Für Gerhard Schröder ist es lediglich „Gedöns“. Der Macho-Kanzler der SPD hat in seiner Amtszeit 1998 bis 2005 wenig Interesse an Familienpolitik. Damit steht er aber nicht allein: Außenpolitik, Innere Sicherheit und Wirtschaft gelten eher als Königsdisziplinen von Regierungspolitik. Dennoch prägt der Staat stets entscheidend die Rahmenbedingungen für Familien. Diese überstehen die wechselnden politischen Ideologien ebenso wie gesamtgesellschaftliche Trends. Ein historischer Rückblick.
Und der muss mit einer Erkenntnis beginnen: Jahrhunderte lang ist für den Rahmen der Familien nicht der Staat die entscheidende Instanz, sondern die Kirche. Entsprechend der christlichen Lehre, erhebt sie diese Lebensform zum Sakrament und setzt ihre Rahmenbedingungen (Unauflöslichkeit, Monogamie) fest.
Ersten Wandel bringt die Reformation. Luther & Co. bestreiten den Sakrament-Charakter der Ehe. Inhaltlich ändert sich aber nichts. Im Gegenteil: Das klassische evangelische Pfarrhaus wird zum Leitbild des protestantischen Familienbildes.
Für die grundsätzliche rechtliche Veränderung sorgt erst die Französische Revolution. Napoleons „Code Civil“ führt 1804 die Zivilehe ein: Entscheidend für die Gültigkeit einer Ehe ist nun nicht mehr der Traualtar, sondern das Standesamt.
Meilensteine der Familienpolitik in der Bundesrepublik
- 1949: Das Grundgesetz bestimmt in Artikel 6, Absatz 1: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“
- 1952: Kündigungsschutz für Frauen während der Schwangerschaft.
- 1953: Gründung des Familienministeriums in der Bundesregierung.
- 1954: Einführung des Kindergeldes, zunächst 25 D-Mark ab dem dritten Kind, ab 1961 ab dem zweiten, ab 1975 auch für das erste Kind, mit kontinuierlicher Erhöhung der Beträge.
- 1957: Erste Teil-Reform des Familienrechts, das bis dahin seit 1900 gilt. Die Vormachtstellung des Mannes wird aber kaum eingeschränkt. Die Frau bleibt „zur Führung des Haushalts verpflichtet“. Berufstätig darf sie nur sein, wenn sie „ihre familiären Verpflichtungen nicht vernachlässigt“. Findet der Ehemann, dies sei der Fall, kann er deren Stelle auch ohne Einwilligung der Frau kündigen.
- 1976: Reform des Namensrechts: Die Frau kann auch nach Eheschließung ihren Nachnamen behalten.
- 1977: Reform des Eherechts. Bei Scheidungen gilt nun: Zerrüttungs- statt Schuldprinzip. Zugleich Einführung eines Zugewinnausgleichs.
- 1979: Einführung des bezahlten Mutterschaftsurlaubes (sechs Monate) mit Garantie des Arbeitsplatzes.
- 1985: Einführung eines Erziehungsgeldes für alle Mütter und Väter sowie eines Erziehungsurlaubes (zunächst zehn Monate).
- 1986: Anrechnung der Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung (zunächst ein Jahr pro Kind).
- 1996: Recht auf einen Kindergartenplatz für alle Drei- bis Sechsjährigen.
- 1997: Vergewaltigung in der Ehe wird der außerehelichen Vergewaltigung gleichgestellt und strafbar.
- 1998: Völlige Gleichstellung von ehelichen und nicht-ehelichen Kindern auch im Erbschaftsrecht.
- 2001: Gesetz über eingetragene Lebenspartnerschaft von Menschen gleichen Geschlechts („Homo-Ehe“).
- 2007: Anstelle des Erziehungsgeldes wird ein einkommensunabhängiges Elterngeld eingeführt.
- 2008: Einführung des Rechts auf Betreuung für Kinder unter drei Jahren ab dem Jahr 2013.
- 2017: Gesetz über „Recht auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ („Ehe für alle“). -tin
Weitere Fortschritte bringt die Weimarer Demokratie. Artikel 119 der Reichsverfassung von 1919 betont, die Ehe „beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter.“ In Artikel 121 werden zumindest verbal erstmals die unehelichen Kinder den ehelichen gleichgestellt.
Eine tiefe Zäsur markiert ab 1933 der Nationalsozialismus. Nicht die Familie ist fortan die Basis des Volkes, sondern die „Rasse“. Die Folgen sind furchtbar, vor allem für Familien jüdischen Glaubens: 1,5 Millionen Kinder fallen der Ermordung durch den Holocaust zum Opfer.
Für die nicht-jüdische Bevölkerung wird als Ideal die bäuerliche Familie des 19. Jahrhunderts propagiert. Kinderreiche Mütter erhalten gar eine eigene Auszeichnung, „das Mutterkreuz“. Frauen werden dazu degradiert, „dem Führer Soldaten zu schenken“. Mit schrecklichen Folgen: 5,5 Millionen deutsche Soldaten sterben im Krieg – nahezu jede deutsche Familie wird dadurch auf lange Zeit traumatisch geprägt.
Die Schaffung der Organisationen Jungvolk, Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel dient dazu, die NS-Ideologie in die Familien zu tragen, Kinder und Jugendliche dem Einfluss ihrer Eltern zu erziehen.
Nach der NS-Zeit führt dies dazu, dass der Schutz der Familie 1949 in die Verfassung aufgenommen wird. Durch seine Verankerung im Grundrechtskatalog ist er so stark wie in kaum einem anderen Land der Welt und nahezu absolut. Mit Folgen: Für den Staat bestehen noch heute hohe Hürden, um Kinder auch zu ihrem eigenen Wohl aus prekären Familienverhältnissen heraus zu holen.
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Restauratives Rollenverständnis
Das Familienbild bleibt dagegen nach 1949 restaurativ. Familienpolitik gilt gar als Instrument im Kalten Krieg: „Millionen innerlich gefestigter Familien mit rechtschaffend erzogenen Kindern“ seien „als Sicherung gegen die drohenden Gefahren der Völker des Ostens mindestens ebenso wichtig wie alle militärische Sicherung“, postuliert der erste Bundesfamilienminister Franz Josef Wuermeling. Der streng katholische CDU-Politiker propagiert explizit die „Mutter daheim“, lehnt Berufstätigkeit von Frauen ab, denn „Autos, Musiktruhen und Auslandsreisen“ würden dadurch „allzu oft mit ihren Kindern gestohlener Zeit bezahlt“.
Allerdings hat das Ziel, die Frau zuhause zu halten, für Familien auch einen positiven Nebeneffekt: Finanziell werden sie gut ausgestattet – von der Einführung des Kindergeldes bis zu verbilligten Bahnfahrkarten, dem „Wuermeling-Pass“.
Erfolgloser Angriff der 68er
Einen Frontalangriff auf das traditionelle Familienbild fahren die 68er. Als Keimzelle des Systems, das es zu zerstören gilt, steht sie im Fokus der Kritik. Neue Lebensformen wie die „Kommune 1“ mit der legendären Uschi Obermaier sowie das Postulat sexueller Libertinage („Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment“) prägen die Schlagzeilen des Boulevards – und die Fantasien mancher Zeitgenossen. Der Institution Familie können sie jedoch nichts anhaben, bleiben für sie langfristig ohne Folgen.
Dennoch ändert sich das politische Umfeld. 1969 übernimmt die SPD die Regierung. Das Familienministerium wird Domäne wackerer Sozialdemokratinnen: Käthe Strobel, Katharina Focke, Antje Huber. Selbst von eigenen Genossen belächelt, treiben sie jedoch die rechtliche Gleichstellung aller Familienmitglieder und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf voran: 1979 wird der Mutterschaftsurlaub eingeführt.
Auch unter Helmut Kohl, der selbst ein traditionelles Familienbild pflegt, ändert sich das ab 1982 nicht. Im Gegenteil: Die CDU-Familienminister Heiner Geißler und Rita Süssmuth treiben die finanzielle Absicherung der Familien voran: 1985 wird das Erziehungsgeld eingeführt und 1986 die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rente.
Mit Rot-Grün (1998 bis 2005) werden auch andere gesellschaftliche Realitäten endlich anerkannt. „Familie ist dort, wo Kinder sind“, sagt SPD-Ministerin Christine Bergmann und ermöglicht damit eine neue Politik: Die Ehe und damit die Familie werden für gleichgeschlechtliche Lebensformen geöffnet.
2013 stellt das Bundesverfassungsgericht fest: „Leben eingetragene Lebenspartner mit dem leiblichen oder angenommenen Kind eines Lebenspartners in sozial-familiärer Gemeinschaft, bilden sie mit diesem eine durch Artikel 6 Absatz 1 geschützte Familie im Sinne des Grundgesetzes.“ Wer etwa den neuen Schriesheimer SPD-Landtagsabgeordneten Sebastian Cuny beobachtet, wie er und sein Ehemann mit dem Pflegekind auf dem Spielplatz unterwegs sind – wer mag bezweifeln, dass hier wahre Familie ist?
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