Mannheim. Dass es in Werkstätten gemütlich zugeht, würde wohl kaum jemand behaupten. Dort wo unter Zeitdruck gearbeitet, geschraubt und geschwitzt wird, scheint es keinen Raum für Gemüt und wohlgemute Stimmung zu geben. Im Tanzhaus Käfertal des Nationaltheaters, Probenzentrum und Spielstätte in einem, ist das anders. In dieser „Choreografischen Werkstatt“ ist ein angenehmer Arbeitsplatz entstanden, der mittlerweile auch klimatisiert ist. In der alten Kassenhalle des Spielhauses war sie ausgebaut und hier wiederverwendet worden -eine Theatersanierung kann auch zu nervigen Baustellenzeiten Vorteile haben.
Abrupte Tempo- und Spannungswechsel
Gearbeitet wurde hier dennoch hart, gleich neun kleine Produktionen sind hier aus Reihen des eigenen Ensembles entstanden. Streng geht es in Shaun Patrick Ferrens Solo „I kept it for myself“ zu, das er für seinen Kollegen Luis Tena Torres geschaffen hat. Was er titelgemäß für sich behält, sind unerzählte Lebenserfahrungen, Selbstzweifel und Liebespotenziale, die tänzerisch erst mit großen Gesten in meditative Ruhe, dann in abrupte Spannungs- oder Tempowechsel übersetzt werden. Eine große kleine Arbeit für einen ausdrucksstarken Tänzer.
„Memory of Fall“ von Natsuho Matsumoto und Nicola Prato, kreiert als Duett für sich selbst, widmet sich in kleinteiligen, stark pantomimischen Verschränkungen der Gliedmaßen den Mechanismen einer Paarbeziehung. Fest gemacht werden sie an Zeitbrüchen, die sie mit Fassen und Lassen ihrer engmaschigen und kunstvollen, teils etwas redundanten Armarbeit umsetzen.
„Hast du heute schon Reis gegessen?“
Das Beziehungsleben von Jonny Cash bringt indes Zoulfia Choniiazova mit der wohlsprechenden Susanne Wiedmann und Tänzer Shaun Patrick Ferren auf die Bühne. Passend zum Musiker heißt ihr Beitrag “Walk the line“.
Eine Choreografische Werkstatt ist oft auch „Heimatarbeit“, ist die Compagnie doch international besetzt und ihre Mitglieder am Rhein fern der Heimat engagiert. Nicht selten schweifen ihre choreografischen Ansätze bei der künstlerischen Erinnerungsarbeit dorthin zurück. Gleich der Auftakt zu dem inklusive Pause 130 Minuten langen Abend tut dies. Jessica Liu fragt mit ihrem in chinesischer Regionalsprache übertitelten Beitrag „Hek Fan Menga Ah?“, was auf Deutsch so viel wie „Wie geht es dir?“, wörtlich aber „Hast du schon Reis gegessen?“ heißt. Es geht also um Gastfreundschaft, um Heimat – und humorvoll auch ums Kochen. Jede Party endet in der Küche, hier macht auch Lius kleines Tanzfest für fünf Kollegen keine Ausnahme. Kochen als Geste der Fürsorge findet seinen bewegten Ausdruck in rieselndem Reis, laufenden Töpfen und in einem getanzten Rezept.
An einem heißen Sommertag ganz daheim im italienischen Garten der Kindheit sind auch Anna Zardi und Ariana Di Francesco, wo sie in ihrem fast folkloristischen „Ca Mira“ umherrennen und Wäsche aufhängen. Verspielt und einfühlsam ist die künstlerische Darbietung, reich an ungewöhnlichen Gesten, Spiegelungen und Abläufen ist auch die Choreografie Zardis, deren ironische Poesie Lust auf mehr macht.
Große Wäsche steht im Westernkolorit auch bei Dora Stepusin und Joseph Caldo auf dem Programm. Nicht „Waschtag bei den Waltons“, sondern „A Fan of Yours“ heißt ihr Beitrag im Präriewind, den eine große Windmaschine liefert. Der Wäschewechsel steht für Beziehungsarbeit, die wie Schmutzwäsche nie auszugehen scheint. Für das Übermaß an Textilwut entschädigt zum Finale ein brillante Pas de deux, das mit drehungsreichen Hebefiguren und fließenden Übergängen in Erinnerung bleiben wird.
Die Choreografische Werkstatt
In den 1990er Jahren führt der damalige Ballettchef Philippe Talard das Format ein. Tänzerinnen und Tänzer aus der Compagnie des Mannheimer Nationaltheaters erarbeiten darin eigene choreografische Arbeiten für Kollegen oder sich selbst, die dann vor Publikum gezeigt werden.
Unter Talards Nachfolger Kevin O‘Day wurde die Choreografische Werkstatt zum festen Bestandteil des Tanzspielplans und beendet seither den Premierenreigen der Spielzeit, eine Tradition, die Tanzintendant Stephan Thoss fortsetzt und ausbaut. Zu sehen sind diesmal neun kurze Choreografien.
Weitere Vorstellungen im Tanzhaus Käfertal (Galvanistraße 4), am 8., 11., 16., 19. und 21. Juli, jeweils 19.30 Uhr. Karten: 0621/1680 150. rcl
Das gilt auch für das erste Stück nach der Pause, wenn es mit psychologischer Paararbeit weitergeht: Wahrlich sensationell umschweben Paloma Galiana Moscardó und Leonardo Cheng in barockem Kolorit einen Thronsessel mit hoher Rückenlehne. Beziehungen brauchen Freiräume, manchmal gar Hohlräume - „The Hollow Space“ betiteln sie ihren originellen und technisch atemberaubenden Beitrag.
Höcht originelles Bewegungsvokabular
„Kümmere dich nicht um mich“ („Don‘t mind me“) nennt Ariana Di Francesco ihren großen Erinnerungsbeitrag, der zum Höhepunkt des Abends wird. Sie tanzt mit drei Kollegen, am stärksten ist dabei Albert Galindo, dynamisch exzellent und unter Einsatz eines höchst originellen Bewegungsvokabulars.
Über das verfügt Galindo fraglos auch als Choreograf. Sein blinder Ritt („The Blind Ride“) für Lorenzo Angelini und Natsuho Matsumoto kreist um einen weißen Tisch und ist hochdynamisches Sinnbild für das Leben selbst: Nicht aufgeben, immer weiter! Das motiviert, kommt auf den Punkt und ist dem Premierenpublikum im ausverkauften Tanzhaus jubelnden Applaus wert.
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