Mannheims Oberbürgermeister Peter Kurz über den Streit in der Mannheimer Kulturpolitik, Verteilungskämpfe und einen optimistischen Blick auf das Kulturleben nach der Corona-Krise.
Herr Kurz, den Offenen Brief an die Kulturverwaltung und das Nationaltheater, den ja auch Mitglieder Ihrer Partei unterzeichnet haben, kennen Sie sicherlich. Wenn so ein Brief notwendig erscheint, läuft dann alles rund in der Kulturpolitik der Quadratestadt?
Peter Kurz: Ich bin grundsätzlich kein Fan von Offenen Briefen. Sie führen automatisch zu Kontroversen zwischen Absendern und Empfängern, weil sie immer die Botschaft senden, dass die direkte Kommunikation nicht befriedigend ist. Es ist dann leidig, über Schuld zu sprechen. Das ist aber ein Vorgang, der sicherlich alle Seiten nicht glücklich machen kann.
Ihr Parteikollege Thorsten Riehle hat ja auch gesagt, dass der Brief nicht optimal war. Er sei geschrieben worden, weil man auf anderem Wege nicht mehr weiter gekommen ist.
Kurz: Auch da gibt es am Ende keine objektive Wahrheit. Aber das hilft ja nichts, denn am Ende geht es auch um den berühmten Empfängerhorizont. Auf der Faktenebene hat sich ja jetzt manches geklärt, auch Gesprächskanäle wurden aufgenommen. Ob das Gewitter für die kommunikative Seite reinigend war, muss man erst noch sehen.
Oberbürgermeister Peter Kurz
Peter Kurz ist seit 2007 Mannheimer Oberbürgermeister. 2015 wurde der Sozialdemokrat für weitere acht Jahre in seinem Amt bestätigt.
Seit 2018 ist Kurz auch Präsident des baden-württembergischen Städtetags.
Vor seiner Wahl zum Stadtoberhaupt war Kurz, der schon als Schüler in die SPD eintrat, hauptamtlicher Bürgermeister für Bildung, Kultur und Sport, davor SPD-Fraktionschef.
Kurz machte am Tulla-Gymnasium Abitur, studierte in Mannheim und Heidelberg Rechtswissenschaften und wurde 1994 Verwaltungsrichter. Ein Jahr später promovierte er.
Der 58-Jährige ist mit Daniela Franz verheiratet. Das Ehepaar hat zwei erwachsene Kinder.
Die Frage war eigentlich: Läuft dann alles rund in der Kulturpolitik?
Kurz: Der Brief liefert per se jedenfalls nicht den Beweis, dass es in der Sache nicht rund läuft. Wenn man die Kulturpolitik aber nicht nur als Leistung von Stadtverwaltung und Institutionen sieht, sondern als Gemeinschaftsveranstaltung eben auch des Kulturausschusses und der Engagierten, kann man offensichtlich nicht davon sprechen (lacht), dass das rundläuft.
Wie zufrieden waren Sie mit der Präsenz des Nationaltheaters?
Kurz: Es wurde ja erwiesenermaßen sehr viel angeboten. Die Frage ist aber: Hat man sein Publikum insgesamt erreicht und das Gefühl von Präsenz erzeugen können? Das geht unter Umständen besser mit einer stark sichtbaren Aktion als mit vielen kleineren Angeboten.
Hauptkritik war aber eher, warum das Theater seine großen Räume nicht für die Kleinen zu einer gemeinschaftlichen Arbeit etwa zum Aufnehmen von Streaming-Ereignissen anbietet…
Kurz: Das ist keine echte Perspektive bei der Dimension des Nationaltheaters. Ich sehe darin eher einen symbolischen Vorwurf, nicht wahrgenommen zu werden. Es drückt eher das Empfinden aus, dass Spannungen nicht aufgelöst wurden.
Ein bisschen wurden sie in einer denkwürdigen Sitzung des Kulturausschusses aufgelöst, in der es hoch herging. Bürgermeister Michael Grötsch hat darin sogar sehr ungehalten reagiert. Bezeichnend war, dass, während die Briefeschreiber hier und da schon auch Fehler eingeräumt haben, die Amtsträger Grötsch und Kulturamtsleiterin Sabine Schirra keinen Millimeter gewichen sind und ausstrahlten: Wir haben alles richtig gemacht. Ist das gute politische Kultur im Jahr 2021?
Kurz: Ich war nicht dabei. Ich kann nur grundsätzlich sagen, dass es ein Selbstverständnis sein sollte, sich mit Kritik auseinanderzusetzen. Wenn das anders rübergekommen ist, dann wohl, weil die Vorwürfe substanziell widerlegt wurden. Das andere ist die erwähnte kommunikative Ebene. Da tun alle Institutionen gut daran, offen für Dialog zu sein.
Auch die fünf Intendanten haben in der Sitzung teilweise überaus pampig reagiert. Hat sich bezüglich der Außenwirkung in der Krise eigentlich das Fünf-Intendanten-Modell bewährt? Das Quintett kommuniziert ja extrem unterschiedlich…
Kurz: Ich sehe keinen Zusammenhang mit dem Modell. Da geht es ja nicht um Krisenkommunikation, sondern um Präsenz.
Aber so ein Haus könnte doch auch alle Ressourcen in etwas Positives für die Stadt lenken. Wäre da nicht ein Leiter, der so etwas steuert, besser?
Kurz: Modelle und Strukturen erleichtern oder erschweren Dinge. Aber entscheidend ist das konkrete Agieren von Personen. Hier glaube ich nicht, dass die Struktur ein kommunikatives Problem erzeugt. Da sehe ich keinen Ansatzpunkt. Gleich fünf Intendanten können einen kommunikativen Raum für sich in Anspruch nehmen. Und das gibt doch erst mal mehr Potenziale als weniger. Die Frage ist: Sind diese Potenziale ausreichend genutzt?
Das digitale Angebot des NTM ist tatsächlich im Vergleich ganz ordentlich. Nur wurde es lange fast geheimgehalten,so dass vieles nicht einmal uns als Kulturredaktion bekannt war.
Kurz: Wenn da manches sogar an Ihnen als Vermittlern vorbeigelaufen ist, ist das ein Anlass nachzudenken.
Es wirkt auch sehr arrogant, wie Marc Stefan Sickel da agiert hat - und nicht nur da. Diese Arroganz ist man von Mannheims Nationaltheater nicht gewohnt. Liegt darin das Problem?
Kurz: Das überhöht jetzt etwas den Vorgang. Aber in einem stimme ich Ihnen zu, eine Institution wie das Nationaltheater muss den Eindruck von Überheblichkeit unter allen Umständen vermeiden.
Bei den Umfragen, die wir unter den Verantwortlichen der Freien Szene gemacht haben, ist signifikant, dass dort die Angst vor einer Zukunft nach der Corona-Krise wesentlich größer ist als das Leid in der Gegenwart, sprich: Die Menschen haben Sorge vor geschrumpften Haushalten wegen verminderter Steuereinnahmen. Der Bund verschuldet sich ja mit noch mal 60 Milliarden mehr neu. Was wissen Sie schon heute über die Zukunft in Mannheim?
Kurz: Ich finde das, was von der Freien Szene im „Mannheimer Morgen“ zu lesen war, kulturpolitisch erst einmal ermutigend. Das ist eine gute Basis für einen Neustart nach der Krise. Aus meiner Sicht wird es einen Hunger nach Kultur geben. Die Prognose, man habe sich jetzt ohne Kultur eingerichtet und brauche dann auch weniger, teile ich nicht. Die Chancen sind genau so groß, dass genau das Gegenteil passiert und die Menschen sich in der Kunst begegnen möchten. Ich glaube an einen Aufbruch. Die finanziellen Sorgen verstehe ich. Sie sind weniger von der kommunalen Seite geprägt. Hier ist die Dimension der Kultur im Haushalt durch die Institutionen festgelegt. und ich sehe keinen Grund für die Befürchtung: „Na ja, dann sind die Großen gesichert und die Kleinen fallen hinten runter.“ Diese Diskussion führen wir seit 25 Jahren, dabei vergrößern wir seit 25 Jahren genau diese Szene. Da sehe ich also für Mannheim keine Sorge.
Und von Bund- und Landesseite?
Kurz: Das ist die Frage. Da nehme ich einen finanzpolitischen Wandel wahr gegenüber der Situation, wie sie vor drei Monaten galt: nämlich zu sagen, wir gehen mit Volldampf durch die Krise. Jetzt heißt es: Wir müssen jetzt doch mal vom Gas runtergehen. Das ist noch nicht durchdekliniert, aber wahrnehmbar. Für mich ist das deswegen nicht überzeugend, weil Prognosen sagen, dass es nach wie vor eine Chance gibt, von der wirtschaftlichen Entwicklung her im Laufe der Jahre 2022 und 2023 die Krise überwunden zu haben. Wenn das stimmt, sollte man mit einer Bremse etwa bei den institutionellen Förderungen vorsichtig sein, weil sie ohne Notstrukturelle Schäden hinterlassen wird.
Verteilungskämpfe gibt es, wie sie sagten, in der Kulturszene seit langem. Es ist wie David gegen Goliath. Das wird sich Ihrer Meinung nach nicht verschärfen?
Kurz: Es gibt zwei Narrative. Das eine sagt: An der Kultur wird als erstes gespart. Das ist kommunalpolitisch aus den letzten zweieinhalb Jahrzehnten nicht zu belegen. Und bundespolitisch auch nicht. Es wurde ein Bundesetat eingerichtet, ein Staatsministerium. Der Bund hat Kultur überhaupt erst als eigenes Thema gesetzt und ständig ausgeweitet. Das andere Narrativ ist das erwähnte Sparen an den Kleinen zugunsten der Großen. Und da muss man sagen: Die Szene ist deutlich gewachsen. Das Wachstum hat aber vor allem auch über neue Institutionen stattgefunden. Und dadurch gibt es Begrenzungen für die Bestehenden. Analytisch betrachtet ist jede neue kleine Institution für eine andere kleine Institution mehr Konkurrenz als die Großen. Es sind immer mehr Akteure geworden, die Wachstumsansprüche stellen.
Der Anteil der Kultur am Gesamtetat ist ja auch klein, so dass, wenn dort gespart wird, nur ein bisschen gespart werden kann, aber eben viel kaputtgemacht wird.
Kurz: Mit Kürzen ist ja meistens die Verweigerung eines Anstiegs gemeint. Das hinterlässt aber zum Beispiel bei Theatern große Schäden, weil 80 Prozent dort tarifgebundene Personalkosten sind. Wo ich sparen könnte, ohne strukturelle Schäden zu hinterlassen, ist bei der Projektförderung, die ist aber absolut marginal, und genau die brauchen wir für einen Neustart. Die Frage jetzt ist ja gerade: Wie kann ich Vertrauen herstellen, dass nicht Menschen, die als Selbständige Kunst produzieren, dieser den Rücken kehren und sagen: Das ist mir zu unsicher, offenbar hat das, was ich tue, nicht die entsprechende gesellschaftliche Relevanz. Da brauchen wir lokale Antworten, aber auch auf Bundesebene. Hier wäre eine Ausweitung der Künstlersozialkasse im Sinne einer Arbeitslosenversicherung ein wichtiger Schritt.
Vor dem Hintergrund des bundespolitischen Aspekts: Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat jetzt wieder ein Bundesministerium für Kultur ins Spiel gebracht. Was halten Sie davon?
Kurz: Es gibt Kulturaufgaben von nationaler Bedeutung. Was sich da im Bund seit 1998 aus dem Nichts entwickelt hat, ist zu begrüßen. Das war ja eine fundamental neue Entscheidung der rot-grünen Regierung. Ob es gut wäre, ein eigenes Ministerium zu haben, das dann ja auch nicht mehr im Kanzleramt beheimatet wäre, das ist von außen schwer zu beurteilen.
Wir haben jetzt ein Jahr ohne Kultur beziehungsweise mit Rumpfpublika hinter uns. Die machen wirtschaftlich kaum Sinn und erfüllen auch selten die Erwartungen an ein Live-Erlebnis. Alle reden viel von der Bedeutung der Kultur: Was fehlt Ihnen seit März 2020 persönlich?
Kurz: Man hat gemerkt, dass nicht nur das Erleben von Kunst relevant ist, sondern auch das Gemeinschaftserlebnis. Wenn die Interaktion von Künstlerinnen und Künstlern und dem Publikum gemindert ist, geht etwas verloren. Das Setting unter Pandemiebedingungen löst zwangsläufig Distanz aus, und daraus ergibt sich eine andere Reaktion. Natürlich war das besser als Nichts, aber es bedeutete auch mehr als 50 Prozent Verlust. Aber in der Regel würde ich sagen: Lieber die Krücke als gar nicht zu gehen. Das merken wir ja seit November, seit wir völlige kulturelle Abstinenz erleben. Das ist für mich ein Verlust von Gesellschaftlichkeit. Kultur führt immer eine Gruppe von Menschen zusammen, die einen Teil von Stadtgesellschaft bilden. Dass das gerade nirgendwo mehr stattfindet, erlebe ich als ganz unmittelbaren persönlichen Verlust.
Und was fehlt der Stadtgesellschaft?
Kurz: Mit der Zeit verliert sie das Gefühl für einander. Das ist ein weiteres Beschleunigen der ohnehin vorhandenen Grundtendenz, sich weniger als Gemeinschaft zu verstehen. Da hat Kultur einen ganz zentralen Effekt. Das ist ihr Auftrag, zumindest was die öffentlich finanzierten Häuser angeht. Ob sich das wieder einrenkt, wird man sehen. Aber ich bin optimistisch. Die Zeitstrecke ist zwar schon dramatisch lang, aber ich glaube nicht, dass wir einen unwiederbringlichen Verlust erlitten haben.
In Regionen mit niedriger Inzidenz liefen zuletzt Modellversuche in Kultur und Sport mit Publikum. Im Rosengarten kürzlich ebenfalls. Liegen solche Pläne auch für Mannheim in der Schublade?
Kurz: Die Frage ist grundsätzlicher: Welche Strategie habe ich in der Pandemiebekämpfung? In der aktuellen Phase geht es um die Vermeidung von Begegnung und Mobilität. Das kann man bei ganz hohen Inzidenzen auch rechtfertigen. Aber wenn ein Museum geöffnet hat, sind die Straßenbahnen deswegen nicht voller. Auf Dauer müssen wir mehr differenzieren. Im Sinne von: Welche Bereiche sind riskant? Und da muss ich sagen, dass die Nichtdifferenzierung nicht überzeugend ist. In der Kultur finden wir Sektoren, die so abgesichert werden können, dass kaum ein Infektionsrisiko entsteht. Auch da muss man differenzieren: Museumsbesuche oder Veranstaltungsräume mit platzbezogenen Belüftungssystemen bergen ein geringes Risiko. Aber für Monate galt unterschiedslos: Es hat alles geschlossen zu bleiben. Dass ein grundgesetzlich geschützter Bereich auf Dauer wegen der Pandemiebekämpfung grundsätzlich geschlossen ist, kann man über solche langen Zeiträume nicht rechtfertigen. Sobald der Rechtsrahmen Differenzierungen zulässt, sind wir als Stadt sicher dabei. Auch beim Versuch modellhafter Öffnungen.
Kommen wir nach einem möglichen Ende der Pandemie wieder nah an den Status quo ante? Oder müssen sich Dinge grundlegend ändern?
Kurz: Es sind neue Angebote und Formate entstanden. Die werden auch bleiben. Das wird aber die bisherigen Formen nicht ersetzen. Ich glaube, das kann man mit der Entwicklung der Medien vergleichen: Es sind immer neue Medien entstanden und den alten wurde der Untergang prophezeit. Der ist aber nie eingetreten. Natürlich wird man über Einiges nachdenken müssen und es kann zu quantitativen Veränderungen oder Verschiebungen bei der Resonanz kommen. Aber ich glaube, dass es das große Konzert, die große Opernaufführung oder die große Ausstellung wieder geben wird. Danach wird es weiter ein Bedürfnis geben. Vielleicht ist durch die Pandemie der Auftrag an die Kultur, speziell an die staatlich finanzierten Institutionen noch klarer geworden: Dass sie ihre gesellschaftliche Präsenz und die Möglichkeit aller, sie wahrzunehmen, noch stärker ausbauen. Da können die jetzigen Erfahrungen hilfreich sein. Von daher ist meine Prognose: Es kommt eher etwas dazu.
Die Gleichsetzung von Kultur und Freizeitaktivitäten in einer Pressekonferenz von Angela Merkel und Markus Söder hat starke Blessuren in der bundesdeutschen Kulturszene hinterlassen. Stichwort: fehlende Systemrelevanz. Wie können solche Wunden wieder geheilt werden?
Kurz: Es gibt jetzt ja wieder eine Debatte, Kultur zum Staatsziel zu erklären. Wobei man sagen muss, dass auch für die jetzige Situation ja ein klarer verfassungsrechtlicher Rahmen besteht. So wie das Recht auf Religionsausübung weitgehend einschränkungsfrei geschützt ist, gilt das für die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Praktisch hat man die Bereiche unterschiedlich behandelt. Mich irritiert, dass man diesen Fehler in der Rhetorik zwar eingeräumt hat. Aber in der Praxis hat sich seitdem nichts geändert. Bei den Ministerpräsidentenkonferenzen hätte man ja quasi alle drei Wochen die Gelegenheit, Kunst und Kultur ein Signal zu geben, dass man sie differenziert betrachtet, auch unter ihrem besonderen gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Rang. Das ist bislang genauso wenig ausgelotet worden wie die geringe Infektionswahrscheinlichkeit in vielen Sektoren der Kultur. Das wäre überfällig und genau das nötige Signal, um zu zeigen, dass man diesen Fehler korrigieren will. Wobei uns die Pandemielage jetzt im Moment gar keine andere Wahl lässt, als Kontakte radikal zu reduzieren.
Die Krise der repräsentativen Demokratie schien am Anfang der Pandemie gerade etwas abzuebben. Dann folgten massive Pannen der Politik im Krisenmanagement: Masken, Digitalisierung, Test- und Impfstrategie, keine Einigung auf eine App - alles lief schief. Die „Zeit“ titelte am 4. Februar: „Plötzlich Versager“. Wie beurteilen Sie aus der Provinz das Vorgehen in Berlin und Stuttgart?
Kurz: Das Vertrauen in das Krisenmanagement hat deutlich abgenommen, das ist auch nachvollziehbar. Ich teile vieles an der Kritik, vor allem im kommunikativen Bereich. Aber ich bin optimistisch, dass die Menschen trotzdem noch differenzieren. Man sieht auch auf der Basis von Zahlen, etwa bei den jüngsten Wahlen, dass diese Enttäuschung nicht automatisch zur Systementtäuschung geworden ist. Diese Differenzierung gehört auch zur Reife, die eine Demokratie auf jeden Fall braucht. Klar ist, es gibt bei uns strukturelle Probleme, die aber nicht die Demokratie generell betreffen. Es gibt Demokratien, die haben in der Pandemie besser abgeschnitten als die Bundesrepublik, und autoritäre Systeme, die schlechter abgeschnitten haben. So unbefriedigend die Situation auch ist: Ich sehe keinen Hinweis, dass das anfangs in der Krise erworbene Vertrauen in Misstrauen gegen das politische System umgeschlagen ist.
Dann kam auch noch die Maskenaffäre, die die Sphäre der Politik als eine von raffgierigen Egomanen verunglimpft. Wie groß ist eigentlich die Dunkelziffer an solche schwarzen Schafe in allen Parteien?
Kurz: Das ist ja kein neues Phänomen. Menschen, die keinen moralischen Kompass haben, gab es leider schon immer. Die Frage ist: Wie stark sind die Institutionen beim Aufdecken solcher Themen? Pauschalreaktionen wie „Alle Politiker sind korrupt“ nützen wenig. Das gibt nur Wasser auf bestimmte Mühlen und befördert solche Strukturen eher, anstatt sie zu bekämpfen. Auch bei der Betrachtung von Politikern durch die Öffentlichkeit gilt: Differenzierung ist das A und O.
Aber jeder Missbrauchsfall in der Kirche stellt die Glaubwürdigkeit der Institution insgesamt infrage. Gilt das nicht für die Politik, die ja auch mit „Austritten“ zu kämpfen hat?
Kurz: Ich würde es auch in Richtung der Kirche nicht so formulieren. Das Problem ist der Umgang mit den Skandalen, nicht ihre Aufdeckung. Ich glaube nicht, dass die Politik da so agiert, wie es die katholische Kirche teilweise getan hat. Wir müssen fragen: Welches Klima ermöglicht Korruption? Da wird es im Bundestag wichtige strukturelle Reaktionen geben und damit einen Gewinn an Glaubwürdigkeit. Das zweite ist eine grundlegendere Diskussion, die nicht nur die Politik, sondern auch alle begleitenden Institutionen betrifft wie die Medien: Inwiefern man nämlich solche strukturellen Verflechtungen schon früher kritisch begleitet, nicht erst beim offensichtlichen Skandal. Das hat ja mit Mentalitäten zu tun. Und die sind zum Teil erkennbar. Da geht es um einen alten Begriff wie Anstand. Personen mit einem ganz klaren, festen Wertegefüge, anständige Politiker - werden die ausreichend positiv beschrieben? Und im anderen Fall: Wie lange schaut man zu? Es gilt ja immer noch der alte bayrische Spruch, der die Unanständigkeit auch noch positiv konnotiert: „Scho a Hund.“
Aber das sind doch die Strauß-80er und Amigo-90er, Herr Kurz.
Kurz: Also wir haben uns genau darüber in den vergangenen Wochen unterhalten, bevor es den ja national relevanten Skandal um Nikolas Löbel gab: Ob bestimmte Verhaltensmuster nicht positiv bewertet und begleitet werden, zumindest nicht kritisch beleuchtet werden. Diese Frage müssen sich alle stellen.
Ihre SPD schneidet in Baden-Württemberg knapp zweitstellig ab. Viele seit Max Weber formulierte Funktionen der Parteien erfüllen sie nicht mehr - von der Elitenrekrutierung über Willensbildung bis zur Integration neuer Konfliktlinien wie Digitalisierung bis zum wirklich entschiedenen Kampf gegen den Klimawandel. Die Volksparteien bröckeln, hat der Parteienstaat noch Zukunft?
Kurz: Eine holländische Entwicklung mit 17 Parteien im Parlament ist durchaus vorstellbar. Wobei dies unsere Probleme gerade nicht wirklich lösen würde. Eine extreme Aufsplitterung mit geschrumpften, ehemaligen Volksparteien ist keine befriedigende Antwort. Aber ich weiß nicht, ob der Gedanke der Volkspartei noch rettbar ist. Alle Tendenzen laufen da dagegen. Auf der anderen Seite: Gerade, weil das so ist, sind Volksparteien so wertvoll. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn die Volkspartei zeichnet aus, was unserer Gesellschaft gerade abgeht: Die Begegnung unterschiedlicher Milieus auf der Basis von Grundüberzeugungen in der Sache. Dafür sind wir ansonsten gar nicht mehr in der Lage, weil die Sache und die Milieuzugehörigkeit eins geworden sind. „Du ziehst dich falsch an, da weiß ich schon, wie du ansonsten denkst und deshalb setze ich mich mit dir nicht an einen Tisch“ - das ist die gesellschaftliche Realität. Genau dagegen steht die Volkspartei, aber sie kriegt es nicht mehr hin und bricht an der Stelle auseinander. Beziehungsweise es kommt die Frage: „Für was steht ihr eigentlich?“ Genau dass sie das spezifische Angebot für bestimmte, einzelne Milieus nicht bieten, gilt dann als Profillosigkeit. Dieses Dilemma bekommen im Augenblick nur noch Personen gelöst, hinter denen sich verschiedene Interessen versammeln können, die man normalerweise gar nicht programmatisch zusammenbekommt. Siehe das Ergebnis der Grünen unter Winfried Kretschmann. Generell ist es schwer zu sagen, ob sich Parteien erholen und sich dem Trend entgegenstellen können, Dazu kommen die Punkte, die Sie angesprochen haben, mit Rekrutierungsschwächen und Ähnlichem. Das führt natürlich zu einer Erosion des Parteiensystems. Aber es ist schwierig, eine Alternative zu finden. Wertschätzung der Idee der Volkspartei und historisches Bewusstsein sind die einzigen Antworten.
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