Es war ein lauschiges Plätzchen unmittelbar am Dorfausgang, einige Walnussbäume spendeten Schatten an diesem angenehmen Sonnentag. Es war der Treffpunkt für die heutige Wanderung, man hatte sich eine sanfte Hügellandschaft ausgesucht, von einigen Hohlwegen durchzogen, auch kleine Wäldchen säumten die Wege. Noch saßen sie auf den Bänken, plauderten, warteten, bis alle ihre Vorbereitungen getroffen hatten. Sie freuten sich, der Tag versprach mild zu werden, gutes Wanderwetter. Ein Picknick hatten sie mit sich.
Schon länger hatte man sich zusammengetan, den Beschluss gefasst, einmal in der Woche eine kleine Tour zu unternehmen, jedes Mal auf Wunsch eines Teilnehmers in einer anderen schönen Gegend.
Sie waren zu Acht. Ein älteres, aber rüstiges Ehepaar, nicht ohne Humor, das die Gruppe bei Laune hielt. Ein weiteres Ehepaar, mittleren Alters, sie meist positiv gestimmt, er eher pessimistisch, wobei sich seine Miene unterwegs meist aufhellte. Ein junges verliebtes Pärchen, das die Wanderungen sehr genoss, das die durchwanderte Natur mit Freuden aufsaugte. Schließlich noch ein junger Mann, dem Äußeren und seinem Verhalten nach in einem großen Unternehmen tätig, etwas zurückhaltend, und eine Studentin im fünften Semester, eine quirlige Person, die alle oft zum Schmunzeln brachte, manchmal aber auch tief in Gedanken zu sein schien. Eine bunte Truppe also, die sich durch die gemeinsame Freude am Wandern zusammengefunden hatte.
Jan Sahner
- Vor 82 Jahren in Heidelberg geboren, in der Metropolregion bis zum sechsten Lebensjahr aufgewachsen, habe ich die gesamte Jugend und Schulzeit, vorrangig in den Fünfzigerjahren, im damals französisch geprägten Saarbrücken verbracht.
- Nach dem Abitur Rückkehr in das Großelternhaus in der Metropolregion und Sprachenstudium in Heidelberg und Mannheim.
- Schließlich Schuldienst bis zu meiner Pensionierung, die – wegen einer mich ständig in Schwung haltenden Familie mit zwei erwachsenen Söhnen – weitgehend aktiv verläuft.
- Letzteren habe ich auch dieses Wettbewerbsabenteuer zu verdanken.
Nun war man bereit, alle erhoben sich und zogen los, dem grasigen von zwei Fahrspuren durchzogenen Weg folgend. Wie üblich kam man schnell in den Wanderrhythmus, so dass man nicht mehr auf den Boden schauen musste, um Unebenheiten zu vermeiden. Man konnte den Blick schweifen lassen, die sanften Hügel, die weiten Wiesen erfüllten sie mit Ruhe. Der Weg, nun nur noch ein Pfad, schlängelte sich zwischen dichten Büschen und teils blühenden Sträuchern hindurch, verlief dann am Rande eines Waldes, der die Gruppe veranlasste, ein Stück hineinzugehen, da der bemooste Boden angenehm zu betreten war. So wanderten sie eine ganze Weile, bis sie von einem kühlen und gluckernden Bach begleitet wurden. Hier beschlossen sie, an einem grasigen, strandähnlichen Uferstück eine Pause zu machen und ihr Picknick auszupacken.
Bisher hatte man kaum gesprochen, nur die Landschaft in sich aufgenommen, nun, in Vorfreude auf das Mitgebrachte, begann man zu plaudern, zu lachen. Man aß und trank und freute sich.
Sie beschlossen, noch ein Stündchen zu gehen, gestärkt machten sie sich auf den Weg. Ein wild bewachsener, aber dennoch erkennbarer Pfad wand sich durch eine Schonung, zarte dichtbeblätterte Äste ragten in den Weg, streiften ihre Gesichter. Nach einer Weile ging der Weg abwärts, ging über in einen Hohlweg, aus den seitlichen unregelmäßigen lehmigen Erdwänden traten verschlungene Wurzeln, die Bäume suchten die Sonne, die Äste waren mit silbrigen Flechten behangen. Es ging wieder aufwärts ins Helle, ein gelbes Rapsfeld lag linker Hand.
Nach dem Picknick waren sie munterer geworden. Die Studentin erzählte von ihren Studien, der junge Mann taute auf und wurde gesprächig, die Verliebten unterhielten sich mit dem Pessimisten und seiner Frau.
Seltsam war, dass es jedes Mal eines neuen Anlaufs bedurfte, um wieder in die Wanderstimmung zu kommen. Es schien, als sei jeder jedes Mal von neuem damit beschäftigt, erst einmal die Landschaft, die Natur, die Fauna und Flora in sich aufzunehmen, bevor man sich den Mitwanderern öffnete. Es war keine Frage des Wesens, des Charakters der Einzelnen, es ging allen ähnlich.
Ein verwunschenes Tälchen hatte in allen die gleiche Empfindung geweckt, nämlich noch einmal, obwohl immer noch frisch und erholt, halt zu machen und ein wenig zu verweilen. Man hätte meinen können, dass sie das Ende ihrer Wanderung hinauszögern wollten. Schließlich erhoben sie sich, folgten weiter dem Weg, ohne Eile, mitten durch eine bunte und summende Blumenwiese. Er führte sie zum Ziel, einem kleinen Plateau mit weiter Sicht über das herrliche Grün der Hügel.
Hier beendeten sie ihre Tour, nahmen ihre Virtual Reality Brillen ab, zogen die Duft- und Frischluftmasken von ihren Gesichtern, entledigten sich der technischen Ausrüstung, schalteten das Programm ab, streckten und dehnten sich, nahmen schließlich wieder in ihren im Rund stehenden Sesseln Platz. Sie waren noch ganz gefangen in der Vielfalt ihrer Eindrücke, schwiegen und gaben sich ihren Gedanken hin. Das ältere Ehepaar hatte Tränen in den Augen, es hatte die Realität völlig vergessen, sich ganz der Fantasiewelt hingegeben, die Frau des anderen Paares schien in weiter Ferne zu verweilen, ihr Mann verfiel wieder in tiefsten Pessimismus, das verliebte Pärchen hatte sich in den Arm genommen, der junge Mann schien gleichgültig, die Studentin versuchte, die Gruppe aufzuheitern, scheiterte aber. Allmählich fanden sie wieder in den Alltag zurück, packten die Reste des Picknicks zusammen, entsorgten den Abfall.
Es lief jedes Mal auf diese Weise ab, dennoch wollten sie die wenigen gemeinsamen Stunden nicht missen und begannen, nachdem sich alle wieder gefangen hatten, über ein neues Ziel zu diskutieren und wer die Organisation für die kommende Woche übernähme. Schließlich rang man sich durch, wieder seiner Wege zu gehen, sich zu trennen und den mit fünfundzwanzig Grad Celsius angenehm kühlen und verdunkelten Raum zu verlassen.
Sie stiegen in ihre Iso-Anzüge, aus den Individuen wurden seltsame silberne Gestalten, begaben sich zur kurzen Schleuse, durch die man das Gemeindegebäude, das als einziges instand gehalten wurde, verlassen musste. Gleißende Helle schoss auf sie ein, die Hitze konnten selbst die Anzüge nicht ganz abhalten, eine triste braun-gelb-verbrannte Landschaft erstreckte sich zwischen den öden Häusern, da und dort lag ein toter Vogel. Ein Anblick, an den man gewöhnt war.
In Gedanken versunken strebten sie zu ihren U-Wohnungen, etwa drei Meter unter der Erde. Dort war die Wärme erträglich, aber man musste sich damit abfinden, dass man in ewiger Dunkelheit lebte, dass die Klimaanlagen ihre Pausen brauchten. Natürlich hatte man künstliches Licht, dem Tageslicht nachempfunden, aber das Wissen um die einen umgebende dichte Erdschicht bedrückte, weckte klaustrophobische Gefühle. Häuser an der Oberfläche waren schon lange nicht mehr bewohnt. Geisterhäuser, die zerfielen, Gärten, die keine mehr waren, Straßen, die aufgequollen, gerissen waren, verdorrte Felder und Wälder. Der Mensch hatte es geschafft, seinen Lebensraum zu zerstören, er stand dem hilflos gegenüber, die Aussichtslosigkeit, etwas zu ändern, hatte ihn überrollt.
Ein jeder der kleinen Gruppe ging seiner Beschäftigung nach, in Gedanken schon beim nächsten Ausflug. Diejenigen, die noch mitten im Arbeitsleben standen, arbeiteten von zu Hause aus. Auch die anderen, was auch immer sie taten, mussten den Wohnbereich nicht verlassen. Ein ausgeklügeltes Versorgungs- und Kommunikationssystem erleichterte das Leben. Natürlich konnte und durfte man die Wohnung verlassen, aber das Bedürfnis war nicht groß.
Der Gedanke schlich sich sehr langsam in die Köpfe der kleinen Truppe, wurde zunächst verdrängt, da er sie erschreckte. Der junge zurückhaltende Mann hatte ihn beiläufig einfließen lassen, ohne jegliche Absicht, mehr ein Gedankenspiel. Er verschwand wieder, wurde überlagert von den Problemen des Alltags, tauchte unvermittelt wieder auf, wurde beiseite gewischt, ließ sich aber kaum mehr löschen. Letztendlich blieb er.
Man hatte inzwischen einige weitere schöne Ausflüge hinter sich gebracht, aber die Rückkehr machte ihnen von Mal zu Mal das Absurde, das Sinnlose ihres Alltags immer deutlicher. Es gelang ihnen nicht, sich dagegen aufzulehnen, es setzte sich in ihnen fest, verstärkte sich. Man könnte meinen, dass es den Jüngeren der Runde leichter fiele, da sie nichts anderes kannten, aber dem war nicht so. Die Ausflüge zeigten ihnen eine wunderbare Welt, die Sehnsucht nach Grün nahm überhand. Die Älteren hatten noch eine undeutliche, verblassende Vorstellung von dieser grünen Welt, umso stärker ergriff sie der Gedanke.
Schließlich traf man gemeinsam die Entscheidung, bereitete alles, sich der Tragweite bewusst, genauestens vor, setzte den Ausflugstag fest. Eine seltsame Freude hatte sie erfasst. Man hatte wieder eine hügelige, teils bewaldete, Ruhe ausstrahlende Landschaft gewählt.
Der Tag war da. Man betrat die in allen Grünschattierungen leuchtende Natur, der entscheidende Schritt war gemacht. Man wanderte etwa eine Stunde, saugte noch einmal jedes Detail auf, jede Blume, jedes Blatt, jeden Baum, die Wiesen, die Bäche… An einem sonnigen Hain, auf moosigem Grund, zwischen taubeperlten Gräsern legten sie sich nieder, hingen eine Weile ihren Gedanken nach, nahmen sich an den Händen, lächelten sich noch einmal an und versanken in tiefstem Frieden in ihrer grünen Sehnsuchtswelt.
Sie kehrten nicht mehr zurück.
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