Welttag des Stotterns - Etwa 800 000 Menschen in Deutschland sind von der Redeflussstörung betroffen

Wie Logopäden den Fachkräftemangel besiegen wollen

Von 
Sebastian Koch
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Heidelberg. Mit dem Überprüfen von Rekorden und Alleinstellungsmerkmalen ist das so eine Sache, besonders dann, wenn sie negativ sind. Ein solches Alleinstellungsmerkmal für Deutschland sieht der Arbeitskreis Berufsgesetz in der Ausbildung von Logopäden. „Deutschland ist das einzige Land der Welt ohne eine hochschulische Qualifikation der Logopädinnen und Logopäden“, teilt der Dachverband der größten nationalen Berufsverbände der Logopädie und Sprachtherapie dieser Redaktion mit. Etwas weniger fatalistisch, aber nicht minder deutlich, äußert sich der Deutsche Bundesverband für Logopädie (dbl): „Hochschulische Ausbildung ist in Europa und weltweit Standard der Ausbildung zum Logopäden oder zur Logopädin.“

Stotter-ABC

  • A wie Atmung: Ja, die Symptomatik hängt auch mit der Atmung zusammen – aber nicht nur. Neben der Atmung spielt etwa die Motorik der Zunge oder die der Lippen eine Rolle.
  • B wie Blockade: Es gib----t versch----iede---ne Arten, zu st-----ottern. Eine da-----von sind Block----aden. Die St----imme setzt aus, die Stimml---ippen blockieren.
  • C wie Champagner: Wirkt sich Alkohol fördernd auf die Sprechflüssigkeit aus? Ja, sagt Logopädin Graciela Lozano in der 2. Folge des Ppppodcasts. Unter anderem kommt es zu einem Spannungsabfall, der auch die Muskeln betrifft. Es ist aber wohl auch etwas tagesformabhängig, zeigt die eigene Erfahrung …
  • D wie Dehnung: Nnnnnneben den Blooooockaden gehööören Deeehnnnnungen zu den Symptoooommmen.
  • E wie Empathie: Wie wohl viele Menschen mit Handicaps gelten Stotternde als empathischer als der Durchschnitt. Es kommt aber wohl auch hier auch auf die Tagesform an.
  • F wie flüssigsprechen: Es ist wohl das Ziel eines jeden Stotternden: flüssigsprechen. Manchen gelingt es, manchen nicht. „Der Erfolg einer Therapie ist es nicht, dauerhaft normal, schön zu sprechen, sondern mit der Restsymptomatik mutig umzugehen“, sagt Thilo Müller, selbst Betroffener und Sprachtherapeut, in der 10. Episode des Ppppodcasts.
  • G wie Geduld: Ja, es braucht mitunter Geduld, sich als Flüssigsprechender mit einem Stotternden zu unterhalten. Doch die zahlt sich häufig aus. Wichtig: Auch Betroffene sollten Geduld haben. Schließlich ist es wohl nicht alltäglich, sich mit einem Stotternden zu unterhalten – und jeder richtige Umgang will erst gelernt sein.
  • H wie Heilung: „Wenn das Stottern nach der Pubertät chronifiziert ist, ist es in der Regel nicht mehr heilbar“, sagte Martin Sommer, der als Betroffener und Arzt über das Stottern forscht, im August 2020 dieser Redaktion. Und vor der Pubertät? Es gibt den Effekt einer Spontanheilung. „Wir gehen davon aus, dass etwa 70 bis 80 Prozent der Kinder das Stottern durch eine Spontanheilung wieder verlieren.“ Wie und warum Kinder eine Spontanheilung erfahren, ist noch recht unklar. Auch Sprechtechniken heilen das Stottern nicht, sondern modifizieren dieses nur. „Das Leiden am Stottern ist heilbar, das Stottern selbst im Erwachsenenalter aber meistens nicht mehr.“
  • I wie Individualität: Jeder Mensch ist anders – und auch jede Stotter-Symptomatik ist anders. Während sie bei dem einen weniger ausgeprägt ist, stottert der andere stärker. Während der eine Blockaden hat, hat die andere Dehnungen.
  • J wie Jugend: Stottern in Jugendjahren – sicherlich eine der schwierigsten Phasen. Hierarchiekämpfe und Konkurrenzdenken tun ihr übriges.
  • K wie Körper: Auch der Körper spricht – und stottert. Verkrampfungen, Zuckungen – die Sekundärsymptome sind vielfältig.
  • L wie Liebe: Für Stotternde ist die Liebe sicherlich ein kompliziertes Thema. Aber, sind wir doch mal ehrlich: Für wen ist sie das denn nicht?
  • M wie Mobbing: Auch im Jahr 2021 leiden vor allem Kinder, die stottern, noch unter Mobbing. Über seine Erlebnisse mit dem Mobbing berichtet auch ein junger Mann in der 3. Episode des Ppppodcasts.
  • N wie Nebenschauplätze: Das Stottern kommt selten allein – und hat viele Nebenschauplätze. Verkrampfte Haltung, geschlossene Augen oder eine merkwürdige Mimik: Die Begleiterscheinungen sind vielfältig.
  • O wie ohne Scham: Stottern ohne Schamgefühl, die Idealvorstellung. Hartes Training und eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein helfen – aber auch nicht immer, sollte an dieser Stelle unbedingt betont werden.
  • P wie Ppppodcast: Im Ppppodcast spricht Redakteur Sebastian Koch, der selbst stottert, mit Betroffenen und Expertinnen über verschiedene Aspekte des Stotterns. Abrufbar sind die Folgen über mannheimer-morgen.de/stottern oder auf Spotify, Apple Podcast und Deezer.
  • Q wie Quirrell: Auch in Harry Potter wird gestottert – naja, fast zumindest. In „Der Stein der Weisen“ täuscht Professor Quirrell sein Stottern vor, um unterschätzt zu werden und nicht in den Verdacht zu geraten, den Stein stehlen zu wollen.
  • R wie Rückschläge: „Rückschläge gehören zum Leben dazu“, heißt es – also auch zur Therapie. 99 von 100 Klienten erleiden nach einer Therapie einen „hörbaren Rückfall“, sagt Müller im Ppppodcast. Nicht entmutigen lassen – und auf die Unterstützung des privaten Umfelds zählen!
  • S wie Schmerz: Warum herumreden? Ja, manchmal schmerzt Stottern. Und zwar nicht nur, wenn man sich auf die Zunge beißt. Der psychische Schmerz muss bei allem „selbstbewussten“ Stottern auch mal zugelassen und beachtet werden.
  • T wie „The King‘s Speech“: Der Film, der von Betroffenen für seine Darstellung des stotternden englischen Königs George VI., des Vaters der Queen, immer wieder empfohlen wird. Vier Oscars 2011, darunter bester Film und bester Hauptdarsteller (Colin Firth) unterstreichen das. Auch empfehlenswert, auch Oscar-prämiert – aber eben nicht mit „T“: der Kurzfilm „Stutterer“.
  • U wie Umgang: Zum Umgang mit Stotternden ist schon vieles gesagt: Geduld, Zeit geben, Blickkontakt (wenn möglich) halten – Sie wissen schon …
  • V wie Vermeidung: Anstatt Schnitzel lieber Fisch, anstatt zu fragen, im Supermarkt auf- und abgehen: Stottern bedeutet nicht selten auch vermeiden. Auf die Lebensqualität wirkt sich das selten positiv aus.
  • W wie Wiederholung: Das das das dritte Sym Sym Symptom beim beim beim St St St St Stottern.
  • X wie X-Chromosom: Frauen haben ein X-Chromosom mehr – und stottern seltener. Ein Zusammenhang? Die Wissenschaft ist noch am Forschen.
  • Y wie „yanz“ ratlos …: Nein, zum Y fällt mir nichts ein. Vorschläge sind gerne erwünscht.
  • Z wie Ziele: Ziele für eine Stotter-Therapie sind wichtig, aber: nicht zu hoch stecken! Und viel Erreichtes wird einem auch erst mit einigem Abstand bewusst.

In Deutschland ist das noch eher die Ausnahme. Das kritisiert auch Christina Osen, die an der Schule für Logopädie am Universitätsklinikum Heidelberg Fachkräfte ausbildet. „Ich erhoffe mir, dass durch eine Akademisierung nicht nur die derzeit sehr unterschiedlichen Ausbildungsstandards in Deutschland vereinheitlicht und aktualisiert werden“, sagt sie, „sondern auch ein neues Bewusstsein für Logopädie als Profession im Gesundheitswesen geschaffen wird.“

Fehlende Logopädie-Stellen

Der dbl, der Arbeitskreis Berufsgesetz und Osen erhoffen sich Rückenwind im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Das Bundesgesundheitsministerium teilt auf Anfrage indes mit: „Nach unserer Kenntnis ist derzeit kein versorgungsrelevanter Fachkräftemangel feststellbar.“

Diese Auffassung teilen nicht alle. So verweist der dbl auf eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit, nach der Logopädie-Stellen durchschnittlich erst nach 209 Tagen wieder besetzt werden können, der Durchschnitt aller Berufe liegt bei 131. In ihrer Fachkräfteengpassanalyse 2020 schreibt die Bundesagentur: „Außerdem sind Engpässe in Gesundheits- und therapeutischen Berufen (z.B. Physiotherapie, Ergotherapie oder Sprachtherapie) erkennbar.“ Auf einer Skala von 0 „sehr weit entfernt von Anzeichen eines Engpasses“ bis 3 „Anzeichen eines Engpasses“ bewertet die Agentur „Berufe in der Sprachtherapie“ mit 2,7. Die Tendenz aber fällt. „Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die im Schuljahr 2019/20 eine Ausbildung in der Logopädie begonnen haben, hat sich im Vergleich zum Vorjahr erheblich erhöht“, teilt das Gesundheitsministerium mit und spricht von 25,8 Prozent mehr Anwärtern.

© Osen

„Das Problem ist meiner Erfahrung nach nicht, dass zu wenige den Beruf erlernen, sondern, dass viele den Beruf nach einiger Zeit wieder verlassen, da sie in der Sprachtherapie für sich keine Perspektive sehen“, sagt Ausbilderin Osen. „Eine hochschulische Qualifikation könnte der Berufsflucht entgegenwirken“, teilt auch der Arbeitskreis mit.

Attraktivität durch Akademisierung

Die Gefahr, dass durch die höhere Einstiegsstufe Nachwuchs verloren wird, sieht der Arbeitskreis nicht. Schon jetzt liege die Quote an Bewerbern mit Abitur „bei etwa 90 Prozent“. In den 1980er Jahren lag der Anteil noch bei 81 Prozent. „Mehr Perspektiven für die berufliche Gestaltung“ und „ein Arbeiten auf Augenhöhe mit anderen Gesundheitsberufen, insbesondere mit Ärztinnen und Ärzten“ wirken sich laut dbl positiv auf den Berufswunsch aus, wenn die Ausbildung akademisiert wird. Liegt ein Studium vor, gäbe es Möglichkeiten „eine fachliche Expertise zu entwickeln in Abgrenzung zur ärztlichen“. Auch würden „Gelder frei zur Erforschung in Projekten und Entwicklung und Durchführung von Studien“, zählt der dbl auf. „Der Beruf würde für alle diejenigen attraktiv bleiben und werden, die im Bereich Sprachtherapie tätig werden wollen“, hofft der Arbeitskreis, „und die aufgrund des Berufsfachschulstatus, mit dem eine unzureichende Vergütung und mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten einhergehen, davon Abstand nehmen.“

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Eine Reform ist in Phasen bereits angelaufen. Seit 2009 gibt es im Zuge einer bundesweiten „Modellklausel“ sieben Studiengänge. Der dbl bewertete eine erste Evaluation der Klausel 2016 als „positiv“. Es habe etwa einen „bewiesenen Mehrwert“ für die Patientenversorgung gegeben. Auch der Arbeitskreis betont: „Insbesondere Praktiker mit akademischem Hintergrund beschreiben eine qualitative Verbesserung in der Versorgung durch die klinischen Kompetenzen auf Bachelorniveau.“ So weit will Lehrlogopädin Osen nicht gehen. Sie halte es für schwierig, festzumachen, „wie genau der Einfluss auf die Qualität der Behandlung ist“, sagt sie. „Das hängt stark vom Logopäden selbst ab.“

Die Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe verweist vor allem auf die Stotternden. Man begrüße „Qualifizierung in der Ausbildung generell“, heißt es. „Aus unserer Sicht ist aber unabhängig von einer Akademisierung bedeutend, dass für die Behandlung von Stottern die psychosozialen Aspekte fachlich gezielt eingebunden werden.“

Gibt es Aussichten, eine Akademisierung in einer Ampel-Koalition zu forcieren? „Bedauerlicherweise ging es in den Sondierungsgesprächen nicht um Fragen der Weiterentwicklung der Gesundheitsfachberufe“, teilt der Arbeitskreis mit. „Allerdings lassen Antworten von SPD, Grünen und FDP auf Wahlprüfsteine des Arbeitskreises hoffen, dass sie ihr Worten halten und die Logopädie in einem neuen Berufsgesetz hochschulisch gestalten.“

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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