Mannheim. Hermann Rütermann sagt: „Was sich da 1992 auf der Schönau abspielte, war ein Pogrom, das nicht in Vergessenheit geraten darf.“ Der Theologe, der damals erst seit wenigen Monaten Pastoralreferent der katholischen Gemeinde auf der Schönau war, versteht darunter eine gewaltsame Ausschreitung gegen Mitglieder einer religiösen, nationalen, ethnischen oder anderen Minderheit. Rütermann ist einer der Teilnehmer der Podiumsdiskussion, die sich am Wochenende mit den Geschehnissen von vor 30 Jahren auf der Schönau befasste. Im Naturfreundehaus hatten sich etwa 35 Zuhörer eingefunden.
Weitere Teilnehmer waren Journalist Thomas Reutter, Künstler Nuri Cihanbeyli, Yahya Durusoy vom Vorstand des Dachverbands von Vereinen aus der Türkei (DIDF), André Neu von Organisator Bermuda.Funk sowie DIDF-Vorstand und LI.PAR.Tie-Stadträtin Nalan Erol. Silvia Kurz moderierte. Per Video war Altstadtrat und Rechtsanwalt Günter Urbanczyk zugeschaltet, der aus seiner Sicht berichtete. Vertreter von Polizei oder städtischen Behörden saßen nicht auf dem Podium.
André Neu fasst die Ereignisse aus seiner Sicht zusammen. Schon 1991 sei über die Verwendung der ehemaligen Gendarmeriekaserne diskutiert worden. Später seien Geflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien dort untergebracht worden. Am 28. Mai 1992 kommt es zu Menschenaufläufen vor der Flüchtlingsunterkunft. Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils - und später auch zugereiste Neonazis aus Deutschland - versammeln sich tagelang vor dem Gebäude, das sich auf dem Gelände des heutigen Lidl in der Lilienthalstraße befindet.
Auslöser für die Unruhen ist das Gerücht, ein Bewohner der Asylbewerberunterkunft habe eine 16-Jährige von der Schönau vergewaltigt. Das stellt sich später als falsch heraus - es war der US-amerikanische Freund des Mädchens. Während der Unruhen soll es Versuche gegeben haben, die Unterkunft zu stürmen. Die Polizei habe zwar Schlimmeres verhindert, habe aber die Beteiligten kriminalisiert und teilweise brutalzusammengeschlagen, kommentiert Neu. Mehrere Personen werden verhaftet. Am 2. Juni 1992, beschreibt Neu weiter, entrollt eine 30-köpfige Gruppe von ProAsyl ein Banner mit der Aufschrift „Weg mit dem rassistischen Bürgermob“. Die Gruppe sei auf rund 100 Personen angewachsen, auch die Asylgegner versammeln sich erneut. Es sei zu Handgreiflichkeiten zwischen beiden Gruppen gekommen, in die später auch die Polizei verwickelt worden sei, sagt Neu.
Journalist Reutter zeigt sich entsetzt darüber, wie der „Mannheimer Morgen“ damals berichtete. In der Ausgabe vom 28. Mai hat der „MM“ seine Rolle von damals selbst kritisch hinterfragt, Beteiligte von damals kamen zu Wort. Während der Diskussion am Wochenende wirft aber auch Neu dieser Zeitung vor, 1992 „tendenziös“ berichtet zu haben. Den damaligen Oberbürgermeister Gerhard Widder kritisiert er auch: Indem er sich für eine härtere Asylpolitik eingesetzt und Verständnis für die Menschen vor der Kaserne gezeigt habe, hätte er die Ausschreitungen angeheizt. Auch 30 Jahre nach diesen Vorfällen tun sich die Verantwortlichen schwer, das aufzuarbeiten, kritisiert André Neu.
„Wie in einem Kriegsgebiet“
Ganz anders bewertet Stefan Fulst-Blei die Rolle des Ex-Oberbürgermeisters. Der Landtagsabgeordnete ist 1992 Juso-Vorsitzender in Mannheim. Bei einer öffentlichen Gesprächsrunde vor wenigen Tagen sagt er: „Gerhard Widder war vor Ort, er hat sich vor die Gendarmeriekaserne gestellt und versucht, die Demonstranten zu beruhigen, und es ist wohl ihm und der Polizei zu verdanken, dass nicht mehr als eingeworfenen Scheiben passierte.“
Journalist Reutter erzählt, er habe nach den Demonstrationen 1992 viele Verletzte in Krankenhäusern gesehen. Er habe eine Anzeige gegen die Polizei wieder zurückgezogen, „weil das nichts gebracht hätte“, wie er sagt. Urbanczyk dagegen hat laut eigener Aussage Anzeige erstattet. Aber sämtliche Verfahren seien eingestellt worden. Silvia Kurz empfindet vor allem bei den Demonstrationen rund um den Paradeplatz eine „gruselige Atmosphäre“. Sie habe gesehen, erzählt sie, wie ein Polizist seine Dienstwaffe entsichert habe. Als „sehr bedrohlich“ beschreibt sie die Situation vor 30 Jahren.
Auch Stadträtin Andrea Safferling bezeichnet die Situation von damals als „beängstigend, der ganze Lärm, alles war abgesperrt, wie in einem Kriegsgebiet“. Ihr, sagt sie beim Gespräch mit Stefan Fulst-Blei, taten die Asylsuchenden leid. „Ich denke, viele wären damals nicht auf die Straße gegangen, wenn sie sich mit der Kultur dieser Menschen beschäftigt hätten. Nur von dem Unbekannten hat man Angst.“ Fulst-Blei vor wenigen Tagen: „Wir sollten die Erinnerung wachhalten und mahnen, dass so etwas in unserer Stadt nie wieder passiert.“
Unter den Diskussionsteilnehmern vom Wochenende herrscht unterdessen Einigkeit, dass gegen Rassismus entschieden vorgegangen werden müsse. Außerdem fordert die Runde, die Vorgänge von der Schönau 1992 aufzuarbeiten. Rütermann will deshalb zusammen mit der Geschichtswerkstatt am 28. Juni einen Arbeitskreis ins Leben rufen, der in verschiedenen Archiven recherchieren und Fragen beantworten soll - etwa, wie Falschnachrichten begegnet werden soll, die laut Rütermann immer noch auf der Schönau kursierten. Oder: Wie ist es den Menschen ergangen, die in der Kaserne untergebracht waren? Die Gründungsversammlung ist am Dienstag, 28. Juni, um 19 Uhr bei den Kulturbrücken im Jungbusch in der Böckstraße 21. (mit lok)
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