Am Montagabend passt das Wetter in Mannheim zur Stimmung, die irgendwo zwischen Trauer und Zorn sowie Ungewissheit und Wut liegt: es regnet. Während auf dem Paradeplatz bei einer Kundgebung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) und weiterer Organisationen laut Polizei zwischen 250 und 300 Menschen - unter ihnen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, der DIG und des Gemeinderats sowie Oberbürgermeister Christian Specht und dessen Vorgänger Peter Kurz - an den Jahrestag des Überfalls der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober erinnern, warten ein paar Hundert Meter weiter palästinensische Demonstranten darauf, dass das Bundesverfassungsgericht ihre Kundgebung doch noch erlaubt.
Zuvor hatten Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof diese untersagt. Sie waren der Stadt gefolgt, die die Demonstration erlaubt hatte - allerdings mit der Auflage, diese an einem anderem Tag als dem 7. Oktober durchzuführen. Die Demonstration wird auch nach Hinzuziehen des Bundesverfassungsgerichts an diesem Abend nicht mehr stattfinden. Dazu später mehr.
Oberbürgermeister Specht: VGH-Beschluss „gute Nachricht“
Auf dem Paradeplatz sind Bilder jener 250 Geiseln gesteckt, die die Hamas entführt hat, getötet hat oder noch immer festhält. Die Taten und Bilder des 7. Oktober 2023 hätten sich „tief in unser Gedächtnis eingeprägt“, sagt Specht in seiner Rede. Der Oberbürgermeister nennt die Hamas verantwortlich für den Krieg, unter dem auch Mannheims im Norden Israels gelegene Partnerstadt Haifa leide. Der Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 sei kein Anschlag gewesen, sondern der Beginn eines globalen antisemitischen Kriegs war, in dem alle Juden angegriffen werden, zitiert Specht die jüdische Filmemacherin Esther Schapira und stellt klar, die Jüdische Gemeinde gehöre „ohne jede Einschränkung“ zu Mannheim. Mitglieder hätten „jedes Recht“, ihre Religion frei auszuüben und hier ohne Furcht zu leben.
Specht erklärt, es sei „gemeinsame Verantwortung, dafür zu sorgen, dass ,Nie wieder’ jetzt ist.“ Gleichzeitig verurteilt er einen Generalverdacht gegenüber Muslime, wenn diese sich mit palästinensischen Opfern solidarisierten, und erinnert daran, dass es die Menschlichkeit verlange, um alle Opfer zu trauern.
Der DIG-Vorsitzende Chris Rihm und der SPD-Landtagsabgeordneter und Beauftragte seiner Fraktion gegen Antisemitismus, Boris Weirauch, kritisieren den zunehmenden Antisemitismus. „Jüdinnen und Juden werden inzwischen auch in Mannheim offen auf der Straße, aber auch digital bedroht. Wurde aus ,Nie wieder ist Jetzt’ wirklich innerhalb eines Jahres ,Wieder ist jetzt’?“, sagt Rihm. Weirauch erinnert an die Pflicht für Staat und Gesellschaft, jüdisches Leben zu schützen. „Wer im Land der Shoa, auf unseren Straßen Terror verherrlicht und Terroristen huldigt, muss die ganze Härte unseres Rechtsstaats im Strafrecht, Versammlungsrecht und Aufenthaltsrecht zu spüren bekommen.“
Stadtrat Volker Beisel (FDP) bezeichnet den 7. Oktober 2023 nicht nur als einen Angriff auf die einzige Demokratie in der Region, sondern einen auf die gesamte freie Welt. Die Staatssekretärin im Landesverkehrsministerium, Elke Zimmer (Grüne), appelliert, sich in Mannheim, „wo Menschen aus allen Ländern zusammenleben“, nicht spalten zu lassen. „Wir haben ein schwieriges Jahr hinter uns, in denen Teile der Gesellschaft versucht haben, uns zu trennen, und eine Täter-Opfer-Umkehr versuchen.“ Man müsse gesprächsbereit bleiben. „Was aber klar ist: Die Täter sind Hamas und Hisbollah. Da gibt es kein Wenn und Aber.“
Unterdessen wartet am Marktplatz die Gruppe Zaytouna darauf, auch demonstrieren zu dürfen. Das hatte das Verwaltungsgericht am Nachmittag untersagt, weil unter anderem eine „hinreichende Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ bestünde. Zwar wies das Gericht darauf hin, dass die Wahl des Zeitpunkts einer Versammlung von der Versammlungsfreiheit gedeckt ist. Der 7. Oktober sei aber der Jahrestag eines „planvollen, von unterscheidungslosem Vernichtungswillen getragenen Massakers mit mehr als 1000 Toten, hundertfacher Geiselnahme sowie mehreren Tausend Verletzten“, weshalb ihm ein „historisch eindeutiger Symbolgehalt“ zukomme. Demnach sei der Tag für viele ein bedeutsamer Gedenktag, gegen den die Kundgebung eine Provokation darstellen könnte.
Kurz vor Beginn der DIG-Kundgebung auf dem Paradeplatz teilt eine Sprecherin des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) dem „Mannheimer Morgen“ mit, dass der VGH die Beschwerde gegen diesen Beschluss zurückgewiesen habe. Auch Specht spricht in seiner Rede davon und bezeichnet den VGH-Beschluss als „eine gute Nachricht“. Die Versammlungsfreiheit gelte nichtsdestotrotz und so werde es „an anderen Tagen entsprechende Aufzugsmöglichkeiten geben“, sagt er.
Verwaltungsgerichtshof wägt ab, Verfassungsgericht bestätigt
In ihrer Begründung, die dieser Redaktion am Dienstagmorgen vorliegt, erklären die Richterinnen und Richter des VGH, es sei offen, ob die Auflage der Stadt rechtmäßig ist. So könnte die öffentliche Sicherheit gefährdet sein, wenn an einem symbolträchtigen Tag eine Versammlung stattfinde, die diese Symbolkraft angreife. Ein Verbot dürfte aber nicht allein darauf gestützt werden, dass die Versammlung diesem Gedenken widerspreche. „Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Durchführung der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen“, heißt es.
Ob das im Fall der Kundgebung passiert wäre, kann das Gericht „in der Kürze der ihm zur Entscheidung verbleibenden Zeit“ nicht klären. Auch bleibt offen, ob der 7. Oktober tatsächlich ein Gedenktag sei. „Hierfür mag die von der Antragsgegnerin (der Stadt, Anm. d. Red.) und vom Verwaltungsgericht zu Recht herausgestellte Singularität und Grausamkeit des von der Hamas verübten Massakers sprechen, dagegen, dass fraglich sein könnte, ob der Tag im öffentlichen Bewusstsein im Sinne eines ,common sense’ als Erinnerungstag angesehen wird.“ Es sei auch offen, ob sich die Versammlung gegen dieses Gedenken richte. Das liege auch daran, erklärt der VGH, dass sich die Gruppe im Vorfeld „widersprüchlich“ geäußert habe. „Während einerseits von einer ,Mahnwache’ die Rede ist, wird andererseits ausgeführt, dass Redebeiträge gehalten werden sollen und der Antragsteller das Massaker ,kontextualisier[en] oder - mit Verweis auf internationale Berichte und Medien - kritisch hinterfrag[en]’ will.“
Der VGH wägt ab. Für ihn war „nicht erkennbar“, dass eine zu Unrecht verschobene Versammlung schlimmer wiegen würde als wenn die Versammlung zu Unrecht stattfinden würde. Die Versammlung könnte später stattfinden, weil sich das Motto „76 Years of Occupation“ nicht explizit auf diesen Tag beziehe.
Noch am Montagabend bemühen die Organisatoren das Bundesverfassungsgericht. Man solle sich bereithalten, falls das die Demonstration erlaube, schreibt Zaytouna gegen 18.30 Uhr auf Telegram. Irgendwann zwischen 19 und 20 Uhr verbreitet Zaytouna ein Video, in dem einer der führenden Köpfe der Gruppe und der hiesigen Palästina-Demonstrationen dem Verfassungsgericht vorwirft, nicht in der Lage zu sein, eine „scheiß Entscheidung“ zu treffen. „Entscheidet gegen uns und sagt, dass wir keine Grundrechte haben als Palästinenser.“ Oder das Gericht solle entscheiden, „dass wir genauso das Recht haben, wie die scheiß Faschisten und die scheiß Zionisten heute auf die Straße zu gehen“, sagt er wörtlich. Am 7. Oktober 2023 seien mehr Palästinenser gestorben als „fucking Zionisten“.
Ein Sprecher des Gerichts erklärt am Dienstagmorgen dieser Redaktion, dass am Montag um 17.55 Uhr ein Eilantrag eingegangen sei. Diesen habe die 1. Kammer des Ersten Senats abgelehnt. „Zwar erscheint eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG nicht ausgeschlossen“, heißt es. Diese Umstände seien allerdings auch „nicht ausreichend“ dargelegt worden. Der Beschluss sei um 19.21 Uhr bekanntgegeben worden, erklärt der Sprecher.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Einige offene Fragen trotz friedlicher Demos zum 7. Oktober in Mannheim