Terror

Ermittlungen zum Messerangriff in Mannheim: Täter und Hintergründe

Nach der Messerattacke auf dem Marktplatz hat die Bundesanwaltschaft im Oktober Anklage erhoben. Wie Ermittler den Vormittag des 31. Mai 2024 rekonstruiert haben

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Agnes Polewka
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Die Messerattacke auf dem Mannheimer Marktplatz bewegt die Menschen in der Stadt auch Monate später. © Thomas Tröster

Mannheim. Schon recht früh, nachdem im Internet die verstörenden Szenen von der Messerattacke in Mannheim am 31. Mai 2024 kursieren, spüren die Menschen in der Stadt: Dieses Verbrechen ist anders. Und dann ist Mannheim tagelang das zentrale Nachrichtenthema im ganzen Land, internationale Medien berichten über den Fall. Bundeskanzler Olaf Scholz gibt eine Regierungserklärung aufgrund des Messerangriffs ab, im Bundestag wird über schärfere Abschieberegeln diskutiert, während rechte Proteste, Gegenproteste und ein Ringen um den Ort ebenjener die verunsicherte Stadt-Gesellschaft bewegen.

So haben die Ermittler die Messerattacke auf dem Mannheimer Marktplatz rekonstruiert

Anfang November ist bekanntgeworden, dass die Bundesanwaltschaft Anklage gegen den Messerattentäter Sulaiman A. erhoben hat. Sie wirft dem 25-jährigen Afghanen Mord und versuchten Mord aus islamistischen Motiven sowie gefährliche Körperverletzung vor. Monatelang haben die Ermittler Detail für Detail zusammengetragen, um die Tat wie folgt zu rekonstruieren:

31. Mai 2024, 10 Uhr

A. bricht in Heppenheim auf, wo er in einem Hochhaus wohnt, mit der Bahn soll er an den Mannheimer Hauptbahnhof gefahren sein. Sein Ziel: der Mannheimer Marktplatz, offenbar um gezielt Mitglieder des Vereins „Bürgerbewegung Pax Europa“ anzugreifen, die dort eine Kundgebung vorbereiten. Wie diese Redaktion erfuhr, hat er auf der Fahrt nach Mannheim ein Jagdmesser dabei, die Klinge ist 18 Zentimeter lang und vier Zentimeter breit, außerdem hat er ein Klappmesser und eine Zwille – eine Art Schleuder – samt mineralischen Kugeln als Munition.

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Messerattacke auf Mannheimer Marktplatz: Anklage erhoben

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Es gebe Hinweise darauf, dass A. mit dem „Islamischen Staat“ sympathisiere und dessen Ideologie teile, heißt es in einer Mitteilung der Bundesanwaltschaft Anfang November. Und weiter: Spätestens Anfang Mai 2024 entschloss sich A. dazu, in Deutschland einen Anschlag auf „vermeintlich Ungläubige“ zu begehen.

11.19 Uhr

A. kommt – so haben es die Ermittler rekonstruiert -in der Nähe des Marktplatzes an. Wo genau, ist bislang nicht bekannt. An diesem unbekannten Ort soll er sein Handy hervorgeholt haben, um sich eine wenige Tage alte Telegram-Sprachnachricht anzuhören. Der Absender: ein radikaler Chat-Partner, seine Identität gilt bislang als ungeklärt. Der Chat-Partner soll betont haben, es sei nicht akzeptabel, wenn andere sich feindselig über Muslime äußerten. Und er soll A. geraten haben, er möge standhaft bleiben.

11.20 Uhr

A. versucht, so haben es die Ermittler nach Informationen dieser Redaktion rekonstruiert, per Telegram einen anderen Chat-Partner zu kontaktieren, der ein Befürworter des IS sein soll.

11.24 Uhr

Wie diese Redaktion erfuhr, deinstalliert A. die Telegram-App auf seinem Handy und entfernt die SIM-Karte. Bis heute konnte sie nach Informationen dieser Redaktion nicht gefunden werden. Dann soll er mehrere Minuten lang Bilder seiner kleinen Tochter auf seinem Handy betrachtet haben.

11.29 Uhr

A. beobachtet – so die Rekonstruktion – Michael Stürzenberger, der sich gerade im Gespräch mit zwei Männern befindet. Es vergehen einige Minuten. Dann zieht er ein Messer aus seiner Bauchtasche. Und dann sticht er zum ersten Mal zu. Zu sehen ist das auf Videoaufnahmen der rechtspopulistischen „Bürgerbewegung Pax Europa“, die das Geschehen auf dem Marktplatz im Live-Stream ins Netz überträgt. Dann folgt das eigentliche Tatereignis, und das dauert laut Video-Stream nur 25 Sekunden: Darauf ist zu sehen, wie der Attentäter auf Stürzenberger, Mitstreiter und herbeigeeilte Passanten sowie auf den Polizisten Rouven Laur einsticht. Er wird so schwer am Kopf verletzt, dass er wenige Tage später stirbt. Vier weitere Menschen tragen  zum Teil schwere Verletzungen davon, darunter Stürzenberger. Der Schuss eines Polizisten stoppt den Attentäter schließlich. Der mutmaßliche Attentäter Sulaiman A. soll sich – so haben es Ersthelfer nach der Tat berichtet – gegen die notärztliche Versorgung gewehrt haben. Offenbar, weil er diesen Tag nicht überleben will. Dazu passt, dass Ermittler später eine Nachricht an seine Mutter finden, die sich wie eine Verabschiedung liest.

Messerangriff in Mannheim setzt gefährliches Signal für gesellschaftliche Polarisierung

Bereits kurz nach der Tat sagte eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft, die Behörde gehe von einer Straftat aus, die „geeignet ist, die innere Sicherheit in Deutschland“ zu gefährden. Und diese Annahme hat sich nach Informationen dieser Redaktion nach Abschluss der Ermittlungen erhärtet: Die Anklägerin sieht in der Tat einen Angriff gegen Verfassungsgrundsätze, indem A. auf ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht – die Meinungsfreiheit – gewaltsam einwirkte. Und indem er gezielt Menschen angriff, die die freiheitlich-demokratische Staatsordnung repräsentierten – wie den Polizisten Rouven Laur und die Passanten, die den Opfern des Angriffs zu Hilfe eilten.

Die Tat könne außerdem eine Signalwirkung auf potenzielle Nachahmer ausüben, ein Klima der Angst schüren – und die Gesellschaft polarisieren, heißt es. Auf die Mannheimer Messerattacke folgten eine Reihe weiterer islamistischer Gewalttaten und Anschlagsversuche, die Debatte zur Flüchtlingsmigration erhitzte nicht nur die Gemüter, auch die Spaltung der Gesellschaft schritt weiter voran.

Der Prozess gegen Ataee könnte im ersten Quartal 2025 vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim beginnen – einem historisch bedeutsamen Ort. © DPa

Weil es sich um einen Fall von gesamtstaatlicher Bedeutung handelt, soll der Prozess vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim stattfinden – an einem historischen Ort. Seit fast fünfzig Jahren werden hier Staatsschutzverfahren verhandelt. Unvergessen sind die Prozesse gegen die Rote Armee Fraktion (RAF) in den siebziger Jahren. A. wird sich vor dem 5. Strafsenat unter dem Vorsitz von Richter Herbert Anderer verantworten müssen, es gilt als wahrscheinlich, dass der Prozess noch im ersten Quartal 2025 beginnen - und bis in den Herbst hinein dauern könnte.

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