeverhältnisse in Zeiträumen von drei Jahren. Letzteres soll Zufallsschwankungen ausgleichen.
- „Der Nachteil dieses Verfahrens ist, dass dann – wenn die Lebenserwartung ansteigt – diese von heute Geborenen unterschätzt wird“, erklärt Werner Brachat-Schwarz vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg. Die Lebenserwartung eines zwischen 2018 und 2020 in Mannheim geborenen Mädchens bezieht sich auf die Sterbefälle in diesem Zeitraum. Sie trifft keine Aussage darüber, wie sich die Lebenserwartung in der Zukunft entwickeln wird.
- Sterbetafeln werden weder von der Größe noch von der Altersstruktur einer Bevölkerung beeinflusst, erklärt das Statistische Bundesamt. Deshalb arbeitet die Statistik mit der sogenannten Sterbetafelbevölkerung. Auf diese Ausgangsbevölkerung von 100 000 fiktiven Männern und Frauen werden die tatsächlichen Sterbefälle bezogen. dk
- Weitere Informationen: Allgemeine Sterbetafel - Methoden und Ergebnisse (Destatis, PDF, 2 MB)
Mannheim unterm Bundesschnitt
Während Heidelberg deutschlandweit damit eine Spitzenposition einnimmt, liegt die Lebenserwartung in Mannheim sogar unter dem Bundesdurchschnitt: Diesem zufolge wird ein neugeborenes Mädchen hierzulande statistisch gesehen 83,4 Jahre alt, ein Junge 78,6. Das ist das Ergebnis der jüngsten Berechnung des Statistischen Bundesamtes.
In diese ist das Jahr 2020 und somit ein Teil der Auswirkungen der Corona-Pandemie bereits einbezogen. Letztere hat dazu geführt, dass die Lebenserwartung im Vergleich zur Auswertung im vergangenen Jahr praktisch gleich geblieben ist: Normalerweise stieg sie in den letzten zehn Jahren jeweils durchschnittlich um etwa 0,1 Jahre an.
Denn insgesamt, das darf man nicht vergessen, leben die Menschen hierzulande im Schnitt immer länger: In Baden-Württemberg ist den Berechnungen des Statistischen Landesamtes nach die Lebenserwartung eines Neugeborenen, die in der Regel als Maßstab verwendet wird, seit Anfang der 1970er Jahre um mehr als zehn Jahre gestiegen. Seinerzeit mussten Jungen noch damit rechnen, nach 68,5 Jahren zu sterben, Mädchen nach 74,5. Als Hauptgrund für diese Entwicklung nennen Forscher die deutlich geringere Säuglingssterblichkeit. Darum bezeichnet etwa der Demografie-Professor Roland Rau von der Universität Rostock die Entwicklung der Lebenserwartung auch als „Erfolgsgeschichte“.
Warum Frauen länger leben
- Statistisch gesehen haben Menschen in Deutschland die geringste Wahrscheinlichkeit zu sterben, wenn sie etwa zehn Jahre alt sind. Bis dahin seien bereits viele Kinderkrankheiten überstanden – und die Bewegungsfreiheit der Kinder, die mit Gefahren einherginge, sei noch begrenzt, schreibt das Statistische Bundesamt.
- Danach steigt die Sterbewahrscheinlichkeit bei Männern zunächst stärker als bei Frauen. „Die höhere Sterblichkeit der Jugendlichen und der Männer zwischen 15 und 25 Jahren ist vor allem auf Verkehrsunfälle und Selbsttötungen zurückzuführen“, erklärt Werner Brachat-Schwarz vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg.
- Er sieht die geringere Lebenserwartung des vermeintlich starken Geschlechts weniger durch biologische Faktoren bestimmt. „Ganz überwiegend dürfte sie auf unterschiedliche Verhaltensweisen zurückzuführen sein“, sagt Brachat-Schwarz. „Frauen ernähren sich im Schnitt gesünder, sie setzen sich im Alltag weniger Gefahren aus, verüben deutlich seltener Suizid und nehmen häufiger Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen in Anspruch.“
- Einen entscheidenden Einfluss auf den generellen Anstieg der Lebenserwartung hat der Rückgang der Säuglingssterblichkeit. Diese ist, so Brachat-Schwarz, in Baden-Württemberg auf etwa ein Siebtel des Standes von 1970/72 gesunken. Derzeit sterben rund drei von 1000 Neugeborenen. Rein rechnerisch wirke sich die Verringerung der Säuglingssterblichkeit stärker auf die Lebenserwartung aus, als wenn sich beispielsweise die Sterblichkeit der über 80-Jährigen verändert hätte. dk
Dennoch wirft der Befund aus Mannheim Fragen auf. Denn eigentlich steht Baden-Württemberg im Vergleich der Bundesländer hervorragend da: Seit rund 50 Jahren belegt das Bundesland regelmäßig den ersten Platz bei der Lebenserwartung. So auch in der jüngsten Berechnung, bei der Bayern auf dem zweiten Rang landet.
Differenz zuletzt größer geworden
Demnach wird ein neugeborenes Mädchen im Südwesten statistisch gesehen 84,2 Jahre alt. Ein Junge im Schnitt 79,9. Zum Vergleich: Im Saarland werden die Mädchen durchschnittlich 82,3 Jahre alt. Die Jungen in Sachsen-Anhalt kommen auf 76,5 Jahre. Damit bilden sie die Schlusslichter in dieser Reihenfolge.
Mannheimer Stadtteile: Elf Jahre Unterschied
- Natürlich gibt es nicht nur zwischen Mannheim und Heidelberg eine unterschiedliche Lebenserwartung. Auch innerhalb Mannheims variiert dieser Wert. Er wird für die 17 Stadtbezirke nach Angaben der Verwaltung zwar nicht eigens erhoben. Doch das durchschnittliche Sterbealter in den Stadtteilen liefert interessante Hinweise.
- So waren die Einwohnerinnen und Einwohner der Neckarstadt-West, die in den vergangenen drei Jahren gestorben sind, im Durchschnitt 70,6 Jahre alt – die des Lindenhofs dagegen 81,5. Damit sind Letztere elf Jahre älter geworden! Fast so groß ist der Unterschied mit mehr als acht Jahren auch zwischen den Bezirken Innenstadt/Jungbusch (72,4 Jahre) und Neuostheim/Neuhermsheim (80,8 Jahre). Nimmt man ganz Mannheim zusammen, lag das durchschnittliche Sterbealter von 2018 bis 2020 bei 77,7 Jahren.
- Zwar darf man diese Werte aufgrund der relativ niedrigen Fallzahlen und eventueller Sondereinflüsse – etwa einem großen Pflegeheim in einem Stadtteil – nicht überinterpretieren. Doch selbst Oberbürgermeister Peter Kurz hat in der Vergangenheit darauf hingewiesen, das Sterbealter sei „ein Indikator, der Ungleichheit von Lebensverhältnissen misst“. mig
Mit statistischen Zufällen oder natürlichen Schwankungen ist das alles nicht zu erklären. Das belegt der Blick auf die Zeitreihe. Dieser zeigt, dass es bereits Ende der 1980er Jahre einen beachtlichen Unterschied zwischen Mannheim und Heidelberg bei der Lebenserwartung gab. Und seit mit Beginn der 2000er Jahre die Daten auf Kreisebene regelmäßig erhoben werden, ist er tendenziell sogar größer geworden.
Woran liegt das? Warum sterben hier die Menschen früher und dort später? Und was lässt sich dagegen tun? Diese und viele andere Fragen wollen wir in den nächsten sechs Wochen erörtern – um uns den Antworten so gut es geht anzunähern. Dabei analysieren wir umfangreiches statistisches Material, werten wissenschaftliche Studien aus und sprechen mit Forschern, Praktikern und Politikern. Nicht, um jemanden abzuwerten oder gar abzustempeln. Sondern einfach, um einem sehr interessanten und bedeutenden Befund auf die Spur zu kommen. Schließlich ist nichts so wichtig wie das Leben. Und die Zeit, die uns noch bleibt.
Lebenserwartung auf Kreisebene: Diese Unschärfen gibt es
- In unserem Projekt arbeiten wir hauptsächlich mit den Daten des Statistischen Bundesamtes und des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Bei den Daten auf Kreisebene können Zufälligkeiten einen Einfluss auf die Ergebnisse haben. Der Grund: Die Sterbefallzahlen nach Altersjahren und Geschlecht sind relativ gering, erklärt Werner Brachat-Schwarz vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg. Richtet sich der Blick auf die Ergebnisse über die Jahrzehnte hinweg, lassen sich jedoch dauerhafte Unterschiede erkennen.
- Für Hessen und Rheinland-Pfalz gibt es die exakt vergleichbaren Daten nicht. Die Kreise dort seien zu klein, um seriöse Berechnungen vorzunehmen, begründet dies die rheinland-pfälzische Statistikbehörde in Bad Ems.
- Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung jedoch errechnet regelmäßig die Lebenserwartung für alle deutschen Stadt- und Landkreise. Auf der Grundlage dieser Daten haben wir die Grafik am unteren Rand dieser Seite erstellt. Allerdings unterscheidet das Institut nicht nach Geschlechtern – weshalb die Werte unter anderem nicht deckungsgleich mit denen des Statistischen Landesamtes sind.
- Weiterhin hat der Rostocker Demografie-Professor Roland Rau zusammen mit seinem Kollegen Carl Schmertmann eigene Berechnungen auf Kreisebene vorgenommen, um dem Problem der kleinen Datensätze zu begegnen. Er kommt zwar zu leicht anderen Ergebnissen. Einen beachtlichen Unterschied bei der Lebenserwartung zwischen Mannheim und Heidelberg findet sich jedoch auch in seiner Studie. Auf diese gehen wir im nächsten Teil dieses Projekts ein. mig/dk
Die weiteren Beiträge zu unserer sechsteiligen Serie "Die verlorenen Jahre":
- Abschluss-Kommentar: Lebenserwartung als Indikator für Ungerechtigkeit
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