20 Jahre 9/11

Der 11. September - ein Einschlag in die kollektive Psyche

Von 
Michael Backfisch
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Der Einsturz der beiden Türme des World Trade Centers tauchte Straßen und Menschen in eine dichte Aschewolke. © dpa

Es gibt Tage, die teilen das Leben unwiderruflich in ein Davor und Danach. Tage, an denen das Unfassbare in der Wirklichkeit einschlägt wie ein Asteroid auf der Erde. Der 11. September 2001 war ein solcher Tag. Ich stieg wie gewohnt kurz vor sechs Uhr aus der U-Bahn und holte mir im Starbucks um die Ecke einen Grande Americano mit zwei Schokocroissants. Danach ging ich in mein Büro in der dritten Etage des Blake Buildings in der Connecticut Avenue im Herzen von Washington. Ich war damals USA-Korrespondent für das „Handelsblatt“.

Ich begann einen Leitartikel über das Haushaltsdefizit unter Präsident George W. Bush zu schreiben. Im Hintergrund lief das Morgenprogramm des Fernsehsenders ABC. Kurz vor neun unterbrach die Moderatorin die Sendung. „Nach ersten Angaben ist ein Kleinflugzeug in das World Trade Center in New York gestürzt“, sagte sie. „Es muss ein Unfall sein, vielleicht eine Cessna“, dachte ich und schrieb weiter.

War es ein von Hollywood inszeniertes Film-Inferno? War es Wirklichkeit?

Rund 20 Minuten später. Die Moderatorin wich wieder von ihrem Skript ab, sprach hastig den Satz: „Ein zweites Flugzeug ist ins World Trade Center gekracht, in beiden Fällen handelt es sich um Passagiermaschinen.“ Kurz darauf brachten die ersten TV-Kommentatoren Osama bin Laden, den Chef des Terrornetzwerks Al-Kaida, als Drahtzieher eines Anschlags ins Spiel.



Und dann gab es die ersten Fernsehbilder, bei denen ich noch heute Gänsehaut bekomme: Die Jets, die sich in die Zwillingstürme bohrten. Feuerbälle. Rauchwolken. Ascheregen. Menschen, die über Schutthaufen auf den Straßen um ihre Leben rannten. War es ein von Hollywood inszeniertes Film-Inferno? War es Wirklichkeit? Die Dimensionen verschmolzen zu einem bizarren „Apocalypse Now“.

Ich eilte aus dem Büro hinaus. Auf dem Weg nach draußen warf mir der Pförtner Bill Evans, ein freundlicher Endfünfziger mit randloser Brille, den Satz zu: „Wir können nichts tun, nichts. Nur beten.“ Auf der K Street bildeten sich lange Schlangen vor einem Fernsehgeschäft. Schweigend, mit kaltem Entsetzen schauten die Menschen auf die Katastrophenaufnahmen in New York. „Das ist ein Angriff auf amerikanischem Boden, ein zweites Pearl Harbor“, sagte Lesley Crawford, eine blonde Sekretärin mit zitronengelbem Kleid. Jener Angriff von 1941 also, bei dem japanische Flieger die US-Pazifikflotte im Hafen auf Hawaii attackierten. Als sie Pearl Harbor erwähnte, zuckte ich zusammen. Ich begriff: Was heute passiert ist, ist ein gewaltiger Einschlag in die kollektive Psyche Amerikas. Die Menschen hatten bislang geglaubt, dass sie durch zwei Ozeane geschützt seien. Die Supermacht, die nie einen Krieg auf eigenem Territorium erlebt hatte, wurde zur Zielscheibe eines anonymen Feindes.

Dann der nächste Schock. Kurz vor zehn Uhr wurde die Nachricht verbreitet, dass eine weitere Maschine den Westflügel des Pentagons zerstört hat. Ich stieg sofort ins Taxi und fuhr zum US-Verteidigungsministerium, das eineinhalb Kilometer von meiner Wohnung entfernt lag. „Hätte die Maschine auch das Apartment von meiner Frau und mir treffen können?“, schoss mir durch den Kopf. Das massive Fünfeck mit der hellbraunen Fassade war weiträumig abgesperrt. Feuerwehrleute, Polizisten, Ärzte und freiwillige Katastrophenhelfer stapften über Geröllhaufen. Dort, wo sich eine Boeing 757 in das Gebäude gerammt hatte, klaffte ein rund 30 Meter breiter Krater.

„United we stand“ – „Wir stehen zusammen“

Vor dem gelb-schwarzen Plastikband standen mehrere Hundert Menschen. Sie schauten regungslos auf die Trümmerwüste, über der noch immer Qualm hing. Eine Frau schluchzte. Aus den Wänden gerissene Kabel, Plastikteile und Beton-stümpfe ragten in die Luft. Das Symbol der militärischen Übermacht Amerikas, wo unzählige Kriege geplant und koordiniert wurden, lag auseinandergefaltet da wie eine Ziehharmonika.

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Viele hatten sich die US-Flagge umgehängt, einige trugen ein Plakat mit der Aufschrift „United we stand“ – „Wir stehen zusammen“. Ich eilte ins Büro zurück und schrieb drei Artikel. Mittlerweile kursierte die Meldung, dass ein weiteres Flugzeug, das im Bundesstaat Pennsylvania abgestürzt war, eigentlich das Weiße Haus in Schutt und Asche legen sollte. Präsident Bush hatte sich sicherheitshalber in die Air Force One zurückgezogen, die von Kampfjets eskortiert wurde.

Aber was steckte hinter den monumentalen Terrorattacken? Warum – und warum jetzt? Ich rief Vince Cannistraro an, einen ehemaligen Spitzenbeamten bei der CIA. Seine Abrechnung mit den amerikanischen Geheimdiensten verschlug mir den Atem. „Die Anschläge in New York und Washington zeugen von einem eklatanten Versagen sowohl des FBI als auch der CIA“, polterte Cannistraro. Es räche sich nun, dass in den vergangenen Jahren versäumt worden sei, V-Leute in Terrorgruppen einzuschleusen. „Seit einiger Zeit hat die CIA Hinweise auf neue Aktivitäten von Osama bin Laden, aber nichts ist passiert.“ Eine messerscharfe Analyse in der Hitze des Moments, die sich aber auch noch lange Zeit danach als tragfähig erweisen sollte.

Der nächste Anschlag kann überall und jederzeit passieren

Gegen 20 Uhr fuhr ich mit der U-Bahn nach Hause. Plötzlich verselbstständigten sich die Bilder, die ich im Fernsehen gesehen hatte. Das brennende World Trade Center, der Rauch im Pentagon. In meiner Fantasie stiegen im Metroschacht Feuerbälle auf. „Der nächste Anschlag kann überall und jederzeit passieren“, dachte ich.

Am späten Abend hielt Bush auf allen TV-Kanälen eine Rede an die Nation. „Terroranschläge können zwar die Fundamente unserer größten Gebäude erschüttern, aber die Fundamente Amerikas können sie nicht berühren“, sagte er. Der Präsident wirkte gefasst – und finster entschlossen. „Unser Militär ist schlagkräftig und vorbereitet.“ Es waren verbale Kriegstrommeln für den Einsatz in Afghanistan. Jeder wusste: Die Drohung galt Al-Kaida-Anführer Osama bin Laden, der unter dem Schutz der radikalislamischen Taliban-Herrschaft die Attacken auf New York und Washington eingefädelt hatte. Der 11. September, das ahnte ich bereits in dieser Nacht, war der Beginn eines neuen Zeitalters.

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