Mannheim. Die Mannheimer Kunsthalle würdigt das Jubiläum ihrer berühmtesten Ausstellung mit einer großen Schau zu einem wichtigen Abschnitt der Moderne: Vize-Direktorin Inge Herold spricht im Interview über die Arbeit an der Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit - Ein Jahrhundertjubiläum“, die sie kuratiert, über ihren Aufbau sowie die Aktualität der 1920er Jahre und der Kunst jener Zeit.
Die Kunsthalle zeigt Traditionsbewusstsein: 100 Jahre nach der Ausstellung „Neue Sachlichkeit“ des damaligen Direktors Gustav Friedrich Hartlaub kuratiert die aktuelle Vize-Direktorin eine Jubiläumsausstellung, die die bisher größte Schau des Museums sein dürfte. Ist das, Frau Herold, etwas provokativ gefragt, nicht ein etwas groß konzipierter Rückblick?
Inge Herold: Im Gegenteil. Ein ganzes Epochenphänomen mit einem heute noch gültigen Begriff zu belegen, gelingt in der Kunst- und Kulturgeschichte nur ganz selten. Hartlaub ist dies 1925 mit seiner Ausstellung in Mannheim gelungen. Noch heute verwendet man den von ihm geprägten Begriff weltweit. Auch wenn die Bezeichnung schon in den 20er- Jahren umstritten war, hat sie noch heute ihre Gültigkeit. An vielen Orten, auch international, wird an dieses Jubiläum mit Ausstellungen erinnert, bis hin nach New York. Insofern ist es nach 100 Jahren nicht nur ein Muss und eine Verpflichtung, dass auch die Kunsthalle in einer großen Schau daran erinnert, es ist uns auch eine enorme Freude, ein Grund zum Feiern, umso mehr als im Rahmen des Partnernetzwerkes viele kulturelle Mannheimer Institutionen dieses Jubiläum mit unterschiedlichen Formaten begleiten und bereichern, und die ganze Stadtgesellschaft daran teilhaben kann und mit uns feiert.
Inge Herold und die Jubiläumsschau
- Die promovierte Kunsthistorikerin Inge Herold, 1962 in Heidelberg geboren, begann ihre Arbeit an der Mannheimer Kunsthalle 1992 mit einem wissenschaftlichen Volontariat. Seit 2006 ist sie stellvertretende Direktorin der Kunsthalle, der sie zwischenzeitig auch als kommissarische Leiterin vorstand.
- Herold hat Ausstellungen und Publikationen vor allem über die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts erarbeitet, zu Ensor, Klee, Hanna Nagel oder Lehmbruck.
- Die Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit - Ein Jahrhundertjubiläum“ wird am 21. November, 19 Uhr, eröffnet und ist dann bis 9. März 2025 in der Mannheimer Kunsthalle zu sehen.
Was bleibt von der Strömung Neue Sachlichkeit? Warum lohnt sich eine Auseinandersetzung mit ihr auch heute noch?
Herold: Die Entstehung der Neuen Sachlichkeit war ein Phänomen, das von einer Krisenerfahrung geprägt war. Die Hinwendung zu einer Bildsprache, die sachlich, kühl und realitätsorientiert war, kann als Wunsch nach Ordnung und Beruhigung gedeutet werden. Dies wird allgemein als eine Folge des Krieges mit all seinen Auswirkungen ebenso wie als Reflex auf die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche und Krisen der Jahre danach gedeutet. Das allgemeine Interesse an den 1920er-Jahren ist heute größer denn je. Dies liegt einerseits am schillernden Mythos der Goldenen Zwanziger. Grund für das Interesse ist aber auch, dass sich Parallelen zu unserer heutigen Situation ziehen lassen: Banken- und Finanzkrisen, verstärkte soziale Spannungen, das Erstarken politischer Extreme verbunden mit einer zunehmenden Brutalisierung sowie die rasante technische Entwicklung und damit die Erfahrung, in einer Krisenzeit zu leben. Insofern fragt man sich rückblickend aus einer Position heraus, die weiß, wie sich die Geschichte entwickelt hat: Gibt es Parallelen, aus denen man lernen kann?
Sehen Sie denn solche Parallelen?
Herold: Auch wenn es keine Wiederholung von Geschichte gibt, gibt es sich wiederholende Phänomene, die uns achtsam sein lassen müssen. Insofern ist es mir auch wichtig gewesen, punktuell aufzuzeigen, wie sich die Bild- und Formensprache der Neuen Sachlichkeit im Nationalsozialismus entwickelt hat. Das Spektrum der künstlerischen Haltungen reicht von den Extremen einer Anpassung an den Nationalsozialismus und der Glorifizierung seines Weltbilds bis zu einer kritischen Haltung. Das Schicksal einzelner Kunstschaffender erzählt von Erfolg über Emigration und Verfolgung bis zu gewaltsamem Tod. Insofern lohnt sich neben der reinen Freude an großartigen Kunstwerken, die viel von der damaligen Zeit und dem Lebensgefühl erzählen, auf einer anderen Ebene die Beschäftigung mit der Neuen Sachlichkeit noch heute.
Je größer eine Ausstellung ist, desto wichtiger ist ihr innerer Aufbau, die Gliederung. Wie sieht diese bei der Jubiläumsschau aus?
Herold: Ja, die große Zahl von rund 230 Exponaten von 124 Künstlerinnen und Künstlern verlangt eine klare Gliederung, aber auch das Stilphänomen erfordert meines Erachtens Klarheit und Ordnung. Es gibt Grundgedanken, die sich durch die Ausstellung ziehen: zuerst eine Art kritische Revision und Ergänzung von Hartlaubs Schau. Einbezogen wird also von ihm Vergessenes, Übersehenes oder auch Ausgeschlossenes. Es gilt Neuentdeckungen an künstlerischen Positionen oder Werken vorzustellen. 1925 etwa war keine einzige Künstlerin vertreten. Dies lag einerseits daran, dass es Frauen im damaligen Kunstbetrieb kaum gelang, wahrgenommen zu werden, andererseits begann sich das Werk einiger neusachlich malender Künstlerinnen erst um 1925 zu entwickeln und lag so außerhalb von Hartlaubs Blickfeld. Bewusst verzichtet hat Hartlaub, aus organisatorischen Gründen, auf den Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus, wenngleich das Phänomen kein auf Deutschland beschränktes war. Um dies beispielhaft zu zeigen, werden in der Ausstellung auch Werke internationaler Kunstschaffender präsentiert wie etwa von Pablo Picasso oder Edward Hopper. Und schließlich der schon angesprochene Aspekt der punktuellen chronologischen Weitung des Blicks in die 1930er-Jahre.
Und die konkrete Gliederung im Museum - in welchen Räumen wird die Schau gezeigt?
Herold: Gegliedert ist die Ausstellung in verschiedene Themenbereiche. Zunächst im Erdgeschoss: Für Hartlaub bedeutende, aber auch heute noch wichtige Vertreter wie Max Beckmann, Otto Dix, George Grosz und Georg Scholz erhalten zum Auftakt einen eigenen Auftritt. Dann geht es weiter mit den Themenbereichen Zeitgeschehen und Arbeitswelten, mit dem Menschenbild, dem neuen Bild der Frau (eingeschoben hier ein kleiner Exkurs zum Thema Mode, in Gestalt von Schaufensterpuppenköpfen), mit Körperidealen und Selbstbildnissen von Künstlerinnen und Künstlern. Im ersten Obergeschoss folgen dann der Blick auf das Stillleben, das in der neusachlichen Malerei eine große Rolle spielte, sowie die Motive Stadt, Urbanität, Mobilität und Landschaft.
Sie rekonstruieren die historische Ausstellung nicht einfach, sondern ergänzen sie durch damals vernachlässigte Kunstschaffende …
Herold: Genau, wie schon gesagt, spielen die Künstlerinnen eine Rolle, auch wenn sie aus oben genanntem Grund zahlenmäßig in der Unterzahl sind. Anita Rée, Lotte Laserstein, Kate Diehn-Bitt, Gussy Hippold-Ahnert, Gerta Overbeck sind u.a. Frauen, die lange vergessen waren und nun in den Kanon der Kunstgeschichte aufgenommen sind. Eine Neuentdeckung im Zuge der Recherche für die Ausstellung war für mich Ilona Singer, die als Jüdin mit ihrer Familie von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde. In den 1920-er Jahren war sie in Berlin eine erfolgreiche Künstlerin, doch fast ihr gesamtes Werk wurde ausgelöscht. An solche Schicksale zu erinnern, halte ich für sehr wichtig. Ich denke auch an unser für die Werbung genutztes Motiv, die „Dame mit Maske“ des weitgehend unbekannten Malers Arno Henschel (Bild oben). Auf den Künstler und dieses wunderbare Bild wurde ich aufmerksam im Austausch mit Professor Henry Keazor von der Uni Heidelberg, der begleitend zu unserer Ausstellung seine Vorlesung zur Neuen Sachlichkeit in der Kunsthalle hält. Andererseits muss man auch sagen, dass damals von Hartlaub einbezogene Künstler heute kaum mehr präsent oder recherchierbar sind. Oder tragischerweise auch nicht als Ausleihe zur Verfügung stehen. Ich denke an den ukrainischen Künstler Mykola Hlushchenko, der damals in Berlin lebte und von Hartlaub zur Ausstellung eingeladen wurde. Eines der damals gezeigten Werke befindet sich heute in Odessa und ist wegen des Kriegsgeschehens nicht ausleihbar.
Die Jubiläumsschau zu kuratieren ist eine große Herausforderung und Verantwortung, aber auch eine wirklich große Ehre und Freude
Die Ausstellung hat sicherlich viel Recherchearbeit erfordert. Wurde die Kunsthistorikerin da auch regelrecht zu einer Kunstdetektivin?
Herold: Das kann man vermutlich so bezeichnen. Im Austausch war ich hier mit diversen Kolleginnen und Kollegen extern, mit Privatsammlern, mit Auktionshäusern und natürlich intern in der Kunsthalle unterstützt von zwei Mitarbeitenden, die sich um die digitale Rekonstruktion gekümmert haben. Trotz intensiver Forschungen lassen sich dennoch manche Werke nicht mehr finden oder identifizieren. Man reist, besucht Museen und Ausstellungen, man arbeitet sich durch Berge von Literatur, auch durch die historischen Akten, die erfreulicherweise wie vieles heute online einsehbar sind, man verfolgt den Kunst- und Auktionsmarkt. Erleichternd war für mich die Tatsache, dass ich schon 1994 als Volontärin in der Kunsthalle war und an der damaligen Schau zur Neuen Sachlichkeit mitgearbeitet habe. Einiges beruht also auf intensiver Arbeit, anderes wiederum fällt einem durch Zufall in den Schoß. Es gibt Glücksmomente wie die Zusage aus St. Louis für Beckmanns „Christus und die Sünderin“, das einst der Kunsthalle gehörte, von den Nazis 1937 beschlagnahmt wurde und dann in die USA gelangte. Es kehrt nun temporär zurück. Oder die Zusage für Edward Hoppers „Night Windows“ aus dem MOMA in New York. Enttäuschend war, dass ich auf einige weibliche Positionen verzichten musste, weil sie parallel andernorts monografische Retrospektiven erhalten, wie zum Beispiel Elfriede Lohse-Wächtler oder Grethe Jürgens.
Die Ausstellung in der Kunsthalle
- Die Ausstellung: Die Ausstellung „Neue Sachlichkeit – Das Jahrhundertjubiläum“ läuft vom 22. November bis 9. März 2025 in der Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4.
- Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag bis Sonntag und Feiertage 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 20 Uhr.
- Eintritt: 14 Euro, ermäßigt 12 Euro, Familienkarte 24 Euro (2 Erwachsene mit Kindern unter 18 Jahren), Abendticket 10 Euro (1,5 Stunden vor Schließung), Eintritt frei jeden ersten Mittwoch im Monat MVV Kunstabende von 18 bis 22 Uhr.
- Anreise: Von der Autobahn oder der Kurt-Schumacher-Brücke Beschilderung „Kunsthalle“ folgen; Parkplätze befinden in der Tiefgarage unter dem Friedrichsplatz. Vom Hauptbahnhof ist das Museum in zehn Minuten zu Fuß zu erreichen, ebenso mit den Stadtbahnlinien 3, 4, 5 und 6 sowie den Buslinien 60 und 63.
- Reiss-Engelhorn-Museen: Begleitend gibt es in den Stiftungsmuseen in C 4 die Sonderausstellung „SACHLICH NEU“ der beiden wichtigsten Fotografen der Neuen Sachlichkeit August Sander und Albert Renger-Patzsch sowie des preisgekrönten Mannheimer Fotografen Robert Häusser.
- Begleitprogramm: Zahlreiche Mannheimer Institutionen nehmen das Jubiläum“ zum Anlass, um unter dem Motto „Die 1920er-Jahre in Mannheim“ bis zum 9. März 2025 Veranstaltungen anzubieten – Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Theater, Film, Führungen, Vorträge und Symposien bis hin zu Partys. Infos www.1920er.art/de. pwr
Für Sie persönlich, Frau Herold, muss diese Schau schon deshalb viel bedeuten, weil Sie nach langjähriger Tätigkeit an dem traditionsreichen Haus nun die Schau kuratieren, die von dort aus Kunstgeschichte geschrieben hat …
Herold: Ja, die Jubiläumsschau zu kuratieren ist eine große Herausforderung und Verantwortung, aber auch eine wirklich große Ehre und Freude. Und auch ein schöner Brückenschlag zu meinen Anfängen, denn ich habe mich schon zu Beginn der 1990er-Jahre mit der Neuen Sachlichkeit beschäftigt und kann jetzt meine kuratorische Tätigkeit in der Kunsthalle mit diesem großartigen Thema beenden. Der Unterschied zu Hartlaubs Leistung ist jedoch: Wir schauen zurück und ziehen ein Resümee, Hartlaub betrat Neuland.
Wie blicken Sie jetzt auf die Ausstellung von Hartlaub? Hat sich Ihr Blick auf dessen Leistung und Bedeutung verändert?
Herold: Ja, auf jeden Fall. Die Lektüre vieler Dokumente hat mir gezeigt, welcher Stratege neben seiner kuratorischen Leistung Hartlaub auch war. Ihm war angesichts der politischen Atmosphäre schon Mitte der 1920-er Jahre sehr wohl bewusst, was er dem Publikum zutrauen kann und will, dass er für allzu Gewagtes auch angefeindet würde. Bemerkenswert fand ich auch seine Strategie, Kollegen einzubeziehen und um Beratung für sein Ausstellungsvorhaben zu bitten. Seine persönliche, aber auch kunsthistorische Haltung hatte etwas Missionarisches im positiven Sinne. Wie dramatisch war dann für ihn die Erfahrung, von den Nazis wegen seiner Arbeit 1933 aus dem Amt entlassen zu werden. Auch das sollte man gerade heute nicht vergessen. Und sich auch nochmals in Erinnerung rufen, dass die Ausstellung damals mit rund 4400 Besucherinnen und Besuchern nicht gerade ein Publikumserfolg war. Aber Hartlaub gelang es, sie auf Reisen zu schicken, und so erlangte sie immer größere Aufmerksamkeit.
Kurz resümiert: Was versprechen Sie dem Publikum, was darf es von der Schau erwarten?
Herold: Beeindruckende Gemälde, die es ermöglichen, in die 1920er Jahre einzutauchen, um ein realistisches Bild dieser Zeit zu gewinnen. Neuentdeckungen und Unerwartetes jenseits dessen, was man schon so oft in Ausstellungen und der einschlägigen Literatur gesehen hat.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/kultur_artikel,-kultur-mannheim-feiert-die-neue-sachlichkeit-_arid,2261634.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html