Selbst der größte Schrecken des 20. Jahrhunderts, seine blutigen, knochigen und von millionenfachem Tod und Elend getränkten Bilder, erfährt schon seit vielen Jahrzehnten eine Ästhetisierung, die sich eigentlich verbieten sollte. Aus Gründen des Respekts. Aus Gründen der Scham. Aus Gründen der moralischen Verpflichtung. Eigentlich.
Gemeint sind hier nicht die historischen Bücher und Filme zum und über den Nationalsozialismus, Werke, deren Anliegen ist, eine wie auch immer geartete Geschichtsschreibung ins jeweilige Medium zu übersetzen. Gemeint sind vielmehr Werke wie Gérard Ourys Filmkomödie „Drei Bruchpiloten in Paris“ (1966), Volker Schlöndorffs „Der Unhold“, (1996), Dennis Gansels „Napola – Elite für den Führer“ (2004) oder auch „Er ist wieder da“ (2012) nach Timur Vermes’ Buch, das Adolf Hitler – natürlich höchst amüsant – mit einer erschreckenden Distanz betrachtet und dabei derart vermenschlicht, dass wir den Diktator fast liebgewinnen. Fast.
Warum sollte das mit den Bildern des 11. Septembers 2001 anders sein. „Die Bilder kolonisieren unser Gedächtnis. Die Fotos des Aufpralls und der Explosion des zweiten Flugzeugs UA 175 in den Südturm sind global zitierbare Bildikonen geworden“, meint Philipp Gassert. Der Amerikanist und Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim findet das in seinem Buch (siehe auch Artikel dazu) auch deswegen bemerkenswert, weil der 11. September medientechnologisch gesehen noch im vordigitalen Zeitalter liege, was meint: vor der Vormacht des Digitalen vorm Analogen.
Dass die Ausschlachtung des Sujets durch die Bildwelt trotzdem global schnell vonstattenging – klar in Zeiten, die trotz Gasserts Hinweis doch mehr und mehr durch das Internet und bald auch durch die allmählich aufkommende Revolution Sozialen Netzwerkens geprägt waren. Facebook ging im Februar 2004 online. Zudem: Die visuelle Realität und Qualität der Feuerbälle, der einstürzenden gigantischen Bürotürme, ihre zerberstenden Beton, Glas- und Metallmassen sowie die Entwicklung unfassbar voluminöser Rauchwolken und Ascheablagerungen hatten ja durchaus mit den Katastrophenszenarien der Traumfabrik Hollywood konkurrieren können.
Das alles folgt nicht absolut und stringent, aber doch auch einer Logik der Sensationslust. Selbst die aktuell in der Kunsthalle Mannheim gezeigte Ausstellung „Mindbombs“ spielt mit der Attraktivität der 9/11-Ästhetik (und letztlich – zugegeben – freilich auch dieser Text hier).
Ikonisierung des Horrors
All das gibt es aber schon, seit der Mensch sich Geschichte und Geschichten erzählt. Werden nicht auch mündliche Erzählungen von Ereignissen frei heraus oft mit stattlichen und feisten Zutaten ausgeschmückt, um dramatischer, einzigartiger oder kurioser zu erscheinen? Trägt nicht Homers „Ilias“ über einen Teil des Troianischen Kriegs, einer der ältesten Texte Europas, auch einen Hauch Sensationslust in sich? Und die „Odyssee“ oder die Geschichten des Alten Testaments – sind sie nicht auch Ästhetisierungen des Horrors?
Dass sich auch die Literatur schnell auf die stürzenden Twin Towers stürzte, sollte uns also kaum überraschen, auch wenn wir belletristischen Autoren – wohl fälschlicherweise – einen gewissen Anstand und Skrupel andichten. Einen ersten, etwas unglücklichen Versuch machte bereits zwei Jahre nach dem Terror der Franzose Frédéric Beigbeder, der meinte: „Seit dem 11. September 2001 wird die Fiktion von der Realität nicht mehr nur übertroffen, sondern ausgelöscht.“ Nun ja.
Mit Zitaten wie „Kill the Rockefellers“ von Nirvana-Sänger Kurt Cobain oder „Aufgabe des Künstlers ist es, sich ins Herz der Hölle zu stürzen“ von Marylin Manson rückt er sein Œuvre schon vor Beginn in den Bereich der Popkultur, macht also gar keinen Hehl daraus, worum es ihm hier geht: das unterhaltsame und künstlerische Ausschlachten der maximalen Katastrophe.
Beigbeder betreibt diese Ausschlachtung so kühn wie unverfroren und geschmacklos durch die Überführung der Ereignisse ins Private, in einen Restaurantbesuch von Carthew Yorston und seinen Söhnen am 11. September 2001 um 8.30 Uhr im „Windows on the world“, dem einstigen Restaurant im 107 Obergeschoss des World Trade Centers. Es ist eine Innenansicht des Grauens.
Was bei Beigbeder, auch durch die zeitliche Nähe, schockiert und was die US-Literaten Don DeLillo oder Thomas Pynchon Jahre später um Längen besser gemacht haben, ist ein normaler kreativer Prozess und die Möglichkeit, Geschichte für eine größere Konsumentenschicht als nur Geschichtsinteressierte zugänglich zu machen und zu archivieren. Wie viel weniger Menschen wüssten von der antisemitisch motivierten Affäre Dreyfus, wenn es nicht Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wenn es nicht, recht aktuell, Roman Polanskis Film „Intrige“ aus dem Jahr 2019 darüber gegeben hätte.
Es handelt sich bei der Ästhetisierung von Historie und Zeitgeschehen also auch um das, was wir kulturelles Gedächtnis nennen und mit dem der Mensch als einziges historisches Wesen gespeicherte Informationen von Generation zu Generation weiterträgt und so der natürlichen Entropie, also dem Verfall von Informationen entgegenwirkt.
Verführen mit dem Grausamsten
Schließlich wirken gemeinsame Bilder, Worte und Lieder wie ein gemeinsamer Code, der die Menschen zusammenschweißt, ihnen besonders heute in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden globalisierten Welt die Möglichkeit gemeinsamer Narrative offeriert und so Identität verleiht. Ohne diese gemeinsamen Erinnerungen, ohne ein gemeinsames Gedächtnis, über dessen Bilder, Worte, Töne und Erzählungen wir uns austauschen können, ist keine Zivilisation, keine Kultur. keine Gesellschaft möglich.
Deswegen erhalten diese Erzählungen von der Vergangenheit auch unabhängig von ihrem Schrecken einen sozialen Wert. Dennoch müssen wir ihnen auch mit Skepsis begegnen. Die Bilder und Erzählungen, vor allem wenn keine leidenden Menschen, kein zerborstener, blutspritzender Körper zu sehen ist, können uns mit dem Grausamsten in einer unfassbaren Ästhetik verführen. Insofern darf nicht die Schönheit das, was Aleida Assmann Erinnerungskultur nennt, übertünchen. Der Ruf aus der Vergangenheit, ob von 1933, 1945 oder 2001, er muss uns noch mit aller Härte erreichen.
Philipp Gasserts spannender weltpolitischer Flug zu 9/11
Frappierend ist dieses Buch von Philipp Gassert zum „11. September 2001“ nicht nur, weil wir uns beim Lesen dabei ertappen, wie wir das Werden des radikalen Islamismus verstehen. Wir beginnen auch, den Hass zu begreifen, den Osama Bin Laden, die al-Qaida und der Islamische Staat auf die westliche Welt entwickelt hat, Hass, der, so scheint es hier, fast schon zwangsläufig in den „asymmetrischen Krieg“ zwischen islamistischem Terror und der westlichen Wertegemeinschaft münden musste.
Der Mannheimer Amerikanist und Uni-Professor hält die Ereignisse von 9/11 unter ein historisches Mikroskop, reist in ein Klassenzimmer in Florida, wo Präsident Bush um 8.55 Uhr vom ersten Crash in die Twin Towers erfährt. Minuziös und fast im Stile journalistischer Minutenreportagen dringt Gassert, verbildlicht mit Grafiken, allmählich ein in den Kosmos 9/11 und den Krieg, der folgte.
Doch Wichtiges kommt nach, etwa im Kapitel „Die Ursachen“. Hier reist er zurück ins Jahr 1945, gar 1916, und schlägt von dort aus einen weltpolitischen Bogen, unter dem die Anschläge jäh nur noch wie ein Lego-Stein in der Entstehung eines Feindbildes wirken, an dem der Westen Mitschuld trägt und dessen Resümee lautet: „Die Krux war die Deutung des 11. September als Kriegserklärung.“ All das ist spannend zu lesen, beinhaltet immer wieder Querverweise in die literarische und cineastische Kultur und ist alles andere als ein nüchternes Geschichtsbuch
(Philipp Gassert: 11. September 2001. 100 Seiten. Reclam. 10 Euro).
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