Mannheim. 1991: Hermann Rütermann ist seit wenigen Monaten Pastoralreferent der katholischen Gemeinde auf der Schönau, als er spürt, dass er zuerst in ein Wespennest stechen muss, um Frieden zu stiften. Denn der studierte Theologe aus Freiburg hatte in seinen Jahren auf dem Waldhof zwar schon erlebt, wie Vorbehalte gegen Migranten und Schutzsuchende zwischen Luzenberg und Benz-Baracken in Verachtung umschlagen können - doch gegen die Ereignisse hier auf der Schönau sollte ihm alles Vorherige nur wie ein lauer Vorgeschmack erscheinen.
Denn als eine Bürgerversammlung die Pläne präsentiert, in der ehemaligen Gendarmeriekaserne an der Lilienthalstraße Geflüchtete unterzubringen, laufen die Bürger Sturm. Ohnehin ist die Schönau der frühen 1990er Jahre ein Ort, an dem es soziale Probleme gibt. Auch politische Kräfte schlagen aus dieser Not Kapital. In den Wochen vor den rassistischen Unruhen ziehen die rechtsradikalen Republikaner mit einem Ergebnis von 16,6 Prozent auf der Schönau in den Landtag ein - auch die AfD konnte Jahre später im Mannheimer Norden beachtliche Wahlergebnisse erzielen. Dieses Klima beschreiben damals Involvierte als „Nährboden der Abneigung“, und auch Hermann Rütermann stellt im Gespräch mit dieser Redaktion klar: „Es war abzusehen, dass es knallen wird.“
400 Betrunkene vor dem Gebäude
Damit es doch nicht soweit kommt, gründet Rütermann noch wenige Tage vor der Eskalation einen Gesprächskreis unter dem Motto „Fremde brauchen Freunde“. Doch die Auseinandersetzungen lassen sich nicht mehr vermeiden.
Am 28. Mai 1992, dem Vatertag, ist es schließlich soweit. Zwei Tage zuvor meldet sich eine 16-Jährige bei der Polizei und gibt an, von einem Bewohner der Asyl-Unterkunft vergewaltigt worden zu sein. Über Kanäle, die bis heute unklar sind, gerät die Information an die Bevölkerung - und entzündet ein Feuer der Aggressivität. Als das traditionelle Waldfest zum Vatertag wegen mehrerer Schlägereien im Alkoholrausch von der Polizei aufgelöst wird, ist die Marschrichtung klar: in Richtung Kaserne. Bereits in den Tagen zuvor hatten hier bis zu 150 Personen mit Drohgebärden Schlimmeres angekündigt - nun stehen in der Spitze bis zu 400 betrunkene und gewaltbereite Randalierer vor der Unterkunft, zum Sturm des Gebäudes entschlossen. Doch dazu kommt es nicht. Auf historischen Fernsehaufnahmen des Senders RNF ist der hinzugeeilte Oberbürgermeister Gerhard Widder (SPD) zu sehen, der versucht, die Menge zu beruhigen. Auch CDU-Stadträtin Regina Trösch will beschwichtigen. Die Polizei muss Verstärkung aus anderen Städten hinzurufen. Der Wachposten an der Kaserne verschwindet aus Angst nach Hause, und die Parolen werden eindeutiger: „Die sterben alle, und wenn die Bullen mit draufgehen“, ruft einer der Betrunkenen in die Fernsehkamera.
Metallstäbe zur Verteidigung
Unter den Betroffenen dieses Abends ist auch Safet Zivkovic. Damals 24 Jahre alt, wohnt der gebürtige Jugoslawe mit seiner Frau, einem Baby und zwei kleinen Kindern in der Unterkunft. Die Angst geht um. Sonst mögen sich die Bewohner in ihrer Diversität und Mentalität voneinander abgegrenzt haben, an diesem Abend werden sie zur Einheit: „Wir dachten, die werden uns lynchen.“ Zur Sicherheit bewaffnen sich die Stärksten mit den Metallstäben der Gitterbetten. Am Ende werden sie die nicht benötigen, aber gezeichnet von den Vorkommnissen bleiben viele von ihnen für den Rest ihres Lebens.
In den Tagen danach schreibt Stadtoberhaupt Widder einen offenen Brief von und spricht von „Ansammlungen beunruhigter Bürger“, die am Vatertag vor die Kaserne zogen. Der Theologe Rütermann dagegen will in dem Hass von der Schönau gar ein „Pogrom“ sehen, weil das Vorgefallene von Stadt und Polizei maßlos unterschätzt wurde. Es seien nicht etwa organisierte Rechte, sondern gemeldete Bewohner eines Stadtteils gewesen, die die Eskalation auf die Spitze trieben. Ein Klima, das Rütermann auch später mit Begegnungsfesten, Ferienfreizeiten und Angeboten wie einer Kleiderkammer oder einer Fahrradwerkstatt nur mühsam wieder drehen konnte.
Gänzlich sinnlos war Rütermanns Ansinnen deswegen jedoch keineswegs. Denn nicht nur Safet Zivkovic sagt heute: „Wir haben damals einen hohen Preis gezahlt, aber die Politik hat daraus gelernt, und unsere Kinder haben davon profitiert. Unser Kampf für mehr Anerkennung war nicht vergebens.“
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