Mannheim. Es sind wenige Minuten, die aber haben es in sich: Als am 2. Juni eine Gruppe der Antifa den Marktplatz erreicht, leuchten Bengalos. Die Polizei umringt die Gruppe. Ein Teilnehmer der parallel stattfindenden Demonstration der Jungen Alternative stürmt auf sie zu.
Gegenseitige Beleidigungen. Drohungen. Die Polizei drängt auch ihn zurück. Dann beruhigt sich die Situation auf dem Marktplatz wieder, auf dem an diesem Sonntag neben Antifa und Junger Alternative bis zu 1000 Menschen in einer von einem zivilgesellschaftlichen Bündnis organisierten Menschenkette gegen die rechtsextreme Instrumentalisierung des Attentats auf dem Marktplatz nur zwei Tage zuvor demonstrieren. Dort wurde am 31. Mai der Polizist Rouven Laur bei einem mutmaßlich islamistisch motivierten Messerangriff tödlich verletzt.
Fünf Tage später wird die AfD erneut eine Kundgebung abhalten. Auch dieses Mal organisiert ein zivilgesellschaftliches Bündnis eine Gegendemonstration. Beide Gruppen treffen auf dem Paradeplatz aufeinander - das Sicherheitskonzept aber geht auf. Bis auf verbale Auseinandersetzungen bleibt es friedlich.
Bereits ein knappes halbes Jahr zuvor hatte das Bündnis „Mannheim sagt Ja!“ am 27. Januar fast 20 000 Menschen auf dem Alten Meßplatz versammelt, um gegen Remigrationspläne und Rechtsextremismus und für Vielfalt zu demonstrieren. Bei allen Problemen, die teilweise der kurzen Vorbereitung geschuldet gewesen seien, „hat diese Aktion den demokratisch gesinnten Menschen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben“, erklärt Mitorganisator Gerhard Fontagnier fast ein Jahr nach der Kundgebung.
Demos in Mannheim: Am häufigsten war der Krieg im Nahen Osten Thema
Das sind nur drei Beispiele von vielen Versammlungen in den vergangenen zwölf Monaten. 2024 sind Demonstrationen in Mannheim mehr Regel als Ausnahme. Die nationale und internationale Politik ist aufgewühlt, die Polarisierung groß wie lange nicht. Das spiegelt sich bei Protesten wider und führt zu zahlreichen Versammlungen in der Stadt.
Man bemerke eine „deutliche Verschiebung“ des Geschehens, erklärt Sicherheitsdezernent Volker Proffen: Weniger Infostände, dafür mehr „Versammlungen mit erhöhtem Abstimmungsbedarf“, wie er sagt. Die Stadtverwaltung beobachte „seit Jahren“ ein „großes, kontinuierliches Interesse“, Versammlungen in Mannheim durchzuführen.
Zum Stichtag 11. Dezember haben in der Stadt bereits 404 solcher Versammlungen stattgefunden, erklärt eine Sprecherin des Dezernats. Über das gesamte Jahr 2023 waren es nur 392, ein Jahr zuvor 357. 2019 wurden 313 Versammlungen gezählt, 2018 nur 210. Die Tendenz also steigt und nähert sich den Höchstständen der vergangenen Jahre von 2020 (448) und 2021 (423) an. In den beiden Jahren habe es viele Proteste gegen Corona-Maßnahmen gegeben, sagt die Sprecherin. Deshalb seien sie schwer vergleichbar.
Im Mittelpunkt der meisten Versammlungen stand 2024 indes der Krieg im Nahen Osten, der Menschen teilweise mehrmals in der Woche auf die Straßen Mannheims getrieben hat. Die Demonstranten kommen nicht selten von außerhalb und sorgen in Mannheim gesellschaftlich wie kommunalpolitisch für kontroverse Diskussionen.
Proffen spricht von einem „besonders auffälligen“ und „starken Anstieg“: 89 der 404 Versammlungen haben die Situation in Nahost thematisiert, die damit die größte „Gruppe“ stellt. Neben 75 stationären Versammlungen sind vor allem viele der 14 Züge propalästinensischer Gruppen durch die Innenstadt in Erinnerung. „Dabei besteht die Schwierigkeit vor allem darin, dass die Züge in unseren Einkaufsstraßen von Besuchern, Bürgern, dem Handel und Gastrobetrieben häufig sehr emotional - im negativen Sinne - wahrgenommen werden“, sagt Proffen. „Hier versuchen wir Lösungen zu finden, die den Unbeteiligten in der Innenstadt und gleichzeitig dem hohen Gut der Versammlungsfreiheit gerecht werden.“ Ein Sprecher des Landesamts für Verfassungsschutz hatte Mannheim jüngst als einen „zentralen Schauplatz“ propalästinensischer Proteste bezeichnet.
Die Verwaltung haben Beschwerden von Einzelhändlern über Einbußen wegen wiederkehrender Demonstrationen erreicht. Um Möglichkeiten der Behörde zu eruieren, damit Versammlungsfreiheit und Gewerbefreiheit „in einen angemessenen Ausgleich gebracht wird“, führt die Verwaltung eine Umfrage unter den Einzelhändlern durch, erklärt die Sprecherin. Ziel ist die „qualitative Prüfung der Beschwerdelage, um beurteilen zu können, wie stark die Beeinträchtigungen aufgrund des Versammlungsgeschehens tatsächlich sind“. Mannheim könnte hier ein Vorreiter sein: Über ähnliche Umfragen in anderen Städten ist der Sprecherin nichts bekannt.
Demos in Mannheim gegen Rechtsextreme: „Belebung der Demokratie bleibt“
Der Vorsitzende der Werbegemeinschaft City, Lutz Pauels, hofft, dass die Umfrage auch zu juristisch belastbareren Erkenntnissen darüber führt, wie stark der Einzelhandel leide. Der hatte die hohe Relevanz der Versammlungsfreiheit zwar immer wieder betont. „Es gibt aber auch das Grundrecht auf Berufsausübung“, sagt Pauels. „Wenn das eingeschränkt wird, kann man das nicht nur verbal oder über Gefühle begründen, sondern muss belastbare Zahlen erheben.“ Wann mit Ergebnissen zu rechnen ist, ist unklar.
Für die Versammlungsbehörde ist 2024 insgesamt ein herausforderndes Jahr gewesen. Vor allem bei propalästinensischen Versammlungen steht die Behörde im Fokus und nicht selten in der Kritik vor allem von proisraelischer Seite, die sich mehr Schutz jüdischen Lebens während der Demonstrationen wünscht. Unabhängig davon liegt es aber in der Natur der Sache, dass Auflagen kritisch hinterfragt werden - egal, mit was sich ein Protest beschäftigt.
In zwei besonders kontrovers diskutierten Entscheidungen 2024 hat die Behörde juristisch aber Recht behalten: So bestätigte der Verwaltungsgerichtshof am 7. Juni die Auflage, dass die Kundgebung der AfD auf dem Paradeplatz statt auf dem Marktplatz stattfinden muss, wo wenige Tage zuvor Rouven Laur getötet wurde. Für eine propalästinensische Kundgebung am 7. Oktober erteilte die Behörde die Auflage, dass die Versammlung zwar stattfinden dürfe, aber an einem anderen Tag durchzuführen sei. Die Organisatoren ziehen bis vor das Bundesverfassungsgericht - bleiben ohne Erfolg.
Laut Sprecherin hat es weitere Versammlungen gegeben, bei denen „unabhängig von einem Verbot“ geklagt wurde. Konkreter wird sie nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass auch hier um Auflagen gestritten wurde. Eine explizite Auswertung, wie oft für oder gegen die Behörde entschieden wurde, „liegt jedoch nicht vor“, sagt die Sprecherin.
Mit der Kundgebung auf dem Alten Meßplatz im Januar und den Gegendemonstrationen zur Jungen Alternativen und AfD im Juni hat Fontagnier drei der prägendsten Versammlungen 2024 maßgeblich mitinitiiert. „Von diesen Aktionen bleibt die Belebung der Demokratie und das Gefühl, gemeinsam etwas bewegen zu können“, sagt der Grünen-Stadtrat. „Sie stärken das demokratisch gesinnte Netzwerk und machen es widerstandsfähiger. Es ist nötiger denn je, Zusammenhalt und demokratische Aktivität zu zeigen.“
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