Mannheim. Es beginnt fast wie eine Deutschstunde. „Ok, wer hat das Stück gelesen?“ Wie im Klassenzimmer gehen zu wenige Finger nach oben. Unentschlossen sitzt – ältere Pädagogen würden vermutlich gar gammelt sagen – eine Gruppe Jugendlicher auf der Vorderbühne. Es hakt ein wenig mit der Motivation. Kein Wunder. Woher der Auftrag an die bunt zusammengewürfelte Spät-Teenager-Truppe kommt, Schillers „Räuber“ aufzuführen, weiß irgendwie keiner so recht. Es sind weder abzuleistende Sozialstunden noch eine übermotivierte Deutschlehrerin, die Schultheater auf den Stundenplan setzte. Doch in der Kunstsituation „Warum sind wir hier?“ treten die Protagonisten einzeln vor Mikrofon und Kamera, stellen sich vor und erzählen von ihren Beweggründen und Sehnsüchten, die sie durch das Projekt oder das Theaterspiel generell erfüllt sehen möchten.
Dies ist einer der doppelten Böden, mit der die Dramaturgie des Jungen DT, der renommierten Sparte des Deutschen Theaters Berlin für und mit jugendlichen Laien, gewollt Unsicherheiten auf die Bühne setzt. In diesem Fall ist es die des Alten Kinos Franklin, wo das Gastspiel zum Programm der 22. Internationalen Schillertage am Nationaltheater Mannheim gehört. Die Einladung ist eines von letztlich nur drei Festivalgastspielen bereits existierender Produktionen großer Häuser wie etwa des Schauspielhauses Düsseldorf und des Hamburger Thalia Theaters.
Hat der Schiller-Purist das Signalwort „Eine Überschreibung“ verkraftet, ist noch lange nicht Schluss mit vermeintlichen Motivationsproblemen. Das Ensemble hat Besetzungsprobleme der gängigen Art, doch das 1782 in Mannheim uraufgeführte Stück eben nur einen Karl von Moor. Idealistische Rebellen sind cool, doch wer übernimmt den intriganten Spiegelberg, den treudoofen Diener Daniel, den ollen Graf oder gar den Pfarrer? „Ich bin Atheist, du Arschloch!“, verbittet sich ein Spieler das Rollenangebot. Für den neidisch Strippen ziehenden Heldenbruder, den fiesen Franz, die Kanaille, kann man sich doch dann irgendwie erwärmen, das Potenzial zum dankbaren Charakterschauspielerfutter als „bad guy“ ist schnell offensichtlich.
Das Junge DT
- Die Sparte ist Bestandteil des Deutschen Theaters Berlin (DT). Im Zentrum steht gemeinsame Theaterarbeit von Künstlern mit jungen Menschen, die „Theaterpädagogik als (Vermittlungs-) Kunst und als ästhetische Forschung“ versteht.
- Gewollt ist „der spielerische Zugriff auf die Welt“. Es entstehen jede Spielzeit Inszenierungen in einem professionellen Rahmen, die im Repertoire gezeigt werden – mit Jugendlichen oder gemeinsam mit Mitgliedern des DT-Ensembles.
- Das Junge DT initiiert zudem internationale Kooperationen und legt Wert auf interkulturelle Projekte und diverse Ensembles.
- Bei „Die Räuber“ spielen mit: Can Arduc, Leo Domogalski, Marie Eick-Kerssenbrock, Jona Gaensslen, Helena Golderer, Helen Fröhlich, Franz Jährling, Carl Jung, Rio Reisener, Friedrich von Schönfels, Oskar von Schönfels, Laurids Schürmann, Mora Villanueva Krajnik und Leni von der Waydbrink.
- Programm der Schillertage bis 2.7. unter nationaltheater-mannheim.de
Gemeinsame Ziele und Feinde
Familiäre Erwartungen, auch dies ist gesellschaftlicher Druck, erfahrene Demütigung und Geringschätzung schaffen Frust. Und Dramen mit Geschwistern scheint hier ohnehin jeder zu kennen. Dass es für Eltern selbst im liberalen Prenzlauer-Berg-Haushalt ausschließlich eine Hauptrolle sein muss, ist auch jedem klar.
Über dem Rollengerangel stirbt das Projekt unter Türenschlagen. Fast. Gemeinsame Feindbilder, Erlebnisse und Ziele sowie kollektiv ertragenes Unrecht formen Gemeinschaften und so beginnt – wie bei Schiller – alles mit einem gefälschten Brief ... Hier stammt er von der Intendanz, namentlich vom großen (anwesenden) Ulrich Khuon, der das Projekt nach einem heimlichen Probenbesuch (vermeintlich) absagt.
Der Plot der quirligen Inszenierung Joana Pramls funktioniert – „Da werden Weiber zu Hyänen“ („Glocke“, nicht „Räuber“) und Besserverdiener-Milchbubis zu sengenden Mordgesellen: „Wir sind Sturm und Drang!“ skandiert die nun buchstäblich als „Ensemble“ hochmotivierte Gemeinschaft mit gereckter Faust an der Rampe, das Intendanten, Kapitalisten, Kriegsherren, „dem Höcke“ und Kreuzfahrern genauso den Garaus machen will, wie großen (oder kleinen) Brüdern, desinteressierten oder überbehütenden Eltern.
Dieses „tintenklecksende Säkulum“ und „schlappe Kastratenjahrhundert“ ist ihres, da darf man mal auch ironiefrei ein wenig wohlstandsjammern und seine berechtigte Wut auf die Welt herauslassen. Wenn die 14 jungen Räuber*innen unter atmosphärisch anschwellendem Cello-Klang (Musik: Hajo Wiesemann) zornig an die Rampe stapfen, kann man sie spüren, diese Wut, diese jugendliche Verzweiflung, nichts oder eben doch nur zu wenig ändern zu können.
In dieser Szene gibt es kein „Projekt“, keine „Überschreibung“, sondern nichts Geringeres als packendes Schauspiel – und den intensiven wie wahrhaftigen Schiller-Moment mit emotionaler Dichte sowie Pathos im besten Sinne. So werden Wände eingerissen, Schranken zwischen Jugend und Alter, zwischen Laien und Profis, zwischen Spielenden zu Zuschauenden. Die Bande hat sich eingerichtet im Räuberlager auf der Drehbühne (Inga Timm) – und schreitet zur schröcklichen Tat.
Rollenspiel ist Selbstdistanz
Klöster und Säuglinge bleiben diesmal verschont. In der Unterbühne sind nun stattdessen, da lacht das schwarze Kritikerherz, alle Intendanten der Republik zum Nachdenken eingekerkert („auch der Christoph Holzhauser oder so“). Ja, so eine Deutsche Bühnenvereinstagung kann, dem Nachwuchs sei Dank, künftig richtig gefährlich sein. Irgendwie, man reibt sich verwundert die Augen, bekommen wir über 100 Minuten en passant nicht nur Schillers Räuber zu Gesicht, sondern über das (Distanzierung zu sich selbst bedeutende) Rollenspiel auch offenherzige, fiktive oder biografische Einblicke in junge Menschenseelen. Mancher Fleck darauf, o Wunder des Theaters, lässt sich auch im Hause derer von Moor finden. Dem berühmten Manne kann hier letztendlich nicht geholfen werden, auf den blutigen V. Akt hat keiner Bock. Die Jugend setzt auf Optimismus, gut so. Jubel im Saal, großes Kino.
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