Mannheim. „Nie wollte ich hier ’rein, aber jetzt will ich nicht wieder weg.“ Während Astrid Wiesenberger diesen Satz sagt, schweift ihr Blick in die Ferne, weit in die Ferne. Sie und ihre Familie wohnen so hoch wie sonst niemand in Mannheim, nämlich im Feudenheimer Wasserturm. Von der riesigen Wohnlandschaft im früheren Wasserbehälter aus genießt sie eine fantastische Aussicht. „Das ist wie auf einer kleinen Insel“, schwärmt sie.
Zu verdanken hat sie das ihrem Vater, dem Architekten Hubertus Kirsch. Spätestens in den 1970er Jahren verlieren die zahlreichen Wassertürme der – einst selbstständigen – Mannheimer Vororte sowie einiger Firmen wegen des Baus einer zentralen Wasserversorgung ihre Funktion. Ein Abriss droht, einige der Türme (der in Rheinau etwa) fallen auch tatsächlich – der Denkmalschutz hat noch nicht die gleiche Bedeutung wie heute. Viele der Türme stehen zum Verkauf. Den Seckenheimer Turm zum Beispiel rettet die Familie Lochbühler, richtet dort Europas einziges Aufzugsmuseum ein. Hubertus Kirsch dagegen entscheidet sich anders – er will hier oben wohnen.
Zunächst baut er unten ein Einfamilienhaus an – die runde Außenwand des Turms bildet eine Wohnzimmerwand. Dann geht er ab Ende der 1970er Jahre das Wagnis ein, den Turm selbst bewohnbar zu machen. Der Kuppelteil wird außen um einen stählernen Umgang, als Balkon wie auch Arbeitsfläche und Rettungsweg gedacht, ergänzt und mit einem beweglichen Tisch auf Schienen versehen. Ob Frühstück oder Abendessen – er lässt sich je nach Sonnenstand ausrichten. Auch einen Aufzug hat der Architekt eingebaut, die vorher sehr schmalen Fenster vergrößert. Und er geht daran, den stählernen, kugelförmigen Wasserbehälter in der Kuppel herauszuschweißen – aber zum Glück nicht ganz. Plötzlich merkt er nämlich, dass Teile des Behälters auch die Statik des ganzen Turms zusammenhalten.
Zunächst lebt der Architekt über Jahrzehnte hinweg selbst oben. Inzwischen ist er mit seiner Frau wieder ins Erdgeschoss gezogen. „Hier oben ist halt nichts behindertengerecht, überall Treppen“, so Astrid Wiesenberger, die nun seit über sechs Jahren mit ihrem Mann, zwei Söhnen sowie Hunden die Aussicht genießt.
Direkt unter der Kupfer-Kuppel sind die Schlafzimmer der beiden Söhne, darunter – auf einer halben, eigens eingezogenen Ebene – Schlafzimmer, Bad und Ankleidebereich der Eltern. Das Wohnzimmer und die schmale, aber sehr funktional eingerichtete Küche umfasst den Großteil des früheren Wasserbehälters. Alles ist mit Wendeltreppen verbunden. Der Aufzug reicht nur bis auf eine Ebene unter das Wohnzimmer.
Das alles hat Hubertus Kirsch bis ins kleinste Detail selbst entworfen – sehr gemütlich, sehr individuell, ein bisschen an den Jugendstil angelehnt. Das reicht bis hin zu den reich verzierten Handläufen der Treppen, den wunderschönen Lichtschaltern, den verschnörkelten Lampen. Schränke und Möbel gehen ebenso auf seine Ideen zurück, sind alle maßgefertigt. „Es gibt ja keine geraden Wände“, hebt Astrid Wiesenberger hervor. Das Aufhängen von Bildern gelingt mit einem kleinen Trick. Dafür brütet manchmal vor ihrem Wohnzimmerfenster ein Turmfalkenpärchen.
Der Wind pfeift
Bei ihr zu Gast zu sein ist ein Genuss – bei gutem Wetter zumindest. Im Hochsommer, wenn die Sonne brennt, komme man dagegen manchmal schon auf über 30 Grad, und in eisigen Wintern pfeift einem der Wind um die Ohren. „Aber der Turm steht stabil“, zitiert Wiesenberger ihren Vater. Sie sieht bis weit in den Odenwald und die Pfalz, ebenso wie auf die Dächer und die Vorgärten vieler Nachbarn: „Wir schweben hier über Feudenheim.“ Statt eines Kellers nutzt sie Räume im Turmschaft als Lagerfläche, hier stehen neben dem Fahrstuhlzugang auch Flipper und Sofas der Jungs. Wenn die Besuch bekämen, müsste der nämlich sonst immer ganz nach oben – und durch das Wohnzimmer der Eltern durch. „Aber sonst ist es hier einfach toll“, sagt Wiesenberger begeistert.
Wasserturm Feudenheim
- Der Wasserturm auf einer Anhöhe an der Ecke Talstraße/Andreas-Hofer-Straße im Mannheimer Stadtteil Feudenheim wurde 1905 von Architekt Julius Benzinger als Teil der eigenständigen Wasserversorgung des damals selbstständigen Orts gebaut.
- Er gilt als Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung.
- Der aus roten Ziegeln mit gelben Klinkern gemauerte Turm ist 27,30 Meter hoch. Der Durchmesser beträgt unten 11,30 Meter, oben 7,20 Meter. Mit Kuppel, Dach und Dachlaterne ist der gesamte Turm 44,10 Meter hoch.
- Der Wasserbehälter hatte einen Durchmesser von 9,50 Meter. Er fasste 350 Kubikmeter.
- Versorgt wurde er vom Feudenheimer Wasserwerk an der Ilvesheimer Straße, ab 1906 in Betrieb, 1922 elektrifiziert und 1974 stillgelegt
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-wir-schweben-hier-ueber-feudenheim-_arid,1188269.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html
[2] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim/rheinau-hochstaett.html
[3] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim/feudenheim.html