Fast ist es geschafft, nach elf Schillertagen endete der dramatische Marathon am Sonntagabend vor dem Alten Kino Franklin. „Einen hab’ ich noch!“, heißt es bei Otto-Witzen. Und auch hier wird sich morgen noch im Nachklapp eine Besprechung finden, die es vor Drucklegung nicht mehr in dieses Blatt schaffte. „Ist“ von Parnia Shams mit jungen iranischen Frauen wird gemeinsam präsentiert vom FIND Festival Internationale Dramatik an der Schaubühne Berlin, dem Festival Theaterformen Hannover, den 22. Internationalen Schillertagen am Nationaltheater Mannheim und dem mittlerweile angelaufenen Festival Theater der Welt 2023 in Frankfurt und Offenbach am Main. Da sieht man, in welchem Rahmen sich das NTM national und international sieht und bewegt.
In etwas engeren Bahnen verlief eine Kooperation der erst 2007 gegründeten Ludwigsburger Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg (ADK) – und zwar in Straßenbahnen. „Nomadische Recherche“ heißt die Uraufführung, die in Kleingruppen als Stationentheater vom Haus am Goetheplatz zum Alten Kino Franklin führt.
Mit ÖPNV-Projekten ist das so eine Sache. In anderen Städten ist das spannend, in der eigenen Heimatstadt meist eher so mittel, zumal man privat ein Leben lang und beruflich schon mindestens zehnmal „in de Elekdrisch“ Kunsterfahrungen machen durfte.
Die Ode und das Läuten
Doch der Plan der Studierenden, alles Schülerinnen und Schüler von Melanie Mohren und Bernhard Herbordt, die als Künstlerkollektiv eine feste Größe im bundesdeutschen Dokumentar- und Projekttheater sind, geht kurioserweise auf. Man blickt, so auch das Ziel der Arbeit, mit anderen Augen auf seine Stadt, kommt an Orte, die man ewig nicht oder nie bewusst sah. Los geht es vor der NTM-Baustelle und von da als Kollektiv „Luise“ unter etwas krampfigen Schillerzitatfetzen zu Fuß per Unterführung in den Unteren Luisenpark. Dort schreibt eine junge Frau in einem Protestritual die Namen getöteter iranischer Frauen auf ein langes, weißes, aber blutbespritztes Kleid. Die Liste ist endlos.
Weiter geht es mit der Straßenbahn zur Windsor-Anlage, wo im Schatten der Bonifatiuskirche, deren Angelusläuten später dramatische Atmosphäre beisteuert, zur Ausstellung geladen wird. Studierende der ukrainischen Schauspielklasse der ADK haben Karrees mit Baustellenband abgeklebt – und zeigen stumm Emotionen. Wut, Angst, Furcht und Scham sind auszumachen, aber nicht auszuschalten. Ebenso wenig wie das Radio mit den Kriegsmeldungen. Beethovens abgespielte „Ode an die Freude“ oszilliert da mit Schiller-Pathos und Humanitätsappell zwischen zynischem Kommentar und Hoffnungsschimmer.
Nach einem Appell zur buchstäblichen Geschlechteregalität im alten BBC-Kiosk Auf dem Sand, ruckelt man zum Platz der Freundschaft, dessen Name hier Programm ist. Wohlmeinende, freundliche Begegnungen werden stumm, fantasievoll und kleinteilig erarbeitet. Ein wenig zu kleinteilig vielleicht, wie die ganze Recherche ein wenig zu reich an Mitteln und Angeboten ist. Mütze, Schirm, Plakat, Lyrik-Heft für die Straßenbahn, Postkarten und und und ... Das ist sympathisch und originell, aber zu viel des Guten. Das Gefühl für die Kunst der Reduktion auf das Wesentliche kommt sicher mit den höheren Semestern.
Aufgabe des Geschlechts
Im Werkhaus steht später eine Deutschlandpremiere des französischen Aktivisten Performers, Musikers und Theatermachers Gérald Kurdian an. Sein Beitrag „X! un opéra fantastique“ ist eine Mischung aus schrägem Konzerte, Performance, Videospiel und KI-Experiment, das auch auf dokumentarische Praktiken zurückgreift. Weltweit ist Kurdian als Mann der Stunde an den hippsten Häusern gefragt, forscht er doch mit seinen Aufführungen, queer-feministische Chorworkshops und integrativen Partys an Gender- und Geschmacksgrenzen zum Thema „sexuelle Revolutionen“. Hier reist der glänzende Sänger und sympathische Darsteller durch einen Videospiel-Wald und durch die queeren Momente seines Lebens.
Er formt Geschlechtsorgane aus rosa Knete, blickt in Darkrooms oder zeigt Tantra-Erfahrungen in Bild und Ton. Seinen Penis tauscht er im Zauberwald beim „Pilzkaiser“ gegen Freiheit ein. Später erhält er im Aphrodite-Tempel an die alte Stelle ein neues, „medusa-artiges“ Organ, die Umdefinierung des Körpers ist vollzogen, die Geschlechter sind abgeschafft. Sein fantastisches Biografie-Märchen mit poetischen Bildern und von hoher musikalischer Qualität bleibt trotzdem eine kuriose Zumutung. Man muss weder prüde noch verklemmet sein, um festzustellen: So viel Sex und so viel Musik gab es noch bei den Schillertagen, ein Rekord, über den man durchaus diskutieren kann. Und auch sollte.
Was das mit Schiller zutun hat? Nichts. Den ganzen Dichter unter „Freiheit“ zu stellen, ist wohlfeil. Schiller, der langweilige Spießer, kannte auch Begriffe wie Treue, Anstand und Pflicht. Aber die will, zumindest in Mannheim, derzeit niemand auf der Bühne sehen. Schade.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Bilanz der Schillertage am NTM: Bitte mehr Schiller!