Interview

Mediziner Martin Sommer: "Stottern wird noch immer tabuisiert"

Von 
Sebastian Koch
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Scham kann dazu führen, dass stotternde Menschen sich zurückziehen - in Therapien lernen Sie, sich den Ängsten zu stellen. © dpa

Martin Sommer ist Mediziner und forscht an der Klinik für Klinische Neurophysiologie der Universität Göttingen zum Thema Stottern.

Herr Sommer, Sie stottern selbst. Ist das für Ihre Arbeit, die Forschung über das Stottern, ein Vorteil?

Martin Sommer: Darüber habe ich noch gar nicht so richtig nachgedacht (lacht). Es beschäftigt einen eben, wenn man selbst aus der Richtung kommt. An die Erforschung des Stotterns bin ich aber eigentlich durch Zufall geraten, als wir andere Bewegungsstörungen untersucht haben und diese Erkenntnisse versucht haben, auf das Stottern anzuwenden. Daraus hat sich ein Forschungszweig entwickelt. Ob das ein Vorteil ist, dass ich selbst betroffen bin, das weiß ich nicht. Man ist ja doch auch immer etwas befangen. Ungewöhnlich ist das aber auch nicht: Es stottern viele, die sich wissenschaftlich mit dem Stottern beschäftigen.

Was genau versteht man unter Stottern und warum fällt es immer noch schwer, die Ursachen genau zu erforschen?

Sommer: Stottern ist eine Redeflussstörung mit drei Kernsymptomen: den Wiederholungen sowie den Dehnungen und Blockaden von Silben und Lauten. Um diese Symptome ranken sich Sekundärsymptomatiken wie etwa Vermeidungsstrategien oder ungewöhnliche Sprechangewohnheiten, wie Zwischenlaute, die mit dem, was man sagen will, eigentlich gar nichts zu tun haben, sondern die sich als Starter oder als Tricks irgendwann einmal als nützlich erwiesen haben und dann nicht mehr weggehen. Es gibt viele Nebenschauplätze, die das Stottern begleiten. Und natürlich kann Stottern, gerade im Erwachsenenalter, Auswirkungen auf die persönliche und soziale Lebensweise oder die Lebensqualität haben.

Wann setzt das Stottern ein?

Sommer: In etwa fünf Prozent aller Kinder sind zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr vom Stottern betroffen. Das Stottern setzt also in einer Phase der starken Sprach- und Sprechentwicklung ein. Wir gehen davon aus, dass etwa 70 bis 80 Prozent der Kinder das Stottern durch eine Spontanheilung wieder verlieren. Das ist erfreulich, aber ein Fünftel bleibt über die Pubertät hinaus betroffen. Nach der Pubertät treten Heilungen eigentlich kaum mehr auf.

Aber warum ist es so schwer, das Stottern zu erforschen - das ist noch unbeantwortet ...

Sommer: Das ist auch eine gute Frage (lacht). Stottern ist noch immer ein in gewissem Rahmen tabuisiertes Thema, über das man nicht viel und gerne redet. In den 1960ern gab es einen Spruch: Stottern ist das, was man tut, wenn man Stottern versucht zu vermeiden. Man wollte nicht über Stottern sprechen und wollte das vermeiden. Dieses Bild ist auch heute noch zum Teil vorhanden. Es gibt also auch nicht ein so großes Interesse daran, Stottern zu erforschen. Ich glaube aber auch, dass Betroffene selbst daran einen Anteil haben. Zu wenige fordern als mündige Patienten eine gute Behandlung oder auch die Erforschung ein. Viele sind oft zu wenig mündig, vielleicht fehlt auch der notwendige Mut. Ich habe oft den Eindruck, dass sich manche so durchlavieren und gucken, dass sie über die Runden kommen, ohne sich mit dem Stottern auseinanderzusetzen oder darauf angesprochen werden zu wollen. Was aus der Forschung wird, hängt auch von den Betroffenen selbst ab.

Sie sprechen aus Erfahrung?

Sommer: Wir haben mal eine Studie zu stotternden Kindern machen wollen, was sowieso immer schwierig ist. Wir haben nur wenige Eltern gefunden, die die Kinder zu Forschungen und Untersuchungen zu uns geschickt haben. Die Bereitschaft, offen darüber zu reden und dem nachzugehen, ist nicht immer groß.

Liegt die Ursache des Stotterns im Sprachzentrum?

Sommer: Naja, also das ist schon komplizierter.

Das habe ich befürchtet...

Sommer: Es gibt verschiedene Formen des Stotterns. Es gibt das Stottern, das nach Schlaganfällen oder Hirnschädigungen auftritt. Das ist zwar nicht so häufig wie man vielleicht meint, aber es gibt Studien dazu, welche Hirnregionen da betroffen sind. Das ist ziemlich bunt gemischt: Man kann nicht sagen, dass ein bestimmtes Zentrum im Gehirn davon betroffen ist. Beim häufigsten Stottern wiederum, also bei dem in der Kindheit ohne erkennbaren Grund auftretenden, hat man lange Zeit keine Hirnauffälligkeiten gefunden. Das hat sich inzwischen geändert. Wir - und auch andere Forscher - konnten zeigen, dass die Faserbahnen, die bestimmte Sprechbereiche im Gehirn miteinander verknüpfen, bei Stotternden geschwächt sind. Das kann man sich so vorstellen, dass die Leitungen weniger stabil und deshalb störanfälliger sind. Inzwischen haben wir auch zeigen können, dass das Bewegungszentrum Fehler aufweist. Es gibt also einige Hinweise darauf, dass die Netzwerkleistung des Sprechens im Gehirn, die einige Areale betrifft, Störungen aufweist. Aber es ist noch nicht gelungen, diese Störungen auf einen Punkt zurückzuführen. Es kann auch sein, dass das bei unterschiedlichen Betroffenen unterschiedliche Punkte betrifft. Das ist noch unklar.

Sie haben die Spontanheilungen angesprochen. Weiß man hier inzwischen, wie das abläuft?

Sommer: Nein, nicht wirklich. Das liegt aber wieder daran, dass Kinder schwer zu untersuchen sind, was ich schon erwähnt hatte. Man müsste, um diese Frage zu beantworten, betroffene Kinder zu einem frühen Zeitpunkt und zu einem späten Zeitpunkt des Stotterns untersuchen. Wir haben das versucht, aber bisher nicht geschafft. In den USA haben Forscher um Soo-Eun Chang aus Michigan eine Reifung der Phase der weißen Substanz, also der angesprochenen verknüpfenden Hirnleitungen, festgestellt. Aber warum die bei den einen Kindern reifen und bei anderen nicht, das ist nicht ganz klar. Wir wissen einiges zu den verursachenden Faktoren des Stotterns, etwa, dass es eine gewisse familiäre Disposition gibt. Wir wissen auch einiges zu den neurologischen und physiologischen Hirnauffälligkeiten. Aber warum der eine zu diesem Zeitpunkt anfängt zu stottern und der andere nicht, das ist nicht klar. Und noch komplizierter wird es bei den aufrechterhaltenden Faktoren, also warum manche das Stottern wieder verlieren und andere nicht. Wir wissen nicht viel darüber, nur dass Mädchen das Stottern häufiger verlieren als Jungs und dass das Risiko, dass das Stottern nach einem halben Jahr bis einem Jahr bleibt, sich erhöht. Uns fehlt teilweise aber eben auch die Forschungsgrundlage.

Warum ist es mit zunehmendem Alter schwerer, das Stottern in den Griff zu bekommen? Kann man sagen, dass Stottern auch eine erzwungene Angewohnheit ist, die man schwer in den Griff bekommt, je länger man sie mit sich trägt?

Sommer: Nein, nein, das kann man heute nicht mehr so sagen. Aber sagen wir es mal so: Es gibt auch andere motorische Fertigkeiten, die man nach der Pubertät nicht mehr so gut erlernt wie vorher. Denken Sie an das Klavierspielen: Wenn Sie das mit 20 Jahren anfangen, bekommen Sie das nicht mehr so gut hin wie wenn Sie es mit sieben Jahren lernen. Es gibt also ein Zeitfenster, in dem sich das Erlernen von motorischen Höchstleistungen oder Bewegungen schließt. Und es gibt offensichtlich auch ein Zeitfenster, in dem flüssiges Sprechen erlernt wird. Und wenn das nicht klappt, ist es später schwer, die verlorene Zeit aufzuholen. Es kann sein, dass das beim Stottern genauso funktioniert wie bei anderen motorischen Fertigkeiten.

Warum sind Frauen fünfmal weniger häufig betroffen als Männer?

Sommer: Da kommen wir wieder auf die Spontanheilung zu sprechen: In den ersten Jahren ist das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen, die stottern, gar nicht so schief. Erst durch die häufige Spontanheilung bei Mädchen verschiebt sich dieses Verhältnis zu Ungunsten der Jungs, sodass es im Erwachsenenalter mindestens bei 4:1 liegt. Aber auch dazu gibt es zwar viele Forschungen, aber noch wenige Ergebnisse. Auch wir sind bislang daran gescheitert. Sprechen hat auch etwas mit motorischer Praxis zu tun: Einfach machen und viel sprechen. Frauen reden mehr als Männer … aber das ist jetzt sehr pauschal gesprochen und wenig wissenschaftlich.

Okay …

Sommer: … Aber lassen Sie mich noch ergänzen, dass das Stottern und die Schwere von Stottern auch etwas mit dem Sprechdurchsatz zu tun hat, also mit dem, wie viel ich spreche. Ich bin heilfroh, dass ich einen Sprechberuf ergriffen habe, weil das viele Sprechen das auch flüssiger macht. Ich merke, und das deckt sich mit vielen anderen Berichten, dass montagmorgens, wenn ich das Wochenende über nicht so viel gesprochen habe, die ersten Stunden etwas holprig sind. Um das Stottern zu bekämpfen, muss man viel sprechen. Und da sind Jungs vielleicht etwas schweigsamer und hoffen, dass es dadurch geht (lacht). Aber sicherlich gibt es auch hormonelle Faktoren - die klare Antwort steht aber auch hier noch aus.

Ist Stottern heilbar?

Sommer: (atmet tief ein). Auch eine gute Frage. In den ersten Jahren wahrscheinlich schon, wobei nicht ganz unumstritten ist, wie viel davon auch Spontanheilungen sind. Aber im Endeffekt ist das ja egal. Wenn das Stottern nach der Pubertät chronifiziert ist, dann ist es in der Regel nicht mehr heilbar. Es gibt zwar Anbieter, die damit werben, aber da muss man aufpassen. Das Leiden am Stottern ist heilbar, das Stottern selbst im Erwachsenenalter aber meistens nicht mehr. Man kann lernen, damit einigermaßen umzugehen, trotzdem zu sprechen und die Lebensqualität davon nicht zu sehr einschränken zu lassen. Es gibt, ich sage das jetzt mal etwas abfällig, Wunderheiler, die Heilung versprechen. Stottern reagiert sehr suggestiv auf Veränderungen der Sprechweise. Wenn ich also anders als normal spreche, ist das Stottern weg, etwa im Takt oder als Singsang. Aber das überspielt das Stottern nur, es heilt es nicht. Das sind veränderte Sprechweisen, die auch viel Anstrengungen abverlangen.

Es gibt beim Stottern Phasen, in denen man stärker stottert und genauso gibt es Phasen, in denen man weniger stottert. Wie ist das medizinisch zu erklären? Was läuft in diesen Phasen unterschiedlich ab?

Sommer: Eine spezifische Untersuchung dazu kenne ich nicht. Es gibt aber Untersuchungen zu Spitzensportlern, die sich darauf anwenden lassen: Die motorische Feinkontrolle nimmt unter Stress ab. Das zeigen übrigens auch Studien zum Klavierspielen. Wenn Sie einen Pianisten wirklich gut spielen hören wollen, dann müssen Sie nicht ins Konzert, sondern in eine Probe gehen. Auch Bogenschützen, um wieder auf Sportler zu sprechen zu kommen, sind im Training präziser als im Wettkampf. Das hängt damit zusammen, dass unter Stress die Aktivierung von Muskeln, die die erwünschte Bewegung steuern, und solchen, die in die andere Richtung steuern, gleichzeitig geschieht. Das heißt also, die Präzision der Bewegungen nimmt unter Stress ab. Es sind mehr Muskeln aktiv, aber weniger zielgerichtet. Wenn zu den sowieso wenig stabilen Verbindungsfasern im Gehirn auch noch Faktoren wie Stress oder Aufregung dazukommen, werden die Stotterereignisse häufiger.

Lässt sich das lindern?

Sommer: Wir sprechen hier von einer klassischen Angsthierarchie, die sich therapeutisch in einer Verhaltenstherapie gut üben lässt. Deshalb gehen gute Therapeuten und Logopäden mit ihren Klienten auch mal auf die Straße und lassen den Stotternden etwa fremde Menschen ansprechen und sich stressigen Situationen aussetzen. So werden die Angst- und Stresshierarchie angegangen und die Folgen gelindert. Auch hier hilft es, einfach zu reden. So schwer es auch fällt.

Stottern ist also nicht nur medizinisch bedingt, sondern auch von der Psyche abhängig.

Sommer: Ja, genau. Das Sprechen wird wie alle anderen feinmotorischen Fertigkeiten unter Stress schlechter.

Redaktion Reporter in der Lokalredaktion Mannheim & Moderator des Stotterer-Ppppodcasts

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