Tanz

Wie Stephan Thoss am NTM Kunst, Musik und Tanz zusammenführt

Im Opal lässt Stephan Thoss mit choreographischer Wucht die Künste tanzen: „Poem an Minotaurus / Le sacre du Printemps“ heißt der Doppelabend mit Orchester.

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Joseph Caldo und Arianna Di Francesco tanzen hier in „Poem an Minotaurus“ von Stephan Thoss zu Musik von John Adams. © Christian Kleiner

Mannheim. „Kunst ist niemals keusch, wenn sie keusch ist, ist sie keine Kunst.“ Dieses Zitat Pablo Picassos steht nicht nur im Programmheft zur fulminanten Tanzproduktion, mit der Stephan Thoss und seine Compagnie (endlich) auf die große Opernbühne zurückkehren, es liest sich auch wie ein Lebensmotto, das dem großen bildenden Künstler gut zu Gesichte steht. Es war meist sonnengebräunt. Sinnlichkeit und Körperlichkeit hat Mannheims Tanzintendant neben biografischen und ästhetischen Bezügen viel Raum im ersten Teil des Abends gegeben, den er stilsicher „Poem an Minotaurus“ nennt, spielt das mythologische Stierwesen ebenso wie seine biologisch nachvollziehbarere Version eines schlichten Stieres in des Spaniers Künsten doch eine nahezu leitmotivische Rolle. Sinnbild für unbeherrschte männliche Energie, sexuelle Aggression, für Kampf und Krieg ist dieses besonders tierische Tier. Auf der Bühne des Opals ist er harmlos, niedlich fast und aus Pappe.

Picassos Bilderwelten werden mit seiner Biografie verknüpft

Er ist Teil der an uns vorbeiziehende Bilderwelten Picassos, in und vor denen sich am Premierenabend Großes ereignet: eine Aufspaltung Picassos in vier Tänzer (Lorenzo Angelini, Albert Galindo, Luis Tena Torres und Joseph Caldo), eine Apotheose von Frau und Farbe (Arianna Di Francesco), eine musikalische Glanzstunde des NTM-Orchesters unter Janis Liepins und ein stehend jubelndes Publikum (Ober-, Kultur- und Baubürgermeister inklusive), das eine ganze Sparte freudig erregt auf der großen Bühne willkommen heißt. Opal ist nun vollends – trotz Bau-Unbill, zu engen Toiletten und Foyers - in der Stadtgesellschaft angekommen.

Bühnenbildnerisch, choreographisch und musikalisch vollzieht sich Picassos Biografie wie die Musik von John Adams, gespielt werden „Short rides in a Fast Machine“ und „The Chairman Dances“ mal gewaltig aufpeitschend, rhythmisch elektrisierend, perkussiv klappernd oder aufschäumend schwelgerisch. Das alles ist drin im Farbkasten von Stepahn Thoss und Janis Liepins.

Bürgerliche Anzugträger brechen aus Konventionen aus

Die zunächst hintereinander in Reihe stehenden Tänzer, es sind Hut- und Anzugträger, brechen aus der Konvention aus, grübeln klein, gekrümmt und unruhig auf den herbeigeschleppten Bänken, bevor sie Hüte und Jacketts von sich werfen, sich individuell frei kämpfen, ihre Bewegungen, runder, freier und freudiger werden. Es kommt Farbe ins Picassos Leben und Werk.

Selbst wenn wir das ein wenig laue, weil sich nur davonstehlende Ende mit einem leichten Stirnrunzeln zur Kenntnis nehmen, bleibt das ein eine große Choreographie. Sie hat auch dramaturgische Tiefe und verbindet Musik, Tanz und Bildende Kunst zu einem üppigen Gesamtkunstwerk.

Wie schrieb Picasso 1944 an die Kommunistische Partei, die ihm oberflächliches Interesse am Eintritt unterstellte: „Was, glauben Sie denn, ist ein Künstler? Ein Schwachsinniger, der nur Augen hat, wenn er Maler ist, nur Ohren, wenn er Musiker ist, gar nur eine Lyra für alle Lagen des Herzens, wenn er Dichter ist, oder gar Muskeln, wenn er Boxer ist? Ganz im Gegenteil! Er ist gleichzeitig ein politisches Wesen, das ständig im Bewusssein der zerstörerischen, brennenden oder beglückenden Weltereignisse lebt und sich ganz und gar nach ihrem Bilde formt.“

Paloma Galiana Moscardó und Nicola Prato (vorn) „tanzen den Picasso“ in Stephan Thoss choreographischem Doppel „Poem an Minotaurus / Sacre du Printemps“. © Christian Kleiner

Nach der Pause wird es archaischer. Mit einer einzigen Meisterchoreographie zu Weltruhm zu kommen, gilt als ehrenvolle Ausnahme in der Tanz- und Ballettwelt. Dem Russen Waslaw Nijnsky gelang es 1913 mit seiner Uraufführung von Igor Strawinskys „Le sacre du printemps“.

Pflichtstück für jeden Choreographen

Jeder Choreograph, der auf sich hält, muss sich zumindest ein Mal mit diesem Meilenstein der Moderne befassen. Stephan Thoss hat es 2006 zum Abschied aus Hannover getan, sein Frühlingsopfer zeigte er dann auch an seiner späteren Wirkungsstätte Wiesbaden. Nun ist das NTM dran. Zu Recht, wäre es doch zu schade gewesen, Mannheim dieses bildmächtige Oeuvre vorzuenthalten.

Industrielles Metropolis statt alter Zöpfe

Strawinskis „Vision einer großen heidnischen Feier“ ging einst so: „Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.“ Bei Stephan Thoss sehen die „Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen“ freilich anders aus, Druidenbärte und alte Zöpfe sind abgeschnitten. Das Gesicht der Moderne ist glatter geworden.

Zu Jonathan McPhees reduzierter Spielfassung sehen wir ein von Stephan Thoss zum Bühnenbild gestaltetes Metropolis. Eine am Boden niedergeworfene Gemeinschaft rußverschmierter Werktätiger in silbrig glänzenden Kostümen beginnt zum (glänzenden) Fagottsolo in kleinteiligen, fast gestischen Abläufen, sich der zunehmend federnden, orchestralen Orgiastik der Trommeln zu öffnen. Die Schritte werden ausladender, Einzelne und Paare treten heraus, das Wechselspiel von Individuum und Kollektiv kann beginnen. Rhythmisch wippt das Ensemble, wie Werkstücke aus gestreckten Gliedmaßen tragen die Tänzer die Frauen vor sich her. Das Ganze gerät zum Konzert der Körper, selbstbestimmt und mit einer hinreißenden Schlussgeste. Dieses Opfer hat sich gelohnt.

Der Doppel-Tanzabend

Mannheims Tanzintendant Stephan Thoss verhandelt in „Poem an Minotaurus / Le Sacre du Printemps“ die Schaffenskraft von Pablo Picasso und Igor Strawinsky . Der Malerei verhalf der eine, der Musik der andere zu neuen Dimensionen.

Im Umfeld der legendären Ballets Russes unter Diaghilew in Paris , die den Tanz am Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionierten, trafen Picasso und Strawinsky aufeinander.

Im zweiteiligen, etwa 100 Minuten inklusive Pause dauernden Tanzabend verhandelt Thoss das kreative Potenzial der beiden Künstler, um das Wunder menschlicher Begabungen zu zeigen.

Weitere Vorstellungen im Opal, der Oper am Luisenpark, gibt es am Mittwoch, 29. Januar, und Freitag, 31. Januar, sowie am Sonntag, 2. Februar, Donnerstag, 6. Februar, und Samstag, 8. Februar. Karten: www.nationaltheater-mannheim.de oder telefonisch unter 0621/1680-150. rcl

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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